Gesundheitsvorsorge ist ein öffentliches Gut

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Jahrzehntelang hat man uns den Mythos der privaten, individuellen Gesundheitsvorsorge aufgetischt. Es stimmt aber nicht, dass unsere Gesundheit weitgehend ein Produkt individueller Entscheidungen und persönlicher Verantwortung ist. Und es ist ein Mythos, dass unsere Gesundheitsversorgung eine Dienstleistung ist, die private Unternehmen erbringen können und für die wir zahlen müssen, um zu überleben.

Die COVID-19-Pandemie hat diesen Mythos als Irrglauben entlarvt. Unsere persönliche Gesundheit lässt sich nicht von der Gesundheit unserer Nachbar*innen oder der unseres Planeten trennen. Sie kann auch nicht von den strukturellen Faktoren und politischen Entscheidungen getrennt werden, die unsere Gesundheitsentwicklung schon bestimmen, lange bevor wir geboren werden.

Das Recht auf Gesundheit ist im Kontext dieser Zusammenhänge ein universelles, grundlegendes Recht. Dein Leben ist nicht mehr und nicht weniger wert als das deiner Nachbar*in. Denn die Schicksale der beiden sind sehr eng miteinander verwoben.

Das universelle Recht auf Gesundheit wird heute nicht durch Ressourcenknappheit oder fehlende Technologie eingeschränkt. Im Gegenteil, der Reichtum dieser Welt könnte — wenn er gut investiert wird — die Pandemie noch in diesem Jahr beenden.

Stattdessen werden wir durch einen anderen Mythos ausgebremst: Nämlich, dass es einen Austausch, einen Kompromiss zwischen der öffentlichen Gesundheit und einer gesunden Wirtschaft geben müsse. Die Vorstellung eines solchen “Trade-Offs” bedeutet, dass jegliche Politikmaßnahme dem Götzen des Wirtschaftswachstums unterzuordnen ist — selbst wenn es uns das Leben kostet. Das Konzept der “privaten Gesundheit” erwächst aus diesem zweiten Mythos. Er macht aus unseren Körpern eine Ware und schafft einen Markt für grundlegende Gesundheitsdienstleistungen.

Tatsächlich sind die öffentlichen Gesundheitssysteme auf der ganzen Welt sorgsam darauf ausgelegt, der Profitmaximierung zu dienen. Es überrascht daher nicht, dass ihre Leistungen ungerecht und unzureichend sind: Es überrascht nicht, dass arme und marginalisierte Bevölkerungsgruppen keine Möglichkeit haben, auf private Gesundheitsdienste zurückzugreifen.

Sieht man sich die Erkenntnisse über die gesundheitlichen Effekte der Coronavirus-Pandemie und die Auswirkungen der politischen Reaktionen an, ist die Rassen-, Geschlechter- und Klassendimension bei den Auswirkungen der Pandemie unbestreitbar. Die harte Realität der systemischen Fragilität wurde ebenfalls deutlich — sowohl des öffentlichen Gesundheitswesens als auch der Wirtschaftssysteme im Globalen Norden in ihrem Umgang mit der sozialen Krise. Diejenigen Länder, die erfolgreich waren — wie Vietnam, Kuba und Neuseeland — betrachten öffentliche Gesundheit hingegen als wirtschaftlichen Reichtum.

Kehren wir zurück zur Grundprämisse: Gesundheit, in all ihren Dimensionen, ist ein öffentliches Gut. Wie können wir eine Welt schaffen, die diese einfache Prämisse widerspiegelt?

Der erste Schritt ist Entkolonialisierung. Länder im Globalen Süden können das Versprechen der öffentlichen Gesundheit nicht einlösen, wenn sie durch neokoloniale Auflagen eingeschränkt werden, die mit philanthropischer Finanzierung und multilateralen Krediten einhergehen. Dieser Top-Down-Ansatz nimmt diesen Ländern die souveräne Entscheidungsmacht darüber, wie sie Gesundheitsdienste finanzieren, er privatisiert die Gesundheitsinfrastruktur und er lähmt sozialpolitische Maßnahmen.

Die meisten dieser Länder haben in den 1960er und 1970er Jahren, als eine Selbstverständlichkeit, die allgemeine Gesundheitsversorgung durchgesetzt. Dann kamen Strukturanpassungsprogramme: Die Durchsetzung des Washington-Konsens im Laufe der 1980er und 1990er Jahre führte zu einer radikalen Umgestaltung des Gesundheitssektors hin zu einem profitablen Sektor für Privatisierung und Deregulierung. Die Einführung von Nutzungsgebühren und die Priorisierung von importierten High-Tech-Lösungen drängten Millionen armer Menschen an den Rand der Gesellschaft, da “private Gesundheit” zur Norm wurde. Die Versorgung in Form von “Minimalpaketen” erhielt Vorrang vor einer umfassenden Grund- und Gemeinschaftsgesundheitsvorsorge.

Öffentliche Gesundheit erfordert also öffentliches Eigentum — eine Form von Eigentum, die Transparenz schafft und die Beteiligung der Bürger*innen an der Gesundheitsversorgung fördert. Öffentlich-staatliche Kliniken, Homecare-Firmen und biomedizinische Unternehmen sollten aufgebaut werden, um die Produktion und Verteilung von lebenswichtigen Medikamenten und medizinischen Technologien sowie von Gesundheitsdienstleistungen sicherzustellen.

Frei von den strukturellen Zwängen von “Aktionäre zuerst” und Gewinnmaximierung können diese Unternehmen präventiven und kurativen Technologien den Vorrang geben, bestehende Behandlungs- und Versorgungslücken schließen sowie Produkte zu oder unter dem Selbstkostenpreis bereitstellen, wenn das notwendig sein sollte, um die öffentliche Gesundheitsversorgung zu gewährleisten.

Darüber hinaus können sie Einnahmen in die Staatskassen zurückführen, Ineffizienzen reduzieren und Überkapazitäten für Notfälle schaffen. Eine robuste Infrastruktur des öffentlichen Sektors für die Entwicklung, Herstellung und Verteilung von lebenswichtigen Gütern wie Medikamenten, persönlicher Schutzausrüstung und anderen medizinischen Hilfsmitteln würde das Monopol der Konzerne bei die Versorgung mit medizinischen Gütern brechen, deren Einfluss auf staatliche Regulierung verringern und die Macht der Allgemeinheit stärken, damit ein gerechter und allgemein offener Zugang zu wichtigen Gesundheitsgütern und -dienstleistungen erreicht werden kann.

Gesundheit als öffentliches Gut bietet positive externe Effekte für die Wirtschaft und die Gesellschaft. Selbst wenn wir nur der Logik eines begrenzten Wirtschaftswachstums folgen, wird geschätzt, dass ein Dollar, der in Entwicklungsländern in die Gesundheit investiert wird, im Laufe der Zeit zwischen 2 und 4 Dollar an wirtschaftlichem Ertrag bringt. Und diese Dollars werden am besten ausgegeben, wenn Gemeinden und Nationen die Autonomie haben, ihre eigenen Bedürfnisse zu priorisieren und in den langfristigen Aufbau von Institutionen zu investieren, die ihren Gemeinden in den kommenden Jahren dienen werden.

Länder wie Kuba und Vietnam haben gezeigt, dass selbst mit bescheidenen Haushaltsbudgets die Entwicklung eines souveränen Gesundheitssystems, das der Primär- und Präventivversorgung Priorität gibt, zusammen mit einer starken öffentlichen Gesundheitsinfrastruktur erstklassige Ergebnisse für die Gesundheit der Bevölkerung liefern kann. Es hat sich gezeigt, dass Investitionen in öffentliche Gesundheitssysteme zu besseren Ergebnissen führen als Investitionen in privatisierte Gesundheitssysteme. Die Befreiung des Gesundheitssektors von den Zwängen des Marktes würde eine Neuausrichtung der Primär- und Präventivversorgung, eine Planung für einen gerechten Zugang und eine robuste Gesundheitsversorgung in den einzelnen Gemeinden ermöglichen. Diese sind bekanntermaßen nicht der “gewinnbringende Teil” der Gesundheitsversorgung. Zusätzlich können gezielte Personalentwicklungsprogramme geschaffen werden, um den Bedürfnissen der Allgemeinheit gerecht zu werden und gleichzeitig stabile Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor zu schaffen. Das allein wäre eine wichtige vorgelagerte Investition in die öffentliche Gesundheit.

Die Rückgewinnung der Autonomie des öffentlichen Sektors durch souveräne Nationen erfordert jedoch eine Abkehr von den derzeitigen auf Spenden angewiesenen vertikalen Programmen zur Krankheitsbekämpfung: Es geht dann nicht mehr darum, welche Programme am meisten gefördert und finanziert werden, sondern welche die Bedürfnisse der Allgemeinheit in den Vordergrund stellen. Vertikale Interventionen zur Ausrottung einzelner Krankheiten sind oft kostspielig und wurden den Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen auferlegt. Das ging aber auf Kosten einer horizontalen Verbesserung der gesamten öffentlichen Gesundheitsinfrastruktur, die langfristig der kompletten Bevölkerung dienen und die lokalen Gesundheitssysteme widerstandsfähiger machen würde. Die vertikalen, punktuellen Aktionen tragen auch zur Abwanderung von Fachkräften bei, die den öffentlich-staatlichen Sektor verlassen, um stattdessen für höhere Löhne in internationalen und nichtstaatlichen Organisationen zu arbeiten.

Die Rückgängigmachung der Bedingungen von Strukturanpassungsprogramme und die Loslösung von Krediten, Geberzuschüssen und externen Finanzierungen von Konditionalitäten ist entscheidend für die Rückgewinnung der nationalen Souveränität in der öffentlichen Gesundheit. Eine vollständige Umstrukturierung der globalen Gesundheits-Governance-Mechanismen zur Sicherstellung einer demokratischen Vertretung bei der Entscheidungsfindung durch jedes teilnehmende Land, unabhängig davon, ob es Netto-Geber oder Netto-Empfänger ist, ist ebenso unerlässlich. Globale Gesundheits-Governance-Mechanismen müssen über Maßnahmen verfügen, die sicherstellen, dass die externe Einflussnahme auf Länder immer der nationalen Souveränität untergeordnet wird und dass die Aktivitäten globaler Gesundheitsorganisationen ohne demokratisches Mandat immer von den nationalen Regierungen beaufsichtigt und bezüglich ihrer Auswirkungen zur Rechenschaft gezogen werden.

Die Vertretung der am häufigsten marginalisierten und von Kolonialismus und Strukturanpassung am stärksten betroffenen Gemeinschaften bei der Governance globaler Gesundheits- und Finanzinstitutionen ist wichtig, damit auch ihre Prioritäten und Perspektiven in die Agenda und in die Entwicklungsprioritäten aufgenommen werden. Darüber hinaus kann eine stärkere Einbeziehung, Teilnahme und gemeinsame Planung im Prozess der De-Privatisierung von Gesundheitsdiensten zur Demokratisierung des Gesundheitswesens beitragen und mehr Möglichkeiten für Transparenz, zivile Verantwortung und Kontrolle bieten.

Hand in Hand mit der Rückeroberung des Gesundheitssektors für das öffentliche Wohl sollte die Rückeroberung von essentiellen Dienstleistungen wie Wasser und Strom gehen. Investitionen in die öffentliche Energie- und Wasserversorgung — in Verbindung mit dem Ausstieg aus fossilen Brennstoffen — würden sowohl die Klimaresistenz als auch einen gerechteren Zugang zur grundlegenden Infrastruktur der öffentlichen Gesundheit schaffen. Zu den größten Herausforderungen für die öffentliche Gesundheit in vielen Ländern der Welt gehören schließlich nach wie vor Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Malaria und Infektionen der unteren Atemwege, die alle in hohem Maße mit sozialen Einflussfaktoren wie dem Zugang zu sauberem Wasser und guten Lebensbedingungen, der Luftqualität und der Abwasserentsorgung zusammenhängen. Jede Strategie zur Rückeroberung der öffentlichen Gesundheit für das Gemeinwohl muss diese sozialen Aspekte in den Mittelpunkt stellen und versuchen, die öffentliche Macht in allen Bereichen der Wirtschaft zu stärken, die für die grundlegenden Bedingungen des menschlichen Lebens und die Stabilität unserer Umwelt verantwortlich sind.

Die COVID-19-Pandemie hat die Gelegenheit geschaffen, die vielen Mythen, die ein kaputtes globales Gesundheitssystem aufrechterhalten haben, zu überdenken und neu zu bewerten. Und dabei hat sie uns die Chance geboten, ein globales, wahrlich öffentliches Gesundheitssystem zu schaffen: gerecht, inklusiv und auf die Menschen ausgelegt.

Eine vernichtende Kritik des Kapitalismus ist nicht genug. Es ist an der Zeit, sich eine Welt neu vorzustellen, in der das menschliche Leben und die ökologische Nachhaltigkeit an erster Stelle stehen und in der das universelle Recht auf Gesundheit die Grundlage für alle öffentlich-staatlichen Maßnahmen ist.

Ein System, das auf diesem universellen Recht basiert — und von globaler Solidarität getragen wird — ist nicht nur möglich. Für das Überleben unserer Spezies ist es notwendig.

Dieser Essay ist Teil unserer Serie “Manifest für das menschliche Leben”, die am Jahrestag der Pandemie-Ausrufung veröffentlicht wurde. Unterzeichnet das Manifest hier.

Available in
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Authors
Tinashe Goronga, Dana Brown and Siddhartha Mehta
Translator
Tim Steins
Published
10.03.2021
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