Long Reads

Fünf Geschichten, die das Jahr 2021 prägten

2021 war ein Jahr des Leidens und des Kampfes, der Repression und des Widerstands – ein Jahr, in dem sich die Widersprüche im globalen Kapitalismus verschärften und sich soziale Bewegungen mit aller Kraft dagegen wehrten.
Wenn wir über das vergangene Jahr nachdenken, blicken wir auf fünf entscheidende Kämpfe zurück, über die wir im Syndikat berichtet haben. Von aufkeimenden Bewegungen bis zu etablierten politischen Projekten, von bitteren Niederlagen bis zu großen Triumphen – diese Kämpfe haben uns unschätzbare Lektionen gelehrt, unseren politischen Horizont erweitert und unsere Hoffnungen auf eine neue Welt geweckt.
Wenn wir über das vergangene Jahr nachdenken, blicken wir auf fünf entscheidende Kämpfe zurück, über die wir im Syndikat berichtet haben. Von aufkeimenden Bewegungen bis zu etablierten politischen Projekten, von bitteren Niederlagen bis zu großen Triumphen – diese Kämpfe haben uns unschätzbare Lektionen gelehrt, unseren politischen Horizont erweitert und unsere Hoffnungen auf eine neue Welt geweckt.

Farmer gegen den Neoliberalismus

farmers against neoliberalism

Im Jahr 2020 brachte das indische Parlament unter der Führung des rechtsextremen Premierministers Narendra Modi und seiner Bharatiya Janata Party (BJP) eine Reihe von Gesetzentwürfen ein, die darauf abzielten, den indischen Agrarsektor zu privatisieren und seit langem bestehende staatliche Schutzmaßnahmen im Namen der sogenannten Markteffizienz abzubauen. Insgesamt waren diese „Agrargesetze“ ein umfassender Angriff auf die Lebensgrundlagen der indischen Landwirt*innen im Dienste des ausländischen Kapitals und der nationalen Agraroligarchen.

Als Reaktion darauf gingen Indiens organisierte Farmer in einer noch nie dagewesenen Zahl auf die Straße. Es war ein organisierter Ausdruck der Demokratie und des Aufruhrs – landesweite Streiks, Straßen- und Eisenbahnblockaden, Boykotts und Barrikaden vor Unternehmenszielen und, unterstützt durch ein kollektives System gegenseitiger Hilfe für diejenigen, die ihr Leben aufs Spiel setzen (siehe unser Fotoessay hier). Indiens Frauen spielten eine unverzichtbare Rolle im Widerstand gegen die Kräfte des Kapitalismus und des Patriarchats. Landwirt*innen und Aktivist*innen auf der ganzen Welt haben, inspiriert von der radikalen Entschlossenheit ihrer Genossinnen in Indien, ihre Solidarität bekundet.

Der Kampf dauerte über ein Jahr, und der Staat tötete dabei etwa 700 Farmer. Doch die Bewegung erwies sich als zu widerstandskräftig. Im Dezember wurden die Farmgesetze aufgehoben.

Doch der Kampf ist noch lange nicht vorbei. Indiens Landwirt*innen sind entschlossen, auf ihrem Sieg aufzubauen und haben zusätzliche Forderungen an die Regierung gestellt. Sie sehen sich weiteren Bedrohungen ausgesetzt, da die Instrumente des Imperialismus ihren Sieg zu untergraben drohen. In diesem Jahr feiern wir die Farmer Indiens. Sie haben gezeigt, dass die Massen – organisiert, mobilisiert und bereit zu radikalen, disruptiven Aktionen – die Macht haben, ihr eigenes Schicksal zu gestalten.

Palästinenser*innen gegen den Siedlerkolonialismus

palestinians against settler colonialism

Für das palästinensische Volk ist die „Nakba“ – was übersetzt "Katastrophe" bedeutet und sich auf die ursprüngliche ethnische Säuberung von 750.000 Palästinenser*innen aus Städten, Dörfern und Gemeinden im Jahr 1948 bezieht – keine Geschichte aus der Vergangenheit, sondern ein andauerndes und brutales Projekt der Kolonialisierung.

Im April 2021 versuchte die israelische Regierung beispielsweise, etwa 2.000 Palästinenser*innen aus dem Viertel Sheikh Jarrah im besetzten Ost-Jerusalem zu vertreiben. Als sich die Bewohner*innen mit einer kraftvollen Kampagne #SaveSheikhJarrah wehrten, reagierte der israelische Staat mit Brutalität und griff die palästinensische Bevölkerung auf der Straße und in ihren Gotteshäusern an.

Wenige Tage später startete die israelische Regierung einen brutalen Militärangriff auf den Gazastreifen, bei dem mindestens 260 Palästinenser*innen ihr Leben verloren. Als Reaktion darauf forderte die Progressive Internationale die progressiven Kräfte der Welt auf, für ein Ende der Nakba zu kämpfen, das Apartheid-Regime zu boykottieren – eine Forderung, die auch von mehr als 700 führenden Persönlichkeiten des Globalen Südens unterstützt wurde – und sich durch eine internationalistische antimilitaristische Organisierung von dessen Kriegsmaschinerie zu distanzieren.

Später im Juni, als die neue Bennett-Lapid-Regierung in Israel ihr Amt antrat, feierten führende Politiker*innen aus aller Welt und die Mainstream-Presse das Ende der Ära Netanjahu. Es überrascht jedoch nicht, dass die Regierung die Unterdrückung des palästinensischen Volkes nicht nur fortsetzte, sondern sogar noch verstärkte. Im Oktober bezeichnete sie eine Reihe von palästinensischen Menschenrechtsgruppen, darunter "Al-Haq" und "Defense for Children International - Palestine", als "terroristische Einrichtungen".

Doch die palästinensische Zivilgesellschaft weigert sich, zum Schweigen verdammt zu werden. Wie Shahd Qaddoura von Al-Haq, der ältesten palästinensischen Menschenrechtsorganisation, schrieb: „Bis Palästina frei ist und wir endlich unser Recht auf Selbstbestimmung wahrnehmen können, wird unsere Stimme der Gerechtigkeit laut bleiben“.

Gig-Beschäftigte gegen die Ausbeutung

gig workers against

Überall auf der Welt schafft die digitale Technologie neue Wege, um aus Arbeitenden Wert zu schöpfen und sie in immer prekärere Arbeitsverhältnisse zu stürzen. Nirgendwo wird diese „Gigifizierung“ deutlicher als bei den App-basierten Lieferdiensten.

Während der Pandemie war die Lieferarbeit ein „essentieller Dienst“, der die Menschen vor der Ansteckung mit dem Virus schützte – aber es waren die großen Plattformen, die von dieser wichtigen Arbeit profitierten.

Dies beginnt sich nun zu ändern. Eine wachsende Bewegung von Beschäftigten von Lieferdiensten auf der ganzen Welt – von Schanghai bis Tiflis, von Mexiko-Stadt bis Taiwan – kämpft für ein Ende der Ausbeutung, für das Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren, und gegen die autoritäre Kontrolle des Algorithmus über ihr Leben.

80.000 Essenslieferanten in Taiwan protestieren beispielsweise gegen die intransparente neue Gehaltsberechnung von Unternehmen wie Uber Eats und Foodpanda. Sie fordern eine nationale Gewerkschaft, um sich zu organisieren und ausbeuterische Geschäftsmodelle in der sogenannten „Gig Economy“ zu bekämpfen.

In der georgischen Hauptstadt Tiflis hingegen werden die Zusteller*innen als „unabhängige Auftragnehmer“ eingestuft und müssen als solche einen komplizierten Prozess durchlaufen, um legale Streiks zu organisieren. Doch anstatt aufzugeben, machten die Fahrer*innen aus ihrem Status eine Tugend: Sie legten kollektiv die Arbeit nieder, indem sie einfach die App ausschalteten – und richteten damit Schaden beim Unternehmen an und demonstrierten das Potenzial der Selbstorganisation von Beschäftigten.

Lateinamerika gegen den Neofaschismus

latin america against neo fascism

Lateinamerikas Linke ist auf dem Vormarsch. Von Bolivien bis Peru, von Chile bis Honduras kämpfen die Menschen für die Demokratie und gegen die Kräfte des rechten Nationalismus im eigenen Land und die imperiale Intervention von außen.

Nach der triumphalen Mobilisierung gegen den rechtsgerichteten, vom Ausland unterstützten Putsch, der das „Movimiento al Socialismo“ (MAS) 2019 stürzte, hat das bolivianische Volk seine Demokratie zurückerobert und Gerechtigkeit für die Opfer des Putschregimes gefordert.

In Peru besiegte der ehemalige Grundschullehrer und Gewerkschaftsführer Pedro Castillo eine politische Gegnerin, die das Land in die dunkelsten Zeiten der faschistischen Fujimori-Diktatur zurückzubringen drohte.

In Honduras brachte die Wahl von Xiomara Castro neue Hoffnung, dass das Land endlich aus dem Schatten des von den USA unterstützten Putsches von 2009 heraustreten kann.

Das venezolanische Volk verteidigte weiterhin die Siege des bolivarischen Prozesses gegen die erdrückenden Sanktionen und andere imperiale Bemühungen um einen Regimewechsel, einschließlich der Plünderung seiner Goldreserven durch das britische Rechtssystem.

Zum Abschluss des Jahres triumphierte Gabriel Boric, Mitglied der Progressiven Internationale, über den Pinochetisten José Antonio Kast und ebnete damit den Weg für die radikale Änderung der chilenischen Verfassung,die durch die „soziale Explosion“ seit 2019 eingeleitet wurde.

Tiefgreifende Herausforderungen bleiben bestehen. Eine verheerende Wahlniederlage in Ecuador war die Ausnahme vom regionalen Trend. In Kolumbien wurde der von Indigenen und Farmern geführte Massenwiderstand von der von Washington und London unterstützten Regierung Duque gewaltsam unterdrückt. Und selbst die Siege stellen nur den Anfang, nicht aber den Höhepunkt eines langen historischen Prozesses der Rückgewinnung der Souveränität in ganz Lateinamerika dar.

Nach einem Jahr voller großer Siege und Niederlagen richten wir im Jahr 2022 unseren Blick auf Kolumbien, Brasilien und darüber hinaus.

Menschen gegen die Enteignung

people against disposession

Der Kampf für die Dekolonialisierung und gegen den Imperialismus ist vielleicht der bedeutendste Kampf unserer Zeit. Wo Kolonialismus und Kapitalismus das gemeinsame Land der Vielen gewaltsam in das Privateigentum der Wenigen umgewandelt haben, haben anti-koloniale Bewegungen seit langem versucht, dieses Land für die Menschen, denen es rechtmäßig gehört, zurückzuerobern.

Es ist ein Kampf um Souveränität, um Land, um Nahrung und gegen Umweltzerstörung. Und trotz der Versuche des Imperialismus, die koloniale Geschichte in die Vergangenheit zu verbannen, geht der Kampf um die Dekolonialisierung heute überall auf der Welt weiter. 

In Kenia kämpfen die Wakasighau, ein Volk, das zu Beginn des Ersten Weltkriegs von den Briten aus seiner Heimatregion Kasighau vertrieben wurde, immer noch um die Rückgabe ihres Landes.

Die Bewohner*innen des indonesischen Dorfes Pakel kämpfen seit mehr als 100 Jahren gegen Landraub und Umweltzerstörung – zunächst gegen die niederländische Kolonialregierung, dann gegen die Herrscher Indonesiens nach der Unabhängigkeit.

Auf der philippinischen Insel Panay führt das indigene Volk der Tumandok einen jahrzehntelangen Kampf gegen Staudammprojekte.

In Indien begaben sich indigene Völker aus dem Hasdeo-Wald auf einen historischen Fußmarsch in die Hauptstadt des Bundesstaates, um ihr Land und ihre Lebensgrundlage vor einem Bergbauprojekt des indischen multinationalen Adani-Konzerns zu schützen.

In Australien führt die Aborigine Wangan and Jagalingou Nation einen entschlossenen Kampf, um ein ökologisch und kulturell zerstörerisches Kohlebergbauprojekt zu stoppen.

In Brasilien haben indigene Völker die Hauptstadt Brasília besetzt, um sich dem Landraub und den ökologisch zerstörerischen Megaprojekten der Regierung zu widersetzen und für ihre Territorien und das Recht auf Leben zu kämpfen. Und die Bewegung der Landlosen Landarbeiter (MST) – mit schätzungsweise 1,5 Millionen Mitgliedern eine der größten sozialen Bewegungen Lateinamerikas – kämpft gegen die Vertreibung von 450 Familien, die im Lager Marielle Vive in Valinhos leben, wo sie verlassenes Land in eine blühende Gemeinschaft verwandelt haben.

In Kolumbien organisieren die Anführer der Bäuer*innen, der Cimarrona und der indigenen Gemeinschaften ihre Mitglieder, um ihre jeweiligen Gebiete und Räume gegen die brutale Unterdrückung durch die Duque-Regierung zu verteidigen.

Jeder dieser Kämpfe ist Teil eines planetarischen Krieges um das Land, die Rechte und die Lebensgrundlagen der indigenen Völker gegen die globalen Kräfte der Kolonialisierung und die Mechanismen der usprünglichen Akkumulation.

Ein Abschied von ROAR

Während einige Bewegungen einen neuen Anfang machen, gehen andere Kapitel zu Ende. Nach über einem Jahrzehnt kritischer Berichterstattung und Analyse von Bewegungen auf der ganzen Welt hat das Syndikatsmitglied ROAR Magazine angekündigt, dass es im neuen Jahr das Ende seiner Reise erreichen wird. Zum Abschied solltest du dir die letzte Ausgabe – Mobilize – ansehen, die Essays über eine Auswahl von Kämpfen aus der ganzen Welt enthält.

Available in
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Author
Wire Team
Date
06.01.2022
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