Am 25. Februar 2021 erklärte Chinas Präsident Xi Jingping in Peking, dass China absolute Armut auf dem Land endlich überwinden wird. Die Grenzwerte für absolute Armut auf dem Land liegen in China über der von der Weltbank definierten extremen Armutsgrenze (Wang Pingpin et al., 2006), sodass China hinter den Schätzungen der Weltbank für die Beseitigung absoluter Armut auf dem Land zurückbleibt. Die Armutsgrenze der Weltbank liegt bei 1,9 US-Dollar pro Person und Tag. Demnach galten 1981 878 Mio. Menschen in China als arm und die Armutsrate lag bei 88,3 %. Bis 2015 ist diese Zahl auf 9,7 Mio. Menschen gesunken und die Armutsrate lag bei 0,7 %. (World Bank Database).
Wirtschaftliches Wachstum und Einkommensumverteilung werden allgemein als zwei wichtige Faktoren bei der Armutsbekämpfung angesehen. Ausgehend von der Situation in den USA kam Anderson 1964 zu dem Schluss, dass dort wirtschaftliches Wachstum für die Armutsbekämpfung ausschlaggebend war (Anderson, 1964). Entwicklungsländer machten jedoch eine andere Erfahrung. So haben Länder der Subsahara in Afrika in den letzten zwanzig Jahren in unterschiedlichem Maße relativ starkes Wirtschaftswachstum erlebt, doch dabei keine wesentlichen Erfolge bei der Armutsbekämpfung erzielt. Das zeigt, dass Wirtschaftswachstum nur einer von vielen Faktoren bei der Armutsbekämpfung ist. Damit Armutsbekämpfung gelingt, muss das Wirtschaftswachstum auf Armutslinderung ausgerichtet sein. (Asian Development Bank, 1999) Darüber hinaus ist die mit dem Wirtschaftswachstum einhergehende wachsende Einkommensschere ein großes Problem für Entwicklungs- und Schwellenländer. Zunehmende Ungleichheit führt unmittelbar zu einer Verschärfung der relativen Armut – diese Erfahrung machte China zu Beginn des Jahrhunderts. In diesem Zusammenhang war Chinas größte Herausforderung zur Jahrhundertwende, das Wirtschaftswachstum auf Armutsbekämpfung auszurichten. Seitdem hat sich die Ungleichheit immer weiter verschärft. Diese zwei Aspekte waren maßgeblich für eine Änderung der Strategien der Armutsbekämpfung in China.
In der Regel gibt es zwei Perspektiven auf die Armutsbekämpfung in China. Auf der einen Seite werden die Entwicklung und Armutsbekämpfung als Teil eines allgemeinen Trends zur sozioökonomischen Transformation Chinas infolge der Öffnung hin zur Globalisierung verstanden. Auf der anderen Seite werden die Erfolge Chinas im Hinblick auf Entwicklung und Armutsbekämpfung als ein Sonderfall mit spezifisch-chinesischen Eigenschaften betrachtet. (Li Xiaoyun et al., 2019) In diesem Artikel wird die Armutsbekämpfung in China vor allem aus drei Perspektiven beleuchtet und analysiert – die historische Perspektive auf die Entwicklung vor 1978, auf Armutslinderung ausgerichtetes Wirtschaftswachstum ab 1978 und das Ziel der Armutsabschaffung angesichts wachsender Ungleichheit. Gleichzeitig werden die wichtigsten Aspekte der Armutsbekämpfung und ihre allgemeine Bedeutung betrachtet.
Vor 1978 hatte die Entwicklung Chinas dreierlei Auswirkungen auf die Armut. Erstens trug sie zur Linderung der Hungersnot bei; zweitens verringerte sie die mehrdimensionale Armut, beispielsweise in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Infrastruktur und Gender; und drittens bot sie eine wichtige materielle und personelle Grundlage für weiteres Wirtschaftswachstum. Nach den 1950er Jahren stand das Einkommen armer Bevölkerungsschichten noch für lange Zeit nicht im Fokus Chinas Politik. Der individuelle Wohlstand stieg nur langsam und die Ziele der Landesentwicklungspolitik richteten sich vor allem auf inklusives Sozialwesen (Li Xiaoyung et al., 2020). Es sei anzumerken, dass viele Studien über die Armut in China den Zusammenhang zwischen der Entwicklung und der Armutssenkung vor der Reform und der wirtschaftlichen Öffnung nicht berücksichtigen. Tatsächlich spiegelt die Armut lediglich die allgemeine sozioökonomische Situation wider, weder ein Anstieg noch ein Rückgang der Armut erfolgen grundlos. In China ist der umfassende Rückgang der Armut ein historischer Prozess. (Li Xiaoyung et al., 2019)
Zu Beginn der 1950er Jahre lag die Lebenserwartung in China bei 35 Jahren, im Vergleich zu 68 Jahren in den USA und 63,68 Jahren in Europa im gleichen Zeitraum. 1952 lebten 575 Mio. Menschen im Land und die Getreideproduktion lag bei 163,92 Mio. Tonnen, wobei der Pro-Kopf-Getreidebestand nur 285 kg betrug. Vor Beginn der Landreform 1950 besaßen 14,5 % der Landwirt*innen 54,8 % der Ackerflächen. Kleinbauern*innen, die 85,5 % aller Landwirt*innen in China ausmachten, besaßen weniger als 50 % der Ackerflächen. Die ungleiche Verteilung landwirtschaftlicher Flächen gilt als eine der wichtigsten Ursachen der langfristigen Armut in China. (Guo Dehong, 1993) Als Folge der Landreform wurden 92,1 % der Kleinbauern*innen mit niedrigem und mittlerem Einkommen zu Landbesitzer*innen. Zwischen 1949 und 1957 stieg die Getreideproduktion in China von 113,18 Mio. Tonnen auf 195,05 Mio. Tonnen und die Getreideerträge stiegen von 1 035 kg/ha auf 1 463 kg/ha an. (National Ministry of Agriculture, 1989) Landsysteme stehen seit langem im Mittelpunkt der Armutsforschung und nach Keith Griffin et al. trägt eine Umverteilung im Rahmen einer Landreform, die die Konzentration der Ackerflächen und Monopole auf Landbesitz aufbricht, zur Maximierung wirtschaftlicher Effizienz und sozialer Gerechtigkeit sowie einer Linderung der Armut auf dem Land bei. (Griffin et al, 2002) Eine Analyse der Erfahrungen verschiedener Länder mit unterschiedlichen Typen redistributiver Landreformen kommt zum Schluss, dass "redistributive, durch staatliche Förderung und Unterstützung begleitete Reformen wie die Landreform armen Bevölkerungsschichten zugutekommen". (Li Xiaoyun et al., 2020; Putzel, 2000) Viele Entwicklungsländer, beispielsweise die Philippinen, haben aufgrund starker Ungleichheiten in den Landsystemen große Schwierigkeiten bei der Armutsbekämpfung. In der Praxis hat sich gezeigt, dass Länder, die in der einen oder anderen Form eine Landreform durchgeführt haben, die Armut wesentlich reduzieren konnten. So haben in den 1950er Jahren initiierte Landreformen in Japan, Südkorea und der Region Taiwan eine positive Rolle bei der Armutslinderung und in der Folge der Beseitigung absoluter Armut gespielt. (Zhan Guilin, 1994) Die Landreform in China in den 1950er Jahren trug unmittelbar zur Armutssenkung bei und kann demnach als eine wichtige Strategie der institutionellen Armutsbekämpfung angesehen werden. Gleichzeitig lieferten Änderungen im Landsystem eine soziale Grundlage für Gerechtigkeit.
Vorrangiges Ziel der Modernisierung Chinas, das nach den 1950er Jahren verfolgt wurde, war die Armutsbekämpfung. Dieser Strategie folgend setzte das Land weitreichende Strukturveränderungen der nationalen Wirtschaft um, vor allem in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Wissenschaft und Technologie sowie Infrastruktur. Die Analphabetismusrate fiel von 80 % im Jahr 1949 auf 22 % im Jahr 1978. (National Bureau of Statistics, 1979). Bewässerte Agrarflächen wuchsen von 19,959 Mio. ha 1952 auf 45,003 Mio. ha 1978 und die Menge der landesweit eingesetzten Düngemittel stieg von 78 000 Tonnen 1952 auf 8,84 Mio. Tonnen 1978. Der Pro-Kopf-Getreidebestand stieg bis 1978 auf über 300 kg, was eine wesentliche Verbesserung mit sich brachte, auch wenn die von der Welternährungsorganisation als Maßnahme der Ernährungssicherheit empfohlene Menge von 400 kg pro Person nicht erreicht wurde (Li Xiaoyun et al., 2020).
Tatsächlich beruhte der durch die Landreform ausgelöste Produktionseifer der Landwirt*innen vor allem auf den vor der Reform und der Öffnung erfolgten langfristigen Investitionen in die landwirtschaftliche Infrastruktur, darunter in Bewässerung, Landmaschinen, Dünger und vor allem Agrarwissenschaft und -technologie. 45 % der Agrarflächen des Landes wurden 1978 bewässert und dieser Anteil ist seit der Reform und der Öffnung nicht wesentlich gestiegen.
Ein weiterer wichtiger Faktor für die Entwicklung und Armutssenkung in China vor 1978 war die relativ ausgeglichene Ausgangssituation. Um 1978 lag der landesweite Gini-Koeffizient bei 0,318 (UNDP, 2016) und der Gini-Koeffizient im ländlichen China bei ca. 0,212 (National Bureau of Statistics, 2001), was für eine ausgewogene Einkommensverteilung in der Gesellschaft in diesem Zeitraum spricht. Das Verhältnis zwischen Wirtschaftswachstum und der Einkommensverteilung ist komplex. Allgemein gilt, dass sich Einkommensdisparitäten auf vierfache Weise auf das Wirtschaftswachstum auswirken. Einerseits wird die Meinung vertreten, dass eine gleiche Einkommensverteilung die Arbeitsteilung zwischen Menschen verschiedener Qualifikationsniveaus stärker fördert und somit das Wirtschaftswachstum unterstützt. (Fishman & Simhon, 2002) Nach einer zweiten Sichtweise, die von unvollkommenen Kreditmärkten ausgeht, wirken sich Einkommensdisparitäten auf die Berufswahl aus und damit auch auf das Wirtschaftswachstum, da es für einkommensschwache Menschen schwieriger ist, Berufe zu ergreifen, die mit hohen Investitionen verbunden sind. (Banerjee & Newman, 1993) Aus einer dritten, wirtschaftspolitischen Perspektive wird das Wirtschaftswachstum durch Umverteilung von ungleichem Einkommen durch Besteuerung und öffentliche Ausgaben beeinflusst. (Persson & Tabellini, 1993) Schließlich nimmt eine vierte Betrachtungsweise die Perspektive der Konsummärkte ein. Demnach ist die Nachfrage auf Konsummärkten ausschlaggebend für das Wirtschaftswachstum. Ungleiches Einkommen führt zu niedrigerer Nachfrage und damit zu weniger Wirtschaftswachstum. (Murphy et al, 1989) Daraus folgt, dass obwohl Chinas Politik vor 1978 wirtschaftlich ineffizient war, die daraus resultierende relative Gleichheit bei der Einkommensverteilung eine wichtige Grundlage für das auf die Reform und Öffnungspolitik folgende starke Wirtschaftswachstum und die umfassende Armutssenkung bot. Viele Entwicklungsländer stehen angesichts sozialer Übergangsprozesse vor der Schwierigkeit, Einkommensverteilung und Armutssenkung in Einklang zu bringen, und für viele Länder in Südasien und in der Subsahara in Afrika ist nicht nur die hohe Armutsrate eine der größten Herausforderungen bei der Armutsbekämpfung, sondern auch die starke Ungleichheit bei der Einkommensverteilung. Die Armutsrate in den Ländern der Subsahara in Afrika, die die internationale Armutsgrenze von 1,9 US-Dollar unterschritten, ist von 54,9 % 1990 auf 42,3 % 2015 nur langsam zurückgegangen (UNDP, 2019 /2008/2000), und der Druck auf diese Länder, die Armut weiter zu reduzieren, ist weiterhin erheblich. Im gleichen Zeitraum bewegte sich der Gini-Koeffizient in diesen Ländern auf hohem Niveau zwischen 0,4 % und 0,5 %. Die ungleiche Einkommensverteilung beeinflusste in erheblichem Maße die Wirksamkeit der Maßnahmen zur Armutsbekämpfung. Nur in den Ländern Lateinamerikas war die ungleiche Einkommensverteilung noch stärker ausgeprägt. (UN, 2019)
Das armutsorientierte Wirtschaftswachstum in China beruhte in erster Linie auf landwirtschaftlicher Entwicklung, Industrialisierung und Urbanisierung, die das Land seit der Reform und der Öffnung erlebte. Seitdem entwickelte China verschiedene Mechanismen zur Armutsbekämpfung, die eng miteinander verflochten sind und ein zusammenhängendes, nachhaltiges System verschiedener Instrumente zur Armutsbekämpfung bilden.
Die Linderung der einkommensunabhängigen Armut vor 1978, der Aufbau von Infrastruktur und die von sozialer Gerechtigkeit geprägte Ausgangslage bildeten eine wichtige Grundlage für das starke Wirtschaftswachstum in China nach 1978 und sorgten gleichzeitig dafür, dass arme Bevölkerungsschichten vergleichsweise stark vom Wirtschaftswachstum profitieren und die Armut überwinden konnten.
Die Wirtschaftsreformen nach 1978 in China begannen auf dem Land. Die Einführung des Systems der vertraglichen Haushaltsverantwortung löste großen Produktionseifer bei den Landwirt*innen aus. Zwischen 1978 und 1985 befand sich die Landwirtschaft Chinas in einer außergewöhnlichen Entwicklungsphase, die durch die Reform der ländlichen Wirtschaft vorangetrieben wurde. In diesem Zeitraum wuchs das landwirtschaftliche BIP in China durchschnittlich jährlich um 6,9 %. (Huang Jikun, 2018) Gleichzeitig wuchs auch das jährliche Pro-Kopf-Einkommen der chinesischen Landwirt*innen in einem noch nie dagewesenen Maße. Wie aus Tabelle 1 ersichtlich, lag das jährliche Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens der chinesischen Landwirt*innen in den Jahren 1978-1984 bei 16,2 %. Im Vergleich zu anderen Zeiträumen war das Wachstum der Landwirtschaft und der Einkommen auf dem Land in den Jahren 1978-1984 relativ hoch. (Huang Jikun, 2008)
Was die wirtschaftliche und soziale Struktur angeht, lebte die Bevölkerung Chinas noch lange nach 1978 vornehmlich auf dem Land, während nur 17,9 % der Menschen 1978 in Städten lebten. Das Einkommen der Landwirt*innen wurde hauptsächlich vom landwirtschaftlichen Betrieb bestimmt. Die Landwirtschaft trug mehr als 35 % zum BIP Chinas bei. In Bezug auf die Entwicklung der Landwirtschaft zeigte sich ihr außergewöhnliches Wachstum in den ersten Jahren der Reform und der Öffnung vor allem in zwei Aspekten. Zum einen, in der raschen Entwicklung des Ackerbaus im Zusammenhang mit der Getreideproduktion. Die Gesamtgetreideproduktion in China wuchs zwischen 1978 und 1985 von 304,77 Mio. Tonnen auf 379,11 Mio. Tonnen und der Pro-Kopf-Getreidebestand wuchs von 317 kg auf 358 kg. Nach 1978 überwand China offiziell die 300-kg-pro-Kopf-Grenze. Zum anderen zeigte sich das Wachstum der Landwirtschaft in der raschen Entwicklung der Nutztierhaltung. Für Kleinbauern*innen gehörten der Ackerbau und die Nutztierhaltung zu den wichtigsten Tätigkeiten und Einkommensquellen ihrer Familien. Für die Armutsbekämpfung war das Wirtschaftswachstum in China nach 1978, das durch die landwirtschaftliche Entwicklung in Gang gesetzt wurde, entscheidend. So sind Martin Ravallion und Chen Shaohua der Ansicht, dass das Wirtschaftswachstum in der Landwirtschaft den wichtigsten Beitrag zu der Einkommenssteigerung armer Bevölkerungsschichten leistete. Im Vergleich zur Industrie oder dem Dienstleistungssektor sind die Auswirkungen des Wirtschaftswachstums in der Landwirtschaft auf das Leben armer Bevölkerungsschichten viermal so hoch. (Ravallion, 2009) Die 1978er-Reform und die Öffnungspolitik setzten die vor 1978 geschaffene materielle und personelle Grundlage im Bereich der landwirtschaftlichen Entwicklung effektiv ein und wurden zur zweiten Schnittstelle des chinesischen Mechanismus zur Armutsbekämpfung. Das Verhältnis zwischen landwirtschaftlicher Entwicklung und der Armutssenkung ist nicht immer vom landwirtschaftlichen Wachstum oder der Größe der Landbevölkerung bestimmt. Inwiefern landwirtschaftliche Entwicklung die Armut tatsächlich senken kann, hängt darüber hinaus vom Bevölkerungswachstum ab, das seit 1978 auf unter 2 % gehalten wurde. Die hohe Netto-Wachstumsrate in der Landwirtschaft hat zwei unmittelbare Folgen: einerseits führt sie zu einer Steigerung der Pro-Kopf-Produktion und andererseits zu Überproduktion. Viele Länder in Südasien und in der Subsahara in Afrika erzielten nach strukturellen Anpassungen relativ gute Ergebnisse in der landwirtschaftlichen Entwicklung. Obwohl diese Länder es nicht geschafft haben, die landwirtschaftlichen Wachstumsraten über einen längeren Zeitraum auf ähnlich hohem Niveau wie China zu halten, blieben die Wachstumsraten in der Landwirtschaft in der Subsahara in Afrika in den letzten ca. zehn Jahren auf 3,5-4 %, einem Wert, der in etwa der üblichen landwirtschaftlichen Wachstumsrate in China entspricht. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass das Bevölkerungswachstum in diesen Ländern mit teilweise bis zu 3 % höher ist. Deswegen ist die Netto-Wachstumsrate der Landwirtschaft vergleichsweise niedrig, was einer der Gründe ist, warum landwirtschaftliches Wachstum in diesen Ländern keine nennenswerte Armutslinderung mit sich bringt (Li et al, 2013).
Nach 1986 ging die chinesische Landwirtschaft vom überdurchschnittlichen zu normalem Wachstum über und das Einkommen der Landwirt*innen wuchs langsamer. Die Rolle der durch das überdurchschnittliche Wachstum der Landwirtschaft ausgelösten außergewöhnlichen Einkommenssteigerungen der Landwirt*innen als Mechanismus zur Armutssenkung wurde immer geringer. Nach 1986 schlug die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Chinas einen neuen Kurs ein. Das überschüssige Kapital aus der Landwirtschaft, das aufgrund der raschen Entwicklung im vorangegangenen Zeitraum entstand, wurde schnell an Gemeinde- und Dorfunternehmen (township and village enterprises, TVEs) übertragen, die früher hauptsächlich in Form von Kommune- und Brigadeunternehmen (commune and brigade enterprises, CBEs) existierten. Die Überschüsse und Rohstoffe wurden schnell von der Agrarindustrie aufgenommen, wie auch die Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft, die der Armutssenkung in China einen weiteren Impuls gaben. Nach 1986 stiegen die außerlandwirtschaftlichen Einkommen der Landwirt*innen jährlich und seit den späten 1980er Jahren kam es zu einem Engpass in der Entwicklung der TVEs, wobei ihr Beitrag zu den Einkommen der ländlichen Bevölkerung stagnierte. Von dieser Situation ausgehend begann China, in großem Maßstab Investitionen aus dem Ausland einzuwerben und eine Reihe arbeitsintensiver Wirtschaftszweige zu fördern, vor allem in entwickelten Regionen und an der Küste. Dies führte zu umfangreichen überregionalen Wanderungsbewegungen der Arbeitskräfte aus dem ländlichen Raum. Seit den späten 1990er Jahren und zu Beginn des Jahrhunderts gab es in China jährlich ca. 121 Mio. Wanderarbeiter*innen. 2012 betrug das Einkommen der chinesischen Landwirt*innen 3 447,46 RMB, was 43,5 % des Netto-Pro-Kopf-Einkommens der Landwirt*innen in Höhe von 6 977,4 RMB entsprach. Durch die Industrialisierung bedingt wuchs auch das Urbanisierungstempo in China. Die Urbanisierungsrate stieg von 17,9 % 1978 auf 60,6 % 2019, fast 300 Mio. Menschen verließen dauerhaft die ländlichen Gebiete. Industrialisierung und Urbanisierung wirken sich zweierlei auf Armutssenkung aus. Zum einen bringt die Industrie hohe Erträge und Städte zeichnen sich durch hohen Wohlstand aus. Die Abwanderung ländlicher Bevölkerung in die Industrie und Städte bringt Einkommens- und Wohlstandswachstum mit sich, und somit führen Industrialisierung und Urbanisierung unmittelbar zu Armutssenkung. Ohne Industrialisierung und Urbanisierung wäre die Armutssenkung in China vermutlich nicht über das durch das überdurchschnittliche landwirtschaftliche Wachstum erzielte Niveau hinausgekommen und hätte nicht die bis heute erzielten umfassenden Ergebnisse gebracht. Zum anderen führte der umfangreiche Rückgang ländlicher Bevölkerung zu einem relativen Anstieg der Arbeitsproduktivität derjenigen, die auf dem Land geblieben sind und weiterhin in der Landwirtschaft arbeiteten. Die Industrialisierung auf dem Land und die TVEs führten zu einer organischen Verknüpfung der landwirtschaftlichen Entwicklung Chinas mit der Urbanisierung, was dem Entwicklungsmodell Chinas einen eindeutig endogenen Charakter verleiht. Somit baute das Wirtschaftswachstum in China stets auf der Grundstruktur der chinesischen Wirtschaft auf, während die Mechanismen zur Armutssenkung gleichzeitig organisch mit der Wirtschaftsstruktur und dem sozialen Wandel der chinesischen Wirtschaft verknüpft waren. Der Übergang von der landwirtschaftlichen Entwicklung hin zur Urbanisierung war stets eng mit einer Einkommens- und Wohlstandssteigerung der ländlichen Bevölkerung verbunden, was für das armutsorientierte Wirtschaftswachstum in China charakteristisch ist. Sowohl chinesische als auch internationale Forschung hat sich intensiv mit dem Beitrag der landwirtschaftlichen Entwicklung, Industrialisierung und Urbanisierung zur Armutssenkung in China beschäftigt und kommt in den wichtigsten Aspekten zu übereinstimmenden Schlussfolgerungen. Manche Studien betonen, dass der umfassende Armutsrückgang in den vierzig Jahren seit der Reform und Öffnung auf vielfache Faktoren zurückzuführen ist. Das Zusammenspiel aus starkem Wirtschaftswachstum, Armutslinderung und Entwicklung wird dabei als wichtigste Triebkraft angesehen, die nicht nur einen außergewöhnlichen Beitrag zu weltweiter Armutsbekämpfung leistete, sondern auch als Beispiel für andere Länder dienen kann (Wang Sangui, 2008). Andere argumentieren hingegen, dass dem Wirtschaftswachstum und der Armutssenkung in China in den 1980er und 1990er Jahren mit Skepsis begegnet wurde und dass die Rolle des Wirtschaftswachstums im 21. Jahrhundert tatsächlich zu schwinden begann. Durch die Förderung eines inklusiven Systems der sozialen Sicherheit ging die Entwicklung Chinas jedoch schrittweise von einem zunächst armutsorientierten hin zu einem inklusiven Entwicklungsmodell über. Diese Entwicklung wurde international allmählich ernst genommen und eine Vielzahl von Entwicklungsländern fing an, von der Erfahrung Chinas in der Entwicklung und Armutssenkung zu profitieren. (Lin Yifu, 2012) Das "chinesische Modell" wird vielfach diskutiert und befürwortet, und manche Studien weisen darauf hin, dass die Übernahme westlicher Modelle für viele Entwicklungsländer keine sozioökonomische Entwicklung und stabil funktionierende Demokratien mit sich brachte. Die Bedeutung des chinesischen Modells liegt daher in der Frage, ob es eine Alternative zu anderen Modernisierungsmodellen darstellen kann. (Zheng Yongnian, 2009) Des Weiteren wird in der internationalen Wissenschaft die Ansicht vertreten, dass der besondere chinesische Entwicklungsweg als Quelle für Ideen und neue Entwicklungshilfe dient, die sich von anderen Erfahrungen in der postkolonialen Zeit unterscheidet. (Beyond, 2008)
Die auf Armut ausgerichteten Mechanismen der wirtschaftlichen und sozialen Transformation Chinas in den verschiedenen Phasen bilden wichtige Orientierungspunkte für die Armutsbekämpfung in Entwicklungsländern. Um Armut nachhaltig zu reduzieren, muss ein Entwicklungsland auf allen Stufen der wirtschaftlichen und sozialen Transformation auf Armutssenkung ausgerichtete Verknüpfungen schaffen, sodass sich das Wirtschaftswachstum nicht vom Ziel der Armutssenkung entkoppelt. Im letzten Jahrzehnt hielt sich die Wachstumsrate der Wirtschaft in der Subsahara in Afrika mit 5,575 % BIP 2010 und einem Durchschnittswachstum von 3,32 % BIP zwischen 2010 und 2018 auf relativ hohem Niveau, obwohl 2016 infolge des globalen Konjunktureinbruchs mit 1,6 % der niedrigste Wert des Jahrzehnts verzeichnet wurde. (World Bank database) Der Rückgang der Armutsraten in der Subsahara in Afrika im selben Zeitraum ist jedoch nicht zufriedenstellend gewesen. Im Hinblick auf wirtschaftliche Entwicklung und Armutssenkung stellt die Entkopplung der Struktur des Wirtschaftswachstums von der Armutsbekämpfung ein wichtiges Problem in diesen Ländern dar. (Li, 2013) In vielen afrikanischen Ländern beispielsweise gehörten Verkehr, Kommunikation und Bergbau, die größtenteils auf technologie- und kapitalintensive Branchen ausgerichtet sind, im letzten Jahrzehnt zu den am schnellsten wachsenden Wirtschaftsbereichen. Die Kernursache für diese Entkopplung zwischen dem Wirtschaftswachstum und der Armutssenkung liegt darin, dass das Wirtschaftswachstum nicht an die sozioökonomischen Voraussetzungen dieser Länder anknüpft, weder aus der Perspektive des Wirtschaftswachstums noch der der landwirtschaftlichen Entwicklung. In den meisten Ländern der Subsahara in Afrika beruhte das Wachstum der Landwirtschaft im letzten Jahrzehnt vor allem auf der Erweiterung der Ackerflächen und weniger auf einer Ertragssteigerung dieser Flächen, d.h. es ging nicht mit einer Produktivitätssteigerung einher. Nach strukturellen Anpassungen erlebten viele afrikanische Länder einen starken Aufschwung in Bezug auf landwirtschaftliche Entwicklung, die nun verstärkt zur Priorität der jeweiligen nationalen Entwicklungs- und Armutspolitik erhoben wird. In vielen Ländern wird die landwirtschaftliche Entwicklung jedoch nicht durch Industrialisierung begleitet, sodass sie keine wesentliche oder nachhaltige Rolle bei der Armutssenkung spielt. Der Forscher Paul Collier vertritt die Ansicht, dass Landwirtschaft für die Entwicklung und Armutssenkung in Afrika zwar wichtig ist, es jedoch ohne den Impuls durch Urbanisierung schwierig sein wird, wirtschaftliche und soziale Transformation und Armutssenkung zu erreichen. (Collier, 2014) Im Verlauf der letzten zehn Jahre erlebten Länder in Südostasien einen raschen sozioökonomischen Wandel und erzielten in unterschiedlichem Maße Erfolge bei der Armutssenkung. Ausgehend von der international festgelegten Armutsgrenze von 1,25 US-Dollar pro Person pro Tag ist die Armutsrate in ASEAN-Ländern zwischen 1990 und 2015 von 47 % auf 14 % zurückgegangen. (ASEAN Secretariat, 2017) Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass das Wirtschaftswachstum und der soziale Wandel in Südostasien vor allem durch ausländische Investitionen vorangetrieben wurde und weniger auf Überschüssen aus eigener landwirtschaftlicher Entwicklung beruhte. Im Hinblick auf die Kapitalversorgung sind die Erfolge der sozioökonomischen Transformation und Armutssenkung in Südostasien äußerst unbeständig.
Zahlreiche Studien von Entwicklungsorganisationen wie der Weltbank sowie die Entwicklungsökonomen Fosu und Ravallion haben gezeigt, dass sich anhaltend voranschreitende Ungleichheit auf die Umwandlung von Wirtschaftswachstum in Armutssenkung auswirkt und in der Armutsbekämpfung erzielte Erfolge umkehrt. (Ravallion, 1997) Ravallion et al. stellten fest, dass wirtschaftliche Entwicklung zwar zur Armutslinderung beiträgt, die wachsende Schere zwischen Arm und Reich jedoch einen stärkeren Effekt hin zur Armutsverschärfung hat. (Ravallion & Chen, 2003) Chinesische Forschung hat vielfach betont, dass die wachsende Einkommensschere zwischen Stadt und Land und innerhalb ländlicher Regionen in China den Zugang armer Bevölkerungsschichten zu Einkommen und ihrem Gewinnanteil reduziert, was für die Armutslinderung auf dem Land nicht förderlich ist. (Hu Angang et al., 2006) China hat in Folge der schnellen wirtschaftlichen Entwicklung und sozialen Transformation in den letzten vierzig Jahren ebenfalls wachsende Ungleichheit erlebt. Der Gini-Koeffizient des Landes stieg von 0,288 % 1981 auf 0,465 % 2016, was China zu einem Land mit einer der weltweit größten Einkommensschere macht. Verschärft sich die Ungleichheit immer weiter, wird der armutsorientierte Charakter der wirtschaftlichen Entwicklung nach und nach zurückgehen.
So erkannte die chinesische Regierung bereits seit Mitte der 1980er Jahre an, dass die wirtschaftliche Entwicklung vielschichtige Folgen auf Einkommensverteilung und regionale Entwicklung hat. Seit der Reform und Öffnung lag Chinas Strategie für wirtschaftliche Entwicklung in der Wohlstandsförderung einzelner Personengruppen bzw. Regionen. Damit lässt sich sagen, dass die entwicklungsorientierte Regierungspolitik selbst die Verschärfung der Ungleichheit mit bewirkte. Um der Ungleichheit zu begegnen, schuf die chinesische Regierung 1986 daher eine für die Armutsbekämpfung auf dem Land zuständige Behörde sowohl auf lokaler als auch auf zentraler Ebene. Gleichzeitig wurden Sondermittel für die Armutslinderung auf zentraler Ebene bereitgestellt, um betroffene Regionen zu bestimmen und somit eine zielgerichtete Strategie für die Armutslinderung und Entwicklung auf dem Land zu erarbeiten. Chinas Strategie ist dabei in erster Linie eine Armutsbekämpfungspolitik mit dem Ziel, die Mängel der auf Regionen und bestimmte Gruppen ausgerichteten Entwicklungspolitik zu ergänzen und auszugleichen. So profitierten beispielsweise entwickelte Landesteile und die Küstenregionen Chinas prioritär von der Reform- und Öffnungspolitik und entwickelten sich rasch weiter. Gleichzeitig wuchs jedoch der Abstand zu vielen abgelegenen und rückständigen Regionen, die nicht über den komparativen Vorteil regionaler Wirtschaftsentwicklung verfügten. Chinas Programm zur Armutsbekämpfung und Entwicklung auf dem Land richtete sich gezielt an diese Regionen, indem von Armut betroffene Kreise bestimmt und entsprechende Unterstützung zur Verfügung gestellt wurde. Zum Ende des letzten Jahrhunderts führten sowohl internationale als auch chinesische Expert*innen systematische Studien über die Ergebnisse der ländlichen Armutslinderung und Entwicklung in China durch. 1990 erarbeitete die Weltbank gemeinsam mit der chinesischen Regierung die Studie "China: Strategies for reducing poverty in the 1990s" (China: Strategien der Armutsbekämpfung in den 1990er Jahren), und 2001 initiierten die Weltbank und das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen die Studie "China: Overcoming Rural Poverty" (China: Ländliche Armut überwinden), die auf einer umfassenden systematischen Untersuchung der Maßnahmen Chinas zur Armutsbekämpfung beruht. Diese Studien kamen zu dem Schluss, dass "China bemerkenswerte Erfolge in der Bekämpfung absoluter Armut im Zuge der Umsetzung umfassender Wirtschaftsreformen auf dem Land seit 1978 erzielt hat". Außerdem heißt es, dass "das Ausmaß und die Finanzierung des chinesischen Programms zur Armutssenkung sowie die nachhaltige drastische Reduzierung absoluter Armut in den letzten zwanzig Jahren der Reform in jeder Hinsicht beispielhaft sind". (World Bank, 2001) Chinesische Studien betonen, dass die wirtschaftliche Entwicklung ärmerer Regionen seit der Umsetzung der Armutslinderungs- und Entwicklungsprogramme auf dem Land wesentlich vorangeschritten ist und die Einkommen der Landwirt*innen in diesen Regionen weiter steigen. (Wang Sangui, 2018)
Seit der Jahrhundertwende erlebt die wirtschaftliche und soziale Struktur Chinas eine weitreichende Transformation. Diese spiegelt sich vor allem in der voranschreitenden Urbanisierung und der jährlich wachsenden Ungleichheit sowie der Schwächung des armutsorientierten Charakters der Wirtschaftsstruktur wider. Unter diesen Voraussetzungen verändert sich auch das Stadt-Land-Verhältnis in China und die Entwicklungspolitik nimmt nach und nach Maßnahmen zur Unterstützung der Landwirtschaft auf. Die vollständige Abschaffung landwirtschaftlicher Steuern 2006 war der Ausgangspunkt für eine Abkehr von der Zeit, in der die Landwirtschaft der Industrie als Rohstoff- und Kapitallieferant diente. Die Einführung einer Versicherung für Geringverdienende auf dem Land 2004 und die schrittweise Umsetzung einer kooperativen gesundheitlichen Grundversorgung für die gesamte ländliche Bevölkerung bis 2010 setzten einen Wandel der chinesischen Armutspolitik von einer auf wirtschaftliche Entwicklung konzentrierten Politik hin zu einem dualen Mechanismus der Armutsbekämpfung in Gang, der zwar weiterhin die wirtschaftliche Entwicklung im Blick hat, gleichzeitig aber die Einführung eines Verteilungsmechanismus für Schutzmaßnahmen erforderlich macht. Der Mangel an sozialer Absicherung in China steht im Mittelpunkt wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Kritik und Sorge. Im Hinblick auf die Wirksamkeit der Armutsbekämpfung spielt ein Mechanismus zur Armutsbekämpfung über garantierte soziale Absicherung jedoch nur dann eine entscheidende Rolle, wenn der Grenznutzen der entwicklungspolitischen Armutsbekämpfung abnimmt. Dies ist nicht nur ein wichtiger Mechanismus in Chinas Antwort auf die Frage, wie die Armutsbekämpfung angesichts wachsender Ungleichheit vorangebracht werden kann, sondern auch ein wesentlicher Bestandteil einer auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Armutsbekämpfung. Chinas Mechanismus zur Armutsbekämpfung zeichnet sich vor allem durch dieses Zusammenspiel entwicklungspolitischer Maßnahmen und garantierter sozialer Absicherung einer auf Wirtschaftswachstum ausgerichteten Armutspolitik aus. Chinas Erfolge in der Armutsbekämpfung beruhen auf zwei Aspekten: einerseits wird sichergestellt, dass garantierte soziale Absicherung denjenigen von Armut Betroffenen zugutekommt, die nicht vom Wirtschaftswettbewerb profitieren können. Andererseits werden gleichzeitig diejenigen durch gezielte Maßnahmen unterstützt, die dadurch auf dem Markt wettbewerbsfähig werden und der Armut entkommen können.
Die größte Herausforderung bei der Armutsbekämpfung im Kontext wachsender Ungleichheit ist die Verfestigung von Interessensgruppen und die Schwächung des armutsorientierten Charakters der Wirtschaftsstruktur, was zu einem Wirtschaftswachstum und einer sozialen Struktur führt, die arme Bevölkerungsschichten ausschließen. Seit 2014 ist Chinas Regierung von gezielten Maßnahmen zur Armutslinderung zu einer Kampagne zur Armutsbekämpfung übergegangen. Die Bedeutung des Kampfes gegen die Armut liegt darin, dass personelle, materielle und finanzielle Ressourcen durch außerordentliche Verwaltungsinitiativen gebündelt und den ärmsten Regionen und am stärksten bedürftigen Gruppen zugutekommen. Dies ist dem politischen Mandat der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) zur Führung der Gesellschaft und der verstärkten Führungskraft der Regierung zu verdanken. Die Regierung Chinas hat in den letzten acht Jahren einen noch nie dagewesenen Betrag von 1,6 Billionen RMB in die Armutsbekämpfung investiert. Gemessen an der neuen Armutsgrenze, die Chinas Regierung 2011 festgesetzt hat, ist die Armutsrate in China von 10,2 % 2012 auf 0,6 % 2019 zurückgegangen (s. Abbildung 3).
Die Reduzierung der Armut in China spielt für die Geschichte der weltweiten Entwicklung im 20. und 21. Jahrhundert eine herausragende Rolle. Eine objektive, in den historischen Kontext eingebettete Darstellung der Erfahrungen Chinas in der Armutsbekämpfung ist für das Verständnis des Verlaufs an sich sowie als Beispiel für andere Entwicklungsländer wichtig.
Zunächst ist die Armutssenkung in China das Ergebnis eines eigenständigen historischen Prozesses politischen, wirtschaftlichen und sozialen Wandels des Landes. Die Infrastruktur, die China vor 1978 durch massive Arbeitseinsätze schuf, spielte in der nachfolgenden Entwicklung der Landwirtschaft eine entscheidende Rolle. Die Kosten dieser Infrastrukturinvestitionen waren äußerst niedrig, im Gegensatz zu der Schuldenlast vieler afrikanischer Länder aufgrund ihrer Abhängigkeit von Hilfsgeldern für die infrastrukturelle Entwicklung. Deshalb betonen chinesische Regierungsvertreter*innen oftmals die Eigenständigkeit des Landes, wenn es um Chinas Entwicklungserfahrung geht. Die gerechte soziale Verteilung, die China vor der Reform und Öffnung aufwies, schuf eine wichtige Grundlage für das darauffolgende schnelle Wirtschaftswachstum und die umfassende Armutssenkung.
Darüber hinaus ist das langfristige Wirtschaftswachstum Chinas, das wiederum weitreichende soziale Veränderungen mit sich bringt, ebenfalls eine der Grundlagen für die eingehende Armutssenkung im Land. Es muss dabei mit Mechanismen einhergehen, die armen Bevölkerungsschichten zugutekommen. Da umfassende Armutssenkung und die Überwindung absoluter Armut langfristige Prozesse sind, müssen die dafür geschaffenen Mechanismen und das Wirtschaftswachstum dauerhaft auf Armutssenkung ausgerichtet sein.
Schließlich bedarf die Überwindung absoluter Armut angesichts wachsender Ungleichheit eines intensiven politischen Engagements und einer starken Regierung. Seit der Jahrhundertwende und vor allem seit 2012 haben Chinas Maßnahmen zur Armutssenkung die Rolle der Kommunistischen Partei und der Regierung deutlich gemacht. Im Kontext wachsender Ungleichheit und abnehmender sozialer Mobilität wird Armut schnell strukturimmanent und allgemeines Regierungshandeln reicht nicht mehr aus, um die Armutsfalle zu überwinden. Europa und die USA können in dieser Hinsicht als bekannteste Beispiele solcher Extreme dienen. Die lange Sozialismustradition Europas, die zahlreichen sozialistisch geprägten Regierungen arbeitsorientierter bzw. sozialdemokratischer Parteien sowie die weitverbreiteten sozialistischen Denkweisen haben eine Form des Kapitalismus hervorgebracht, in der viele armutsorientierte Maßnahmen zum Gesetz wurden und ein auf sozialen Wohlstand ausgerichtetes System entstand. In den USA wird im Gegensatz dazu die Rolle der Individuen betont, die arbeiten, um ihre Chancen auf dem Markt zu verbessern, den eigenen Wohlstand durch persönliches, auf dem Markt generiertes Einkommen zu steigern und in private Bildungs-, Gesundheits- und Rentenmaßnahmen zu investieren mit dem Ziel, ihren zukünftigen Wohlstand zu halten oder zu erhöhen. Die USA haben daher stets Schwierigkeiten gehabt, in für arme Bevölkerungsschichten relevanten Politikbereichen voranzukommen. Obwohl die Regierung der USA über Programme zur Armutssenkung verfügt, vor allem über soziale Wohltätigkeit, beruht der Umgang mit Armut in den USA im Allgemeinen nicht auf Einkommenstransfers. (Rank, 2004). Der wichtigste Grund für den Erfolg Chinas in der Überwindung absoluter Armut auf dem Land lag in der politischen Führungsrolle der Kommunistischen Partei Chinas, die in der Lage war, die Gesellschaft zu einen, politisches Engagement zur Armutssenkung auf allen Ebenen der Gesellschaft und der Regierung zu verankern und eine Umverteilung von Wohlstand und Chancen zu ermöglichen. (Li Xiaoyun et al., 2020)
Li Xiaoyun ist Professor für Geisteswissenschaften und Doktorvater an der Landwirtschaftlichen Universität Chinas.
Foto: Li mit der Verwaltung eines Dorfes in der Präfektur Nujiang in Yunnan. China Daily.