Statements

„Aufbau einer Welt für Viele, nicht für einige Wenige“

Auf der Konferenz in Kuala Lumpur über eine neue, gerechte und humane Weltordnung ruft PI-Ratsmitglied Jeremy Corbyn zu einer gemeinsamen Front zwischen dem Kampf des globalen Südens um Souveränität und dem Kampf des globalen Nordens um die Rückeroberung der Demokratie von der Konzernherrschaft auf.
In seiner Rede bei der Konferenz in Kuala Lumpur über eine neue, gerechte und humane Weltordnung argumentierte Jeremy Corbyn, dass das große Erwachen von zweierlei unsere Welt neu gestalten könnten: die Wiederbelebung der nationalen und volkseigenen Souveränität des globalen Südens und der demokratische Aufstand des globalen Nordens gegen die Macht der Konzerne und die imperialistische Gewalt. Er ist der Ansicht, dass der Zusammenfluss dieser Bewegungen – in Solidarität und Menschenwürde verankert – die Grundlage für eine neue Weltordnung für die Mehrheit und nicht für eine Minderheit schaffen könnte.
Einführung

Vielen Dank, Premierminister Anwar Ibrahim. Vielen Dank an unsere Gastgeber*innen hier in Kuala Lumpur und an alle Bewegungen, Denker*innen und Gemeinschaften, die sich zu dieser wichtigen Konferenz versammelt haben. In Ihrer Führung, Premierminister, erkennen wir den Mut, sich eine neue Ordnung vorzustellen – eine, die nicht von Herrschaft und Krieg, sondern von der Souveränität der Völker und Nationen geleitet wird.

Unsere Aufgabe heute ist es, folgende Frage zu stellen: Wie können wir zwei große aufstrebende Bewegungen unserer Zeit zusammenbringen – das Erwachen des Südens, das die Souveränität vom Imperium zurückfordert, und das Erwachen des Nordens, das die Demokratie von der Macht der Konzerne zurückerobern will – um eine Welt für Viele und nicht für einige Wenige zu schaffen?

Wie Rabindranath Tagore, ein großer indischer Universalgelehrter, der leider nicht mehr erlebte, wie sein Land von der Kolonialherrschaft befreit wurde, einmal schrieb:

„Wo der Geist ohne Furcht ist und das Haupt erhoben ist ... in diesen Himmel der Freiheit, mein Vater, lass mein Land erwachen.“

Das ist das Erwachen, das wir heute sehen – von Kuala Lumpur bis Caracas, von Genua bis Gaza.

Die Krise der gegenwärtigen Weltordnung

Die Weltordnung, die unser Leben jahrzehntelang bestimmt hat, bröckelt. Sie wurde auf Kolonialmacht aufgebaut, durch wirtschaftliche Dominanz aufrechterhalten und verschiedentlich als zivilisatorisches Projekt gerechtfertigt.

Eine Handvoll Nationen – und innerhalb von ihnen eine Handvoll Konzerne – beanspruchen das Recht, das Leben von Milliarden zu bestimmen. Sie kontrollieren unsere Ressourcen, unsere Arbeit, unsere Nachrichten, sogar unsere Fantasie.

Aber dieses System steckt in einer tiefen Krise.

Die Finanzkrise hat seine Selbstüberschätzung gezeigt.

Die Pandemie hat seine Verletzlichkeit offenbart.

Der Klimanotstand deckt seine Lügen auf.

Und der Völkermord in Gaza macht seinen moralischen Bankrott deutlich.

Wenn die Mächtigen von einer „regelbasierten internationalen Ordnung“ sprechen, meinen sie damit Regeln für andere und Straffreiheit für sich selbst.

Palästina: die moralische Bruchlinie unserer Zeit

Es gibt keinen klareren Test für unser moralisches und politisches Gewissen als Palästina.

Seit mehr als zwei Jahren schaut die Welt zu, wie Israel einen Vernichtungskrieg gegen die Menschen in Gaza führt.

Zehntausende, wahrscheinlich mehrere Hunderttausend wurden dabei getötet.

Ganze Familien wurden ausgelöscht.

Jedes Krankenhaus bombardiert. Kinder unter den Trümmern von Schulen und Häusern begraben.

Letzte Woche haben wir die Nachricht von einem Waffenstillstand begrüßt, auch wenn es abzuwarten bleibt, ob Israel sich an die Bedingungen halten wird. Ja, wir freuen uns über den Anblick der feiernden Kinder in Gaza. Aber wir weinen auch um die Kinder, deren Lachen für immer unter den Trümmern begraben ist.

Ein Waffenstillstand ist eine Atempause. Aber das ist nicht langfristiger Frieden. Wir müssen weiter gegen ethnische Säuberungen kämpfen. Gegen die Apartheid. Gegen die Kolonialherrschaft.

Es ist nicht Sache von Donald Trump, Benjamin Netanjahu oder Tony Blair, über die Zukunft des Gazastreifens zu entscheiden. Das ist Sache des palästinensischen Volkes.

In den kommenden Monaten und Jahren werden wir das wahre Ausmaß von Tod und Zerstörung aufdecken. Und wir werden mehr über die Komplizenschaft von Regierungen auf der ganzen Welt erfahren.

Wir waren nicht nur Zeugen eines schwerwiegenden, grotesken Verbrechens gegen das palästinensische Volk – wir waren Zeugen eines Verbrechens gegen die Menschheit selbst. Völkermord ist ein Angriff auf unsere gemeinsame Menschlichkeit.

Und doch haben die Regierungen, die behaupten, die Menschenrechte zu verteidigen – Großbritannien, die USA, die Europäische Union – diese Gräueltat bewaffnet, finanziert und gerechtfertigt.

Das Schweigen der Macht war ohrenbetäubend.

Aber die Stimme des Volkes war noch nie so laut.

Millionen sind auf die Straße gegangen.

Student*innen haben ihre Universitäten besetzt.

Arbeiter*innen haben sich geweigert, Waffen zu transportieren.

Journalist*innen, Künstler*innen und Religionsführer*innen haben ihre Karriere riskiert, um die Wahrheit zu sagen.

Und Länder des globalen Südens haben sich erhoben, wo die alten Mächte bestenfalls mitschuldig und schlimmstenfalls vollwertig am mutwilligen Gemetzel beteiligt waren.

Südafrika, Malaysia, Kolumbien und andere haben sich für unsere gemeinsame Menschlichkeit eingesetzt – unter großer Gefahr für sich selbst. Die Gründung der Haager Gruppe ist ein historischer Schritt – eine Koalition von Nationen, die das Völkerrecht verteidigen, während der Norden es aufgegeben hat.

Lassen Sie mich klar sagen: Die Menschen in Gaza sind nicht allein. Ihr Kampf für die Freiheit ist Teil eines umfassenderen Kampfes – für eine Welt, in der kein Volk unter Besatzung lebt, keinem Kind die Würde verweigert wird und kein Land als entbehrlich behandelt wird.

Das Erwachen des Südens – die Rückeroberung der Souveränität

Was wir heute erleben, ist ein Erwachen – oder besser gesagt, ein Wiedererwachen – des Südens.

Denn der Kampf um die Souveränität ist nicht neu.

Sie war der Traum, der die nationalen Befreiungsbewegungen des 20. Jahrhunderts antrieb – als sich Völker in ganz Asien, Afrika und Lateinamerika erhoben, um ihr Land, ihre Arbeit und ihre Würde zurückzufordern.

Von der Unabhängigkeit Indiens bis zur Revolution in Indonesien, von der Bandung-Konferenz hier in Asien bis zu den Befreiungskämpfen in Afrika standen die Nationen des Südens einst zusammen und sagten: Wir werden uns selbst regieren.

Aber dieser Traum wurde verraten – nicht vom Mut des Volkes, sondern von globalen Machtstrukturen, die die Kolonialflagge durch Wirtschaftsketten ersetzten.

Schulden, Abhängigkeit und ungleicher Handel hielten zu viele Nationen in einer neuen Art der Unterwerfung fest.

Wie Frantz Fanon einst schrieb: „Jede Generation muss aus der relativen Dunkelheit heraus ihre Mission entdecken, sie erfüllen oder verraten.“

Jetzt hat eine neue Generation diese Mission wiederentdeckt – die Mission der wahren Souveränität, der Freiheit in jedem Sinne des Wortes.

Regierungen, Bewegungen und Gemeinschaften machen einmal mehr ihr Recht auf Selbstbestimmung geltend – ihre Ressourcen zu kontrollieren, Industrien aufzubauen, die ihrem Volk dienen, um ihr Land und ihre Kultur zu schützen.

Im gesamten globalen Süden hören wir die gleiche Botschaft: Genug. Genug von Schulden, die von ausländischen Banken auferlegt werden. Genug von wirtschaftlichen Diktaten aus Washington und Brüssel. Genug von Souveränität als Privileg, das nur wenigen vorbehalten ist. Dieses Erwachen betrifft nicht nur Staaten; es betrifft Menschen.

Wahre Souveränität muss die Souveränität des Volkes bedeuten – über Ressourcen, Arbeit, Nahrung, Wasser und Wissen.

Der Ruf von Premierminister Anwar nach einer neuen Ordnung aus dem Süden spricht direkt für dieses Wiedererwachen. Es geht nicht um Nostalgie für die Vergangenheit – es ist die Erneuerung seines Versprechens: eine Welt zu schaffen, in der jede Nation und jeder Mensch in Würde und frei von Herrschaft leben kann.

Das Erwachen des Nordens: Die Wiedererlangung der Demokratie

Gleichzeitig geschieht im Norden etwas Außergewöhnliches.

Die Menschen erheben sich gegen ein System, das sie nicht repräsentiert.

In Italien sind Arbeiter*innen in den Generalstreik für Palästina getreten – sie weigern sich, sich am Völkermord mitschuldig zu machen. In Großbritannien sind Hunderttausende Woche für Woche für den Frieden durch London marschiert, trotz der Verunglimpfung durch ihre eigene Regierung – und jetzt wurden 1500 Menschen wegen Terrorismusvorwürfen verhaftet, darunter viele Rentner*innen und Menschen mit Behinderung, weil sie Schilder mit acht Worten hochhielten, auf denen stand: „Ich bin gegen Völkermord, ich unterstütze Palestine Action.“ In den Vereinigten Staaten und Europa haben Studierende ihre Campi besetzt und erklärt: „Nicht in unserem Namen.“

Das sind keine isolierten Aktionen.

Sie sind Teil eines tieferen Erwachens – eines Verständnisses, dass unsere Gesellschaften nicht von Demokratie, sondern von Reichtum regiert werden.

Von Konzernen, die von Krieg, Umweltverschmutzung und Ausbeutung profitieren – während die Mehrheit Mühe hat, ihre Rechnungen zu bezahlen und ihre Häuser warm zu halten.

Auch das ist ein Erwachen: ein Erwachen des Volkes für Demokratie, Gerechtigkeit und Frieden.

Und sie kann in der gleichen moralischen Sprache sprechen wie das Erwachen des Südens: in der Sprache der menschlichen Solidarität.

Der neue Internationalismus – Souveränität trifft Solidarität

Wenn die Souveränität im Süden auf Solidarität im Norden trifft, beginnen wir, eine neue Art von Internationalismus aufzubauen. Nicht die alte imperiale Globalisierung, sondern ein Internationalismus des Volkes, eine „Diplomatie der Völker“, wie es in der politischen Erklärung der Progressiven Internationale heißt, in deren Rat ich sitze.

Ich bin stolz darauf, mit der Progressiven Internationale zusammenzuarbeiten, die existiert, um diese Brücke zu bauen– zwischen Arbeiter*innen und Regierungen, sozialen Bewegungen und Parlamenten, Landwirt*innen und Feminist*innen, Künstler*innen und Akademiker*innen– über alle Grenzen hinweg.

Gemeinsam mit der Haager Gruppe haben wir die Prinzipien des Völkerrechts verteidigt – nicht als Waffe der Starken, sondern als Schild der Schwachen.

Internationalismus ist kein Slogan. Er ist eine Praxis. Es bedeutet, zusammenzustehen, Ressourcen zu teilen, voneinander zu lernen und sich nicht wegen der Rasse, Religion oder Geografie spalten zu lassen.

Wie ich schon oft gesagt habe: Unsere größte Stärke ist unsere Einheit, und unser größter Feind ist die Verzweiflung.

Fazit: Hoffnung, moralische Führung und die künftige Welt

Dies ist ein historischer Moment. Wie ein großer Italiener einmal sagte, bricht die alte Ordnung zusammen – aber die neue ist noch nicht geboren. Die Frage ist, wer sie aufbauen wird: die Milliardäre und Generäle oder die Menschen und Bewegungen, die an Frieden und Gerechtigkeit glauben.

Die Welt, für die wir kämpfen, ist einfach:

Eine, in der jedes Kind angstfrei leben kann.

In der Nationen zusammenarbeiten, nicht konkurrieren. In der für die Erde gesorgt wird – ihre Wälder, Flüsse und Ökosysteme werden für kommende Generationen geschützt.

In der der Reichtum der Menschheit dient, nicht umgekehrt.

In der Viele, nicht einige Wenige, über unsere gemeinsame Zukunft entscheiden.

Reichen wir uns also über Kontinente hinweg – das Erwachen des Südens und das Erwachen des Nordens – die Hände, um eine Welt der Souveränität und Solidarität aufzubauen.

Malaysia hat den Weg gewiesen: Zivilcourage im Angesicht des Imperiums und Glaube an die Macht der Menschlichkeit.

Enden wir so, wie wir begonnen haben – mit den Worten von Tagore, die vor mehr als einem Jahrhundert gesprochen wurden, aber noch heute in unseren Herzen lebendig sind: „Wo der Geist ohne Furcht ist und das Haupt erhoben ist ... In diesen Himmel der Freiheit, mein Vater, lass mein Land erwachen.“ Lasst unser Volk erwachen.

Lasst unsere Länder erwachen.

Lasst unsere Welt erwachen.

Eine Welt für Viele – nicht für einige Wenige.

Available in
EnglishSpanishPortuguese (Brazil)GermanFrenchItalian (Standard)Arabic
Author
Jeremy Corbyn
Translators
Victoria Breting-Garcia and Open Language Initiative
Date
29.10.2025
Source
Progressive InternationalOriginal article
MeinungPalestineKrieg & Frieden
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