Labor

Reinigungskräfte an einer belgischen Universität fegen ihren Chef weg

Vor fünfzig Jahren traten Reinigungskräfte einer belgischen Universität in den Streik und gründeten im Anschluss daran ihre eigene Genossenschaft namens „Befreiter Besen“.
1975 traten Reinigungskräfte an der belgischen Universität Louvain-la-Neuve in den Streik, „feuerten“ ihren Chef und gründeten Le Balai Libéré, eine selbstverwaltete Genossenschaft. Die Löhne wurden verdreifacht und die Belegschaft wuchs auf über 100 Beschäftigte an. 1989 endete dieses Abenteuer nach 14 erfolgreichen Jahren aufgrund von Ausschreibungen. Coline Grandos Dokumentarfilm aus dem Jahr 2023 lässt diese Geschichte wieder aufleben und kontrastiert die Stärkung der Arbeiter in der Vergangenheit mit den fragmentierten Arbeitsbedingungen von heute.

Im Jahr 1975 traten über dreißig Reinigungskräfte an der neu gegründeten belgischen Katholischen Universität Louvain-la-Neuve (UCL) in einen dreiwöchigen Streik, „feuerten“ ihren Chef und beschlossen, stattdessen eine selbstverwaltete Genossenschaft zu gründen. Ihr Experiment in radikaler Wirtschaftsdemokratie – die sie „Le Balai Libéré“ (der befreite Besen) nannten – ermöglichte es ihnen, ihre Gehälter zu verdreifachen, die Genossenschaft auf über hundert Arbeitende zu erweitern und zeigten außerdem, dass Arbeiterschaft ihre eigenen Angelegenheiten selbst verwalten konnte. Nach vierzehn erfolgreichen Jahren fan das Projekt ein jähes Ende, als ein offenes Ausschreibungssystem durchgesetzt wurde, welches privaten Wettbewerbern ermöglichte, es zu unterbieten.

Die Geschichte des befreiten Besens war so gut wie vergessen, als die französische Dokumentarfilmerin Coline Grando Ende der 2010er Jahre ihr Studium an der besagten Universität begann. Glücklicherweise erfuhr sie von einem Freund von der Geschichte und beschloss kurz danach, die Erinnerungen daran wiederzubeleben. Nach fünf Jahren mühseliger Arbeit Vorarbeit (Archive wurden durchsucht, es wurde an Türen geklopft, um die Beteiligten der Genossenschaft zu finden, und Gespräche mit den Reinigungskräften, die heute an der Universität arbeiten, geführt) veröffentlichte Grando 2023 ihren Dokumentarfilm Le balai libéré.

In diesem Interview spricht Grando mit Daniel Kopp über ihren Film, die Erfolge und Herausforderungen der Selbstverwaltung und darüber, ob wir heute eine ähnliche politische Vorstellungskraft schaffen könnten.

Daniel Kopp: Warum traten die Putzfrauen 1975 in den Streik – eine Aktion, die zur Gründung einer selbstverwalteten Genossenschaft führte?

Coline Grando: Anfang der 1970er Jahre waren die Stadt und die Universität von Louvain-la-Neuve gerade erst erbaut worden. Das Unternehmen, ANIC, das die Frauen eingestellt hatte, war ein klassischer Subunternehmer – und die Universität hatte beschlossen, die Reinigungsarbeiten an dieses auszulagern. Aber die Gewerkschaft stimmte nicht zu.

Da die Budgets der Universität gekürzt wurden, wollte der Subunternehmer einige der Arbeiter an einen anderen Standort in Recogne in der belgischen Region Luxemburg schicken. Er gab ihnen keinen Kleinbus, um dorthin zu gelangen. Aber in Belgien macht es sowieso keinen Sinn, achtzig Kilometer zur Arbeit zu fahren. Sie akzeptierten das nicht, also gingen einige von ihnen zur Gewerkschaft.

Die Reinigungskräfte traten in einen dreiwöchigen Streik. Sie können sich vorstellen, wie es ist, wenn eine Universität, insbesondere eine, die gerade gebaut wird, drei Wochen lang nicht gereinigt wird. Die Arbeiterinnen erzählten mir, dass die Professoren und Studenten während des Streiks auf den Universitätsplatz kamen, um Toilettenpapier zu holen. An jedem Streiktag gab es irgendein Ereignis, beispielsweise fand eine Demonstration statt, bei der sie eine Puppe des Chefs verbrannten und ihn in einen Sarg legten. Es gab immer etwas, das die Einwohner von Louvain-la-Neuve daran erinnerte, dass die Reinigungskräfte streikten.

Die Gewerkschaftsfunktionäre hatten sofort vorgeschlagen, den Schritt in Richtung einer Selbstverwaltung der Arbeiter zu gehen. Sie wurden von einer Selbstverwaltungsinitiative in der Uhrenfabrik LIP im französischen Besançon, einige Jahre zuvor, inspiriert. Einige belgische Gewerkschafter, die nach Besançon gereist waren, um zu sehen, wie es bei LIP funktioniert, kehrten mit dem Wunsch zurück, die Selbstverwaltung zu starten. Der befreite Besen ist Teil dieser Geschichte.

Daniel Kopp: War es also die Gewerkschaft, die auf die Idee der Selbstverwaltung kam?

Coline Grando: Ja, für die Reinigungskräfte galt: Entweder sie blieben und sind auf den Zug der Selbstverwaltung aufgesprungen, oder sie haben sich anderswo Arbeit gesucht. Zum Zeitpunkt des Streiks waren es zweiundvierzig Reinigungskräfte und achtunddreißig nahmen die neuen Bedingungen an. Während des Streiks gab es Workshops, zum Beispiel zu juristischen Themen, wo folgende Frage gestellt wurde: Welche Art von Struktur wollen wir? Studentengruppen von Louvain-la-Neuve machten auf diesen Kampf aufmerksam. Es gab Arbeitsgruppen, die jeden Tag zur Baustelle kamen.

Wichtig war, dass es bereits ein Beziehungsdreieck zwischen der Gewerkschaft, der Universität und dem Chef gab. Sobald es also zu einem Streit mit dem Subunternehmer kam, wurde die Universität ins Gespräch gebracht. Das größte Problem bestand nun darin, die Universität davon zu überzeugen, die Selbstverwaltung zu akzeptieren. Im Klartext: den Vertrag mit dem Subunternehmer zu brechen und einen Vertrag mit einer neuen gemeinnützigen Organisation, „dem befreiten Besen“ zu unterzeichnen. Aber da Gewerkschafter des Christlichen Gewerkschaftsbundes (CSC) Personen im Vorstand der Katholischen Universität von Louvain-la-Neuve kannten, standen die Sterne günstig dafür, dass die Universität einwilligte.

Eines der Argumente bestand darin, dass es für das Ansehen der Universität besser wäre, wenn sie eine solche ungewöhnliche Initiative unterstützte und somit eine neue Form des Managements erprobte. Und tatsächlich funktioniert es gut: zuerst gab es einen mehrmonatigen Vertrag, dann über ein Jahr und schließlich über drei Jahre. So wurde der Vertrag bis 1989 ständig verlängert.

Daniel Kopp: Die Reinigungskräfte sprachen ständig darüber, „den Chef zu feuern“. War diese Umkehrung der Macht am Arbeitsplatz also symbolisch?

Coline Grando: Ja, es war in der Tat eine symbolische Entlassung. Der Gewerkschafter, der die Gründung dieser Genossenschaft angetrieben hatte, schrieb einen Brief an den Chef, welchen ich in den Archiven fand. In dem Brief beschreibt er den Chef als schlechten Chef, der weder Rücksicht auf seine Arbeiter nimmt, noch irgendwelche Regeln einhält. Die Arbeiter erklärten sich bereit, den Brief zu unterschreiben, und dann wurde er an den Chef geschickt.

Daniel Kopp: Er beginnt mit folgenden Worten: „Sehr geehrter Herr [Rensonnet], nachdem wir uns eine Woche lang in Arbeitsgruppen und in einer Generalversammlung getroffen haben, haben die Mitarbeiterinnen Ihrer Firma Folgendes festgestellt: Zunächst einmal kommen wir zu dem Schluss, dass wir, nach einer gründlichen Analyse, unsere Arbeit perfekt unter uns organisieren können. Wir müssen feststellen, dass Sie absolut nutzlos und ein Nestbeschmutzer sind.“

Coline Grando: Ja, dieser Brief liest sich ziemlich gut. In meinem Film wird er zweimal vorgelesen, weil er wirklich sehr lustig ist. Natürlich war das symbolisch, aber es war auch eine Möglichkeit, die Truppen zu motivieren und zu zeigen, dass die Gewerkschaft die Ärmel hochkrempeln kann. Aber in Wirklichkeit bestand die eigentliche Entlassung darin, dass die UCL beschlossen hat, den Vertrag mit dem Subunternehmer zu brechen, und dass der Subunternehmer sich nicht dagegen beschwert hat. Die Universität hätte tatsächlich wegen Vertragsbruchs haftbar gemacht werden können. Ich glaube, es wurde ausgehandelt, dass der Subunternehmer einen Teil des Universitätsvertrags behält, aber an einem anderen Standort in Brüssel.

Daniel Kopp: Was machten die Reinigungskräfte mit den „Produktionsmitteln“, den Geräten?

Coline Grando: Während des Streiks beschlagnahmten sie, wiederum auf Antrieb der Gewerkschaften, Reinigungsgeräte. Sie nannten es „die Kriegsbeute ergreifen“.

Nach dem Streik gaben sie sie zurück, weil es offensichtlich das Eigentum des Unternehmens war. Während des Streiks verkauften sie Aufkleber, um die Grundausstattung zu kaufen, d.h. Geschirrtücher und Abzieher. Denn in Wirklichkeit ist es das, was sie zum Reinigen brauchten: Eimer, Geschirrtücher und Abzieher. Als dann  der neue Vertrag mit der Universität unterschrieben wurde, nutzten sie das Geld, um Maschinen zu kaufen.

Alle sollten verstehen, dass man im Befreiten Besen wirklich mit guter Ausrüstung arbeiten wollte. Die Genossenschaftsmitglieder  entschieden, was mit dem Geld geschehen sollte, fanden sie das sehr wichtig. Wohingegen dies heute zum Beispiel gar nicht mehr der Fall ist. Die Arbeiter haben nicht die Wahl, womit sie arbeiten. Die Subunternehmer sind möglicherweise nur fünf Jahre dort, weil der Vertrag über fünf Jahre läuft, werden sie nicht investieren. Im Film gibt es die Geschichte vom Staubsauger, der nicht saugt. Im Befreiten Besen hatten sie tolle Gerätschaften.

Daniel Kopp: In den 1960er und 1970er Jahren erlebte Westeuropa eine Welle von „Besetzungen“. Aber wenn wir daran denken, denken wir oft an Produktion und Fabriken. Deshalb ist die Geschichte des befreiten Besens so einzigartig: Es geht um Reinigungsfrauen am unteren Ende der Wertschöpfungskette, nicht um Fabrikarbeiterinnen, die sich entschieden haben, ihre Arbeit selbst zu verwalten. Können Sie uns ein wenig mehr darüber erzählen, wie dieses spezielle Selbstmanagement in der Praxis funktioniert hat und wie sie die Herausforderungen gemeistert haben, denen sie gegenüberstanden?

Coline Grando: Sie waren bereits ziemlich selbstständig. Es gab viele kleine Teams, die wussten, wie man arbeitet und sich in Eigenregie organisierten. Einmal im Monat fanden Vollversammlungen statt, und einmal wöchentlich tagten Verwaltungsausschüsse für praxisbezogene Angelegenheiten. Sie hatten eine Organisationsstruktur aufgebaut:Jeden Montag, zum Beispiel, ging ein Vertreter aus jedem Team in den Verwaltungsausschuss. Damit die Verantwortung aufgeteilt werden konnte, mussten die Mitglieder ein Rollierungsverfahren einführen.

Und der Erfolg des Befreiten Besens? Man muss wissen, dass die Gewinne enorm waren. Nachdem die Mitglieder die Selbstverwaltung gestartet hatten, beschlossen sie in einer Generalversammlung, was mit den Gewinnen geschehen sollte. Müssen wir Personen einstellen, um die Arbeitsbelastung zu verringern? Investieren wir in Ausrüstung, weil sie es den Menschen ermöglicht, besser zu arbeiten, ohne sich das Kreuz zu brechen? Oder geben wir uns selbst einen Bonus und teilen eine bestimmte Geldsumme unter uns auf?

Sie beschlossen eine Gehaltserhöhung. Früher waren es 36 belgische Francs pro Tag. Das Gehalt wurde auf über 95 belgische Francs erhöht. Ein anderes Thema waren die Arbeitszeiten. Die Genossenschaft stellte sicher, dass sie mit dem Bus- und Bahnverkehr nach Louvain-la-Neuve übereinstimmte – denn keiner von ihnen wohnte dort. Für die Arbeiter taten sie alles, was sie konnten. Wenn es Momente gab, in denen beispielsweise zu viele Leute eingestellt worden waren, gingen alle in die Kurzarbeit, anstatt jemanden zu entlassen: das heißt, an einen Tag pro Woche wurde nicht gearbeitet, bis sich die Lage wieder ausglich. Sie haben jedoch Leute entlassen, weil manchmal schwerwiegende Fehler gemacht wurden.

Daniel Kopp: Und welche Herausforderungen gab es?

Coline Grando: Die größte Herausforderung bestand darin, den Geist der Selbstverwaltung am Leben zu erhalten: Mitgliederversammlungen und Verwaltungskomitees zu organisieren.

Der Wunsch kam auf, dass die Teams gemischter hätten sein sollen. Damit es keine Grüppchen entstehen, die sich in der Generalversammlung gegenüberstehen könnten. Das hat überhaupt nicht funktioniert. Die Arbeiter wollten in ihrem Gebäude bleiben. Wenn man erst einmal der Gebäudereinigung Herr ist, möchte man sich einfach nicht mehr verändern. Auch heute noch sagen die Arbeiter, dass es (zu) viele Konflikte gibt, wenn z.B. jemand in den Urlaub fährt und wieder zurückkommt. In der Zwischenzeit hat der Kollege die Reinigung nicht auf die gleiche Weise durchgeführt.

Die Universitätsgebäude wurden über einen längeren Zeitraum gebaut; die Arbeit nahm zu und es mussten Leute eingestellt werden. Wie in vielen Unternehmen wurden Familienmitglieder eingestellt. Und manchmal waren ganze Familien im Unternehmen eingestellt: die Ehemänner als Fensterputzer sowie Schwestern, Töchter und Schwiegertöchter als Reinigungskräfte. Das erleichterte die Selbstverwaltung nicht. Im Gegenteil anlässlich der Generalversammlung gab es immer noch diese Clanvorstellungen.

Die Gewerkschaft behielt immer einen Fuß im Unternehmen, indem sie Leute zur Buchhaltung oder zur Leitung von Versammlungen entsandte. Dadurch wurden die Mädchen, die Arbeiterinnen, nicht völlig selbstständig, obwohl das ihr Wunsch war.

Daniel Kopp: In Ihrem Film wird auch die Geschichte vom Ende des befreiten Besens im Jahr 1989 behandelt, als die Regeln für das öffentliche Beschaffungswesen zunehmend liberaler wurden. Wie und warum endete die Genossenschaft?

Coline Grando: 1989 beschloss die Universität eine öffentliche Ausschreibung zu starten, was bis dahin nie der Fall war. Der Befreite Besen bewarb sich und er war erstaunlicherweise immer noch wettbewerbsfähig. Aber aus irgendeinem Grund machte die Universität eine neue Ausschreibung, bis ein flämisches Unternehmen auftauchte und die Preise wirklich drückte.

Wir können davon ausgehen, dass die Situation ein bisschen arrangiert war. Dennoch gab es mehrere Faktoren. Die Universitätsleitung unterstützte die Genossenschaft nicht mehr. Die Gewerkschafter mussten feststellen, dass die Arbeiter viel weniger motiviert waren, für ihre Rechte zu kämpfen, und dass die Arbeitsqualität offenbar nicht mehr so hochwertig war. Es gab also mehrere Faktoren, die dazu führten, dass sich die Universität vom Befreiten Besen irgendwann trennen wollte.

Am Ende gewann dieses flämische Unternehmen den Auftrag, das die Arbeiter der Genossenschaft einstellte. Bei dieser Art von Ausschreibungen wechselt der Chef, aber die gleichen Mitarbeiter werden eingestellt – mit einen Zeitvertrag für sechs Monate. Anschließend hat der Chef sie einfach behalten, weil es keinen Sinn macht, Leute für eine so großen Standort umzuschulen. Aber mir scheint, dass das System nicht richtig funktionieren kann.

Daniel Kopp: Ihr Dokumentarfilm ist nicht nur ein einfache Archivarbeit. Sie haben sich entschieden, dass die Reinigungskräfte der Genossenschaft aus den 1970er Jahren mit denjenigen ins Gespräch kommen, die heute an der Universität Louvain-la-Neuve die gleichen Aufgaben erfüllen. Was hat Sie zu dieser Entscheidung bewogen?

Coline Grando: Ich wollte einen Film mit Gegenwartsbezug machen und Fragen über das Heute aufwirft.

Ich fand es genial und äußerst bereichernd das Fachvokabular in den Gesprächen zwischen den ehemaligen und aktuellen Arbeitern, herauszuhören, das, wie in allen Berufen, äußerst fachspezifisch ist. Oder, z. B. konnten die Älteren immer noch sagen, ob es sich um Linoleum oder Fliesen in einem bestimmten Gebäude handelte. Der Film zeigt die ganze Arbeit, die die Menschen leisten, die sich um diese Gebäude kümmern. Und selbst die heutigen Arbeiter haben mir gesagt, dass es bewegend ist, diejenigen zu sehen, die diese Gebäude instand gehalten haben.

Es ist ein Beruf, auf den alle anderen aufbauen. Ohne Sauberkeit kann niemand arbeiten. Und diese Arbeiter kommen nie zu Wort. Ich hatte das Gefühl, dass dieser Austausch zwischen den Generationen uns etwas beibringen würde. Wie sieht die Arbeitswelt heute aus? Als ich anfing, an der Geschichte des befreiten Besens zu arbeiten, wurde mir klar, dass die Genossenschaft im Film ein Vorwand sein würde, um über die heutigen Arbeitsbedingungen zu sprechen.

Ich ging an die Universität, um das Reinigungsteam zu treffen, kurz nachdem der erste Lockdown im August 2020 aufgehoben wurde. Die Reinigungskräfte waren heute gerade vollständig von der COVID-19-Krise erfasst worden. Sie brauchten dringend das Rampenlicht. Obwohl ich sie kaum kennengelernt hatte, erklärten sich vierzehn Personen bereit, gefilmt zu werden, während sie über ihre Arbeit sprachen. Bei all dem Misstrauen den Medien gegenüber, insbesondere in der Arbeitswelt, ist das nicht unerheblich. Ich dachte: „Sie haben etwas über die Gegenwart zu sagen.“

Daniel Kopp: Aus der Perspektive von fast fünfzig Jahren erzählt Ihr Film auch die Geschichte der Entwicklung der Reinigungsarbeit. Auf Französisch hat sie heute sogar einen anderen Namen. Sie werden nicht mehr „Reinigungskräfte“ genannt; sie werden „Oberflächenfachkräfte“ genannt. Die Arbeiter in der Dokumentation sprechen sogar von „Fabrikarbeit“. Zum Beispiel beschäftigte der Befreite Besen einst hundert Arbeiter. Heute aber reinigen fünfzig Arbeiter eine viel größere Universität mit einer Fläche von 350.000 m². Wie hat sich die Art der Arbeit seit der Zeit der Genossenschaft verändert?

Coline Grando: Ich muss sagen, dass die Arbeitsbedingungen im Befreiten Besen auch in den 1970er Jahren nicht den Normen entsprachen. Aber offensichtlich war das Arbeitstempo nicht das gleiche und es war viel familiärer. Das bedeutet nicht, dass die Arbeitsbedingungen großartig waren oder dass sie bei der Arbeit nicht gelitten haben.

Mit dem Ausschreibungssystem konnte der Chef nur die Anzahl der Arbeiter anpassen. Das Gehalt konnte nicht geändert werden, weil es Tarifverträge gab und die Ausrüstung nicht viel produktiver gemacht werden konnte. Je weniger Menschen eingestellt werden, desto schneller ist das Tempo und desto schwerer die Last auf den Schultern der Arbeiter. Im Falle der Universität, die sich über viele Gebäude erstreckt, sind die Menschen den ganzen Tag allein. Sie sehen ihre Kollegen kaum.

Zusätzlich zu den körperlichen Schäden gibt es enorme seelische Schäden: Sie können ihre Arbeit nicht mehr ordnungsgemäß ausführen. Das ist der große Unterschied zum Befreiten Besen, wo sie stolz darauf waren, mit guter Ausrüstung einen guten Job zu machen. Sie sagten, es habe gefunkelt, dass es keine Anzeichen von Schmutz auf dem Boden gab und dass sie die Wände gewaschen haben. Jeden Sommer wurde in den Büros ein Großputz durchgeführt.

Heute sollen die Fachkräfte nicht mehr putzen; sie werden gebeten, die Arbeit so schnell wie möglich zu machen, so dass es sauber aussieht.

Darüber hinaus sind die Arbeiter heute durch das Outsourcing symbolisch isoliert. Allein ihre Kleidung unterscheidet sich von der der Universitätsmitarbeiterschaft. Theoretisch dürfen sie ihren Kaffee nicht in der Cafeteria trinken, die von Forschenden und Beschäftigten der Universitätsverwaltung genutzt wird. Sie werden ständig daran erinnert, dass sie nicht Teil der Universität sind. Obwohl sie seit fünfundzwanzig Jahren an der Universität arbeiten, und man sie fragt, was sie beruflich machen, sagen sie nicht: „Ich arbeite für ein Unternehmen, das sich in drei Jahren verändern wird.“ Sie sagen: „Ich arbeite an der Universität.“ Ich fand es sehr hart, dass ihnen dieses Gefühl der Zugehörigkeit verwehrt wird. Sie haben bereits einen abgewerteten Job, und sie dürfen nicht einmal Teil eines recht angesehenen Unternehmens, der Universität, sein.

Daniel Kopp: Die Arbeiterschaft äußerte auch das Gefühl, dass Kollektivität, Gemeinschaft und Solidarität abhanden gekommen sind und dass alle Mitarbeitenden eher für ihre eigenen Interessen kämpfen. Dennoch sagt die Arbeiterschaft des Befreiten Besens, dass Solidarität in Wirklichkeit die Grundlage ihrer Genossenschaft sei. Der Film erweckt den Eindruck, dass es heute viel schwieriger wäre, diese Erfahrung zu wiederholen, weil die Arbeitenden viel isolierter und zersplitterter sind. Was halten Sie davon?

Coline Grando: In Bezug auf die Solidarität im Befreiten Besen möchte ich betonen, dass die Menschen nicht besser miteinander ausgekommen sind oder sich gegenseitig mehr unterstützt haben. Es gab viele, die sich dort nicht ausstehen konnten. Aber das Unternehmen war so strukturiert, dass das Schiff sinken würde, wenn es keine Solidarität gäbe. Auch wenn du die Person in deinem Gebäude oder nebenan nicht ausstehen kannst, wirst du kommen und ihr helfen, denn ein ungelöstes Problem bedeutet weniger Geld für alle. Und das zwingt die Menschen, Solidarität zu zeigen.

Daniel Kopp: Die Struktur des Unternehmens prägt also die Solidarität?

Coline Grando: Wenn ich höre, dass die Menschen keine Solidarität mehr zeigen, habe ich den Eindruck, dass sie implizit andeuten, dass wir uns alle individuell verändert haben. Aber es sind die heutigen Strukturen, die uns dazu drängen, individualistisch zu sein.

Daniel Kopp: Was dachten die Arbeiterinnen, als sie den Film sahen?

Coline Grando: Als der Film fertig war und bevor er im Fernsehen und in den Kinos gezeigt wurde, organisierte ich eine Vorführung nur für sie, damit sie ihn in Ruhe sehen konnten. Sie waren alle wirklich glücklich. Sie sagten mir: „Das habe ich nicht erwartet.“ Ich weiß nicht, was sie erwartet haben. Aber vielleicht waren sie nicht an diese Art von Film gewöhnt, bei dem man sich die Zeit nimmt, den Leuten zuzuhören. TV-Dokumentationen sind dagegen oft kurzweilige Filme mit einer Off-Stimme .

Ich habe den Film auch in einem Universitätskurs gezeigt. Einige Dozenten beschlossen, den Film in ihren Lehrplan aufzunehmen. Im Sokrates-Hörsaal, dem größten Hörsaal der Universität, zeigten wir 350 Studierenden den Film unter Anwesenheitspflicht. Vielen war es eigentlich egal, aber ich hatte nach einer Diskussion einige großartige Fragen. Ein Student fragte mich, was wir tun könnten, um den Reinigungskräften zu helfen. Ich denke, das ist wirklich eines der Themen – Solidarität zwischen den Klassen und die Konvergenz der Kämpfe. Schließlich war es das, was die Existenz des Befreiten Besens ermöglichte.

Coline Grando ist Filmemacherin und Regisseurin von Le balai libéré.

Daniel Kopp ist Gewerkschafter und Autor.

Foto: Reinigungskräfte der Universität bei einer Versammlung, Standbild aus Coline Grandos Dokumentarfilm Le balai libéré. (Doclisboa / YouTube) via Jacobin

Available in
EnglishSpanishPortuguese (Brazil)GermanFrenchItalian (Standard)Arabic
Author
Daniel Kopp
Translators
Fabienne Nyffenegger and ProZ Pro Bono
Date
01.05.2025
Source
JacobinOriginal article🔗
ArbeitEntrevistas
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