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Gesetz aus der NS-Zeit bringt arme Menschen in Deutschland immer noch ins Gefängnis

In Deutschland werden jährlich bis zu 9.000 Menschen – meist Arme und Arbeitslose – wegen unbezahlter Bußen fürs Schwarzfahren nach einem Gesetz aus der NS-Zeit ins Gefängnis gesteckt.
Jedes Jahr werden in Deutschland zwischen 8.000 und 9.000 arme, obdachlose oder arbeitslose Menschen inhaftiert, weil sie Bußgelder wegen Fahrens ohne Fahrschein in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht zahlen. Dazu wird auf § 265a des StGB verwiesen, einem Paragrafen, der 1935 unter dem NS-Regime eingeführt wurde. Zwar hatte der ehemalige Justizminister Marco Buschmann (FDP) vorgeschlagen, Schwarzfahren zur Ordnungswidrigkeit herabzustufen, doch sein Gesetzentwurf wurde mit der Regierungskrise 2024 verworfen. Jetzt, unter der rechten Koalition von Bundeskanzler Friedrich Merz, drohen wirtschaftspolitische Maßnahmen zugunsten der Reichen sowie Sparmaßnahmen, die Ungleichheit zu vertiefen, während Sozialprogramme gekürzt werden.

Zwischen acht- und neuntausend: Das ist die ungefähre Anzahl von Menschen, die in Deutschland jedes Jahr ins Gefängnis kommen, weil sie ein Ticket für den öffentlichen Nahverkehr nicht bezahlt haben. Sobald sie entlarvt werden, werden die Passagiere aufgefordert, eine Geldstrafe zu zahlen, die normalerweise €  60 beträgt. Diejenigen, die nicht zahlen können und Geldstrafen anhäufen, müssen mit einer Gefängnisstrafe von bis zu einem Jahr rechnen. Es überrascht nicht, dass es vor allem arme Menschen sind, die im Gefängnis landen. Nach Angaben des Freiheitsfonds, der sich für diejenigen einsetzt, die wegen Schwarzfahrens inhaftiert sind, sind 87 Prozent arbeitslos, 15 Prozent haben keine Wohnung und 15 Prozent sind suizidgefährdet. Erschwerend kommt hinzu, dass viele von ihnen ihre Wohnungen verloren haben, wenn sie wieder aus dem Gefängnis entlassen werden.

Paragraf 265a des deutschen Strafgesetzbuches, die gesetzliche Bestimmung, die für die strenge Bestrafung von Schwarzfahrer*innen verantwortlich ist, wurde im September 1935 eingeführt, mehr als zwei Jahre nach der Machtergreifung der Nazis. Nicole Bögelein, Kriminologin an der Universität zu Köln, erzählte mir von den historischen Ursprüngen des § 265a. Sie merkt an, dass die Maßnahme ursprünglich nicht darauf abzielte, Transportbetrug zu verhindern, sondern „den Missbrauch von Münztelefonen“ zu reduzieren. Damals galt der „Missbrauch von Verkaufsautomaten als die ‚häufigste und wirtschaftlich schädlichste Art des Dienstleistungsbetrugs‘“.

Heutzutage stellt Schwarzfahren die meisten Fälle nach § 265a dar. Leo Ihßen, der für den Freiheitsfonds arbeitet, bemerkt, dass „es nicht einmalig ist, dass Gesetze, die ihre Wurzeln in der NS-Zeit haben, im deutschen Strafgesetzbuch fortbestehen.“ Dennoch ist der Paragraf 265a „ein besonders deutliches Beispiel dafür, wie ein damals eingeführtes Gesetz auch heute noch harte soziale Folgen hat, insbesondere für Menschen, die in Armut leben“. Ihßen ergänzt, dass diese gesetzliche Regelung „nicht nur aus einer äußerst problematischen und historisch belasteten Zeit stammt; sie spiegelt auch deutlich die Denkweise der sozialchauvinistischen Gesetzgeber jener Ära wider“.

Die Reform, die nicht stattgefunden hat

Im November 2024 löste sich die deutsche Regierung, die sich aus den Mitte-Links-Sozialdemokraten (SPD), den Grünen und der neoliberalen Freien Demokratischen Partei (FDP) zusammensetzte, auf. Nach Monaten wachsender interner Spannungen forderte der damalige Bundeskanzler Olaf Scholz den FDP-Vorsitzenden und Finanzminister Christian Lindner auf, die Regierung zu verlassen. Auch zwei weitere FDP-Minister legten ihre Ämter nieder, darunter Justizminister Marco Buschmann.

Buschmann hatte seit 2022 immer wieder über die Notwendigkeit einer Reform des § 265a des Strafgesetzbuches gesprochen. Und doch verließ er die Regierung, ohne dass der Gesetzentwurf zur Änderung dieses Paragrafen eine Plenarsitzung des Parlaments erreicht hatte. Buschmann beabsichtigte, Schwarzfahren von einer Straftat zu einer Verwaltungsangelegenheit herabzustufen, ähnlich wie Falschparken, was dazu geführt hätte, dass niemand mehr dafür ins Gefängnis gekommen wäre.

Diese Reform genoss die öffentliche Unterstützung des gesamten Parteienspektrums. Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2023 befürworteten 69 Prozent der Deutschen die Einstufung als Ordnungswidrigkeit. Unter den Wähler*innen der Grünen und der linken Partei Die Linke waren die meisten Befürworter*innen zu finden, aber auch unter den Zögerlichsten, also den Wähler*innen der rechtsextremen Alternative für Deutschland (AfD) und der FDP, gab es eine Mehrheit, die für diese Änderung war. Die Daten waren weniger schlüssig, als Meinungsforscher*innen die Bürger und Bürgerinnen fragten, ob sie das Prinzip gutheißen, dass Schwarzfahrer*innen im Gefängnis landen könnten. Fünfzig Prozent fanden das falsch, aber 45 Prozent hielten es für angemessen.

Diese parteiübergreifende Unterstützung ist nicht so überraschend, wenn man bedenkt, dass eine Änderung der geltenden Gesetzgebung von sehr unterschiedlichen politischen Positionen aus verteidigt wurde. Während eine linke Perspektive die Ungleichheit zwischen Arm und Reich vor dem Gesetz betont, beklagt eine eher neoliberale Argumentation die unnötigen Kosten für den Staat. Die Ausgaben dafür, jemanden für vierzig Tage – eine realistische Strafe – im teuren Berlin hinter Gitter zu setzen, können bis zu €  9.000 betragen, neben den Kosten, die den Gerichten und der Polizei dafür entstehen.

In Berlin, Hamburg und München, den drei größten Städten des Landes, melden die örtlichen Verkehrsbetriebe weiterhin diejenigen, die wiederholt ihre Fahrscheine nicht bezahlen, der Polizei. Aber andere Orte wie Köln, Bonn, Bremen, Dresden oder Leipzig haben in den letzten Jahren einen anderen Weg eingeschlagen. Schwarzfahren wird zwar weiterhin mit einem Bußgeld geahndet, Schwarzfahrer*innen werden aber nicht mehr bei der Polizei angezeigt.

Die Kriminologin Bögelein von der Universität zu Köln plädiert, dass „Schwarzfahren vollständig aus dem Straf- und Verwaltungsrecht entfernt werden sollte“. Aus ihrer Sicht wird dieses Vergehen derzeit doppelt bestraft, von den Verkehrsbetrieben und dann vom Staat. Während die Verkehrsbetriebe die Zahlung eines Bußgeldes verlangen, kommt die staatliche Bestrafung obendrauf.

Bögelein schlägt stattdessen vor, Schwarzfahren nur im Zivilrecht zu behandeln. Ähnlich erklärt Ihßen vom Freiheitsfonds, dass seine Organisation dazu aufruft, über Buschmanns Vorschlag hinauszugehen und den § 265a ersatzlos abzuschaffen. Die Initiative argumentiert, dass „die bestehenden zivilrechtlichen Verfahren völlig ausreichen, um Schwarzfahren zu ahnden. Menschen sollten nicht strafrechtlich verfolgt oder inhaftiert werden, weil sie keinen Fahrschein haben“.

Ein Zeichen für größere Probleme

Schwarzfahrer*innen stellen nur einen Bruchteil der etwa fünfzigtausend Menschen dar, die jedes Jahr in Deutschland inhaftiert werden, obwohl sie zunächst nicht zu Gefängnisstrafen verurteilt worden sind. Sie landen hinter Gittern, weil sie nicht das Geld haben, um verhängte Bußen zu bezahlen. Neben dem Schwarzfahren gehören auch das Fahren ohne Führerschein oder Diebstahl zu den häufigsten Vergehen in dieser Gruppe.

Die Statistiken über inhaftierte Personen zeigen nicht nur die Auswirkungen der Armut, sondern auch die Gräben, die Deutschland fünfunddreißig Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch durchziehen, da die fünf neuen Bundesländer, die früher zur Deutschen Demokratischen Republik (DDR) gehörten, nach wie vor die fünf ärmsten sind.

Die acht Bundesländer mit der niedrigsten Inhaftierungsrate wegen Nichtzahlung von Geldstrafen im Jahr 2021 waren Berlin und die alten Bundesländer. Gleichzeitig gehören drei der fünf neuen Bundesländer zu den fünf Bundesländern mit der höchsten Gefängnisrate aufgrund nicht bezahlter Geldstrafen. Im Jahr 2020 waren zum Beispiel zehn Prozent aller Personen in Gefängnissen des neuen Bundeslands Brandenburg Teil dieser Gruppe.

Die harte Bestrafung derjenigen, die ihre Geldbuße nicht bezahlen können, verdeutlicht ein allgemeineres Problem, nämlich, die Kriminalisierung der Armut in einer zunehmend ungleichen Gesellschaft. In den 2010er Jahren, mitten während der sogenannten „Ära Merkel“, verzeichnete Deutschland einen Anstieg seines Gini-Index (der die wirtschaftliche Ungleichheit misst) von 30,8 auf 32,4. Im gleichen Zeitraum stieg die Armutsgefährdungsquote von 14,5 auf 16,3 Prozent der Bevölkerung.

Das dürfte sich mit der aktuellen deutschen Regierung unter den rechtsgerichteten Christdemokraten kaum verbessern. Der neue Kanzler Friedrich Merz bezeichnet sich selbst gerne als Angehörigen des gehobenen Mittelstandes, ist aber Millionär, ein ehemaliger Manager bei der Investmentgesellschaft BlackRock und stolzer Besitzer eines Privatjets.

Seiner Begeisterung für das Thema nach zu urteilen, besteht Merz’ Rezept zur Wiederherstellung des deutschen Wirtschaftswachstums, wie es von seiner Wirtschaftsministerin Katherina Reiche enthusiastisch geteilt wird, weitgehend darin, die Deutschen aufzufordern, ihre Wochen- und Lebensarbeitszeit zu erhöhen. Als eine der ersten großen wirtschaftlichen Entscheidungen bewilligte die Regierung Subventionen, um die Energiepreise für Landwirtschaft und Industrie zu senken, während sie für kleine Unternehmen und Haushalte gleich blieben. Dies ist nicht nur eine Umverteilung des Reichtums von unten nach oben, sondern auch ein Bruch des Versprechens, die Energiepreise für alle zu senken, welches nach der Regierungsbildung im Mai angekündigt worden war.

Das Energiepreisdebakel lässt weitere Zweifel aufkommen, ob die Sozialdemokraten (SPD), als Juniorpartner von Kanzler Merz, willens und in der Lage sein werden, seine schlimmsten neoliberalen Auswüchse zu zügeln. Arbeitsministerin Bärbel Bas, eine der Vorsitzenden der SPD, gehört dem linken Flügel der Partei an und begann ihre Karriere in bescheidenen Verhältnissen. Allerdings ist ihr SPD-Mitvorsitzender Lars Klingbeil, der auch Finanzminister und Vizekanzler Deutschlands ist, Mitglied des Seeheimer Kreises, einer konservativen Gruppe innerhalb der Partei. Klingbeil hat viele seiner Getreuen in der Regierung untergebracht.

Bas, die auf dem letzten SPD-Parteitag versprochen hatte, dass es mit ihr als Ministerin keine großen Sozialkürzungen geben werde, steht nach der Sommerpause, wenn grundlegende Änderungen im Bürgergeld erwartet werden, vor einer schwierigen Aufgabe. Diese staatliche Unterstützung, die denjenigen Personen vorbehalten ist, die kein Einkommen haben oder nicht genug verdienen, um sich und ihre Angehörigen zu ernähren, wurde von der einflussreichen Boulevardzeitung Bild  (die allgemein als die auflagenstärkste Zeitung Europas gilt) und Politiker*innen der Rechten und der extremen Rechten ins Visier genommen.

Ihrer Ansicht nach ist jeglicher tatsächliche oder vermeintliche Fall von Sozialhilfebetrug Grund genug für die generelle Verurteilung einer Leistung, die von mehr als 5,5 Millionen Menschen in Deutschland bezogen wird. Sie fordern auch härtere Strafen für diejenigen, die Stellenangebote ablehnen, welche nicht zu ihren Qualifikationen passen, und weniger Geld für die Wohnkosten. In der Debatte wird die Tatsache unterschlagen, dass eine steigende Zahl arbeitender Menschen Anspruch auf Bürgergeld hat, weil die Löhne nicht mit der Inflation Schritt gehalten haben und ein Arbeitsplatz keine Garantie dafür ist, nicht in Armut zu leben. Trotz der medialen Aufmerksamkeit beläuft sich der Bürgergeld-Betrug auf jährlich € 260 Millionen, ein unbedeutender Bruchteil der € 100 Milliarden, die Deutschland jedes Jahr an multinationale Unternehmen verliert, weil sie sich Offshore-Unternehmen und Steuerschlupflöcher bedienen.

Welche Hoffnung besteht also, dass Schwarzfahren unter dieser Regierung entkriminalisiert wird? Leo Ihßen vom Freiheitfonds merkt an, dass die SPD nun das Justizministerium innehat und „die Partei sich wiederholt für die Abschaffung dieser überholten Bestimmung ausgesprochen hat“. Es sei an der Zeit, zu beweisen, ob sie es ernst meinen, sagt Ihßen, der die Christdemokraten dennoch als Hauptakteure sieht.

Unterdessen plant der Freiheitfonds, im September den neunzigsten Jahrestag der Einführung des § 265a auf recht originelle Weise zu begehen. Er sammelt Geld, um die Geldstrafen von inhaftierten Schwarzfahrern und Schwarzfahrerinnen zu bezahlen und, nach ihren eigenen Worten, „die größte Gefangenenbefreiung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ zu feiern.

Marc Martorell Junyent ist Schriftsteller und Forscher und lebt in München.

Available in
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Author
Marc Martorell Junyent
Translator
Open Language Initiative
Date
18.09.2025
Source
JacobinOriginal article🔗
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