Lula da Silva & Celso Amorim: Für eine multipolare Welt

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Seit Anfang diesen Jahres und umso mehr seit März, als die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Ausbreitung von COVID-19 zur Pandemie erklärte, haben Regierungen und Zivilgesellschaften mit einer Krise in einem noch nie dagewesenen Ausmaße zu kämpfen.

In allen Teilen der Welt gehen an einem einzigen Tag Tausende von Menschenleben verloren. Volkswirtschaften, die sich von der Finanzkrise des letzten Jahrzehnts kaum erholt hatten, durchleben den schwersten Rückschlag seit der Großen Depression in den 1930er Jahren.

Politische Systeme stehen unter Druck durch den Versuch populistischer und autoritärer Führer, das durch die Pandemie hervorgerufene Gefühl der Unsicherheit zu nutzen, um ihre eigene Macht zu stärken und so bereits fragile Demokratien zu schwächen. Einige von ihnen, von Donald Trump bis Jair Bolsonaro, haben in verschiedenen Ausmaßen und Momenten eine Haltung der Verleugnung eingenommen und ignorieren Empfehlungen von Wissenschaftler*innen und Gesundheitsexpert*innen.

Vor diesem schauerlichen Hintergrund hat die internationale Zusammenarbeit schwere Rückschläge erlitten. Das egoistische Verhalten einiger Führungspersönlichkeiten verhindert, dass die Bedürftigsten Zugang zu Produkten haben, die für den Umgang mit der Pandemie unerlässlich sind. Es sind Akte der reinen Piraterie, die von den Mächtigsten praktiziert werden. Gleichzeitig werden multilateralen Organisationen, wie der WHO, unter dem falschen Vorwurf der politischen Voreingenommenheit Ressourcen entzogen. Der UN-Sicherheitsrat — das mächtigste internationale Gremium — ist kaum in der Lage, in dieser Tragödie zu einer Entscheidung oder auch nur zu einer minimal sinnvollen Empfehlung zu kommen. Informelle Gremien, wie die G20, können die Differenzen zwischen ihren Mitgliedern nicht überwinden und sind nicht imstande, einen Aktionsplan zur Bewältigung der Krise zu verabschieden.

Während all das vor sich geht, werden die Appelle — auch von Papst Franziskus aufgegriffen — des UNO-Generalsekretärs und des UNO-Hochkommissars für Menschenrechte, unilaterale Sanktionen auszusetzen, damit Nationen wie Iran, Kuba und Venezuela Zugang zu Ressourcen haben, um lebenswichtiges medizinisches Material zu kaufen und humanitäre Hilfe zu erhalten, schlichtweg ignoriert. Der Multilateralismus wird schamlos aufgegeben.

In die Zukunft blickend — in der Annahme, dass sich der gegenwärtige Alptraum wird irgendwann verflüchtigen wird, wenn auch erst nach immensen menschlichen Verlusten an Leben und Wohlergehen — ist der häufig gehörte (oder gelesene) Satz über die Folgen der Pandemie: “die Welt wird nie mehr dieselbe sein”. Und in der Tat ist zu hoffen, dass die Menschheit ihre Lehren aus diesem unerwarteten Angriff eines mikroskopisch kleinen Wesens zieht, das weiterhin Tod und Elend bringt, insbesondere für diejenigen, die am unteren Rand unserer ungleichen Gesellschaften stehen.

Die Pandemie hat die Grundpfeiler unserer Lebensweise und, mit ihr, die der internationalen Ordnung erschüttert. Es scheint einen fast universellen Konsens darüber zu geben, dass die Weltordnung in einer grundlegend anderen Weise wieder aufgebaut werden muss. Die Frage ist: “Wie?”

Für viele Beobachter treten wir in eine Art “neuen Kalten Krieg” ein — oder in etwas noch Schlimmeres — als Ergebnis der sogenannten “Thukydides-Falle”, ein Ausdruck des Diplomaten und Gelehrten Graham Allison um auf das Konfliktpotential hinzuweisen, das sich aus dem Auftauchen einer neuen Supermacht gegen die bisher dominierende ergibt.

Nach dieser Auffassung wird das “Überholen” der Vereinigten Staaten durch China — ein Prozess, der schon vor der Pandemie unvermeidlich schien — beschleunigt werden und große Instabilität erzeugen. Gleichzeitig werden viele Regierungen und die von ihnen vertretenen Völker, die vor einer zügellosen Globalisierung auf der Grundlage eines groben Profitstrebens — vor allem durch das Finanzkapital — zurückschrecken, versucht sein, in eine Art Isolationismus zu verfallen, da sie dem Wert internationaler Zusammenarbeit skeptisch gegenüberstehen.

Die Menschheit könnte in eine neue Ära des “Krieges aller gegen alle” eintreten, mit enormen Risiken für die Sicherheit und den Wohlstand der Menschheit. Eine ohnehin schon extrem ungleiche Welt wird noch ungerechter werden und jede Art von Konflikten und sozialen Erschütterungen mit sich bringen. In einem solchen Kontext könnte der einseitige Rückgriff auf Waffengewalt umso häufiger auftreten sowie den Dialog und die friedliche Zusammenarbeit weiter erodieren.

Das muss alles nicht so sein. Sowohl Nationen als auch Individuen könnten weniger von Hybris beherrscht sein und könnten die Notwendigkeit von Solidarität und Bescheidenheit für die Bewältigung von durch die Natur oder den Menschen (oder dessen Untätigkeit) aufgeworfenen Herausforderungen verstehen lernen. Es ist nicht unmöglich — und nicht zwingend notwendig —, dass eine bestimmte Anzahl von Staaten oder supranationalen Gebilden, wie z.B. eine neugeborene Europäische Union und Institutionen der Integration von Entwicklungsländern in Lateinamerika, Afrika und Asien (die verstärkt oder neu geschaffen werden müssen), nach Bündnissen und Partnerschaften suchen. Und zwar in einer Weise, die zur Schaffung einer multipolaren Welt beiträgt, die frei von einseitiger Hegemonie und von steriler bipolarer Konfrontation ist.

Solche Allianzen, die auf einer “variablen Geometrie” basieren, würden eine echte Neubegründung der multilateralen Ordnung ermöglichen, die auf den Prinzipien eines echten Multilateralismus beruht, in welchem die internationale Zusammenarbeit wirklich gedeihen kann. In einem Szenario wie diesem könnten China, die Vereinigten Staaten und Russland davon überzeugt werden, dass Dialog und Zusammenarbeit vorteilhafter sind als Krieg (ob kalt oder anderweitig).

Das wird jedoch nur dann geschehen, wenn die einzelnen Länder, insbesondere diejenigen, die natürliche Voraussetzungen für die Ausübung einer nicht-hegemonialen Führung haben, Wege finden, ihr eigenes politisches System zu demokratisieren und sich besser auf die Bedürfnisse ihrer Völker, insbesondere der schwächeren Bevölkerungsschichten, einstellen. Soziale Gerechtigkeit und demokratische Regierung werden Hand in Hand gehen müssen.

Es mag utopisch klingen an jenem so trostlosen Punkt in der Geschichte, wo die Zivilisation selbst in Gefahr zu sein scheint, so zu denken. Aber für diejenigen von uns, die an die menschliche Fähigkeit glauben, kreative Antworten auf alle Arten von unerwarteten Herausforderungen zu finden, sollte ein utopisch klingender Gedanke nicht von gemeinsamem Handeln abschrecken. Ebenso wenig sollte er uns dazu bringen, der Verzweiflung nachzugeben.

Available in
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Authors
Luiz Inácio Lula da Silva and Celso Amorim
Translator
Izabela Anna Moren
Published
28.05.2020
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