Tsai gewann mit einem historisch großen Vorsprung von über acht Millionen Stimmen. Gemessen an der Gesamtbevölkerung ist dies der größte Wahlsieg eines taiwanesischen Staatsoberhauptes seit Beginn der Direktwahlen in Taiwan im Jahr 1996. Dagegen gewann Han Kuo-yu von der “Kuomintang” (KMT) 5,5 Millionen Stimmen, oder 39 Prozent, und James Soong von der “Qinmindang” (PFP) 608.000 Stimmen, in etwa 4 Prozent.
Die DPP behielt mit 61 Sitzen auch ihre Mehrheit im Parlament, mit insgesamt 113 Sitzen zu vergeben. Dagegen erhielt die KMT 38 Sitze, während die “Taiwan People's Party” (TPP) von Ko Wen-je 5 Sitze, die “New Power Party” (NPP) 3 Sitze und die “Taiwan Statebuilding Party” (TSP) einen Sitz erhielt. Die restlichen fünf Sitze werden von Unabhängigen besetzt. Weder die “New Party” noch die PFP gewannen Sitze.
Der Wahlsieg von Tsai gibt der DPP nicht nur das Mandat, ihr derzeitiges politisches Programm weiter voranzutreiben, sondern dient auch als Zurechtweisung von China. Die Wahlbeteiligung war mit 75 Prozent der Wahlberechtigten hoch. Das ist fast 10 Prozent mehr als die Wahlbeteiligung im Jahr 2016.
Die genaue Zusammensetzung der Wähler*innen bleibt unklar. Es gab lange Zeit die Befürchtung, dass eine sinkende Wahlbeteiligung seitens junger Wähler*innen in den vergangenen Jahren zu einem Sieg der KMT führen würde — sehr viele junge Menschen verstehen sich als Taiwaner, nicht als Chinesen, unterstützen die KMT nur in geringem Ausmaß, beteiligen sich aber nicht an den Wahlen. Andererseits wurde angenommen, dass die KMT in der Lage gewesen wäre, ältere Bevölkerungsgruppen zur Wahl zu mobilisieren — die Wahlbeteiligung unter den älteren Wähler*innen fällt in Taiwan deutlich höher aus. Die DPP eroberte nicht nur die südlichen Gebiete zurück, die sie bei den Wahlen 2018 verloren hatte, sondern baute ihre Präsenz im Norden Taiwans aus, ein Gebiet, das historisch KMT wählt.
Gleichzeitig kann man feststellen, dass die KMT im Vergleich zu 2016 tatsächlich wesentlich mehr Stimmen erhalten hat. Eric Chu von der KMT gewann 2016 3,8 Millionen Stimmen, obwohl die KMT 2016 durch ihren späten Wechsel des Präsidentschaftskandidaten behindert wurde. Die DPP verlor außerdem Parlamentssitze im Vergleich zur Wahl von 2016, in der sie 68 Sitze gewann. Die KMT erhielt drei Sitze zusätzlich zu den 35, die sie 2016 bekam.
Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die KMT als politische Kraft völlig ins Abseits geraten wird. Einige interne Veränderungen der KMT stehen an, da der Parteivorsitzende Wu Den-yih zurücktritt. Es ist noch unklar, wie die nächste Führung der KMT aussehen wird. Da es Präzedenzfälle gibt, in denen gescheiterte Präsidentschaftskandidat*innen schließlich den Parteivorsitz übernahmen — dies war bei Hung Hsiu-chu nach ihrer gescheiterten Präsidentschaftskandidatur 2016 der Fall — ist es nicht ausgeschlossen, dass Han für den Parteivorsitz kandidieren wird. Han stellte sich 2017 schon einmal für diesen Posten zur Wahl.
Möglicherweise wird die KMT weiterhin einen populistischen Politikstil verfolgen, da dieser sichtbare Erfolge bei der Mobilisierung von Wähler*innen erzielt haben könnte, die sonst nicht mobilisiert worden wären. Wie in vergangenen Jahren, wann auch immer die KMT eine Wahlniederlage erlitten hatte, wird es wahrscheinlich zu internen Auseinandersetzungen kommen, zwischen Kräften, die interne Reformen und eine Lokalisierung der Politik fordern — wie etwa jüngere Mitglieder*innen der Partei — und Kräften, die eine Rückkehr zu den Fundamenten der Partei befürworten. Es gibt Anzeichen dafür, dass dies bereits begonnen hat.
In der Zwischenzeit deuten die Ergebnisse von Dritten und Unabhängigen darauf hin, dass solche Dritte und politisch Unabhängige als politisches Phänomen in Taiwan bestehen bleiben werden.
Während viele dachten, dass die NPP bei den Wahlen in diesem Jahr als politische Partei ausscheiden würde, nachdem interne Spaltungen bezüglich der Frage, ob Tsai Ing-wen unterstützt werden sollte, zum Abschied von Freddy Lim und Hung Tzu-yung geführt hatten. Das Ergebnis der NPP lässt jedoch darauf schließen, dass die Partei noch immer von den vier Jahren politischer Errungenschaften und den leidenschaftlichen Anhänger*innen vom ehemaligen Vorsitzenden Huang Kuo-chang weitergetragen werden könnte.
Die Zukunft der Partei ist weniger klar, da sie nicht genügend Stimmen für den Eintritt Huangs in die Legislative erhalten hat. Obwohl er wegen seiner Anhänger*innen der Partei insgesamt einen Vorteil bringt, könnte Huang, wenn er nicht teil der Führung ist, auch eine Last darstellen — und derzeit hat er keine Position innerhalb der Partei inne. Dies war bereits der Fall bei der Auseinandersetzung darüber, ob Tsai Ing-wen unterstützt werden soltel.
Die TSP wird sich in Zukunft wahrscheinlich darum bemühen, die Partei drastisch zu erweitern, da sie jetzt einen Abgeordneten im Amt hat — Chen Bo-wei. Mit der Vergrößerung der TSP in den letzten Jahren wird die Partei bei den Zwischenwahlen wahrscheinlich mehrere Kandidaten aufstellen.
Trotz der Tatsache, dass die NPP zwei Sitze verloren hat — Chen Bo-wei von der TSP nahm einen davon, das ehemalige NPP-Mitglied Freddy Lim als Unabhängiger einen anderen — und dass eine Reihe von DPP-Kandidaten jüngere Kandidat*innen sind, sind die progressiven Kräfte der “pan-Green Koalition” innerhalb des Parlaments weiterhin auf dem Vormarsch. Die Gruppierung “Democracy Frontlin”, bestehend aus aus Unabhängigen, DPP- und TSP-Kandidaten, wird wahrscheinlich auch in dieser Legislaturperiode als parteiübergreifendes Bündnis weiterbestehen, da drei von den fünf Mitgliedern ihren Sitz behalten haben. Der Mangel an NPP-Mitglieder*innen in der “Democracy Frontline” könnte jedoch zu einem heiklen Thema werden.
In der Zwischenzeit könnte der unberechenbarste Faktor im Parlament die TPP von Ko Wen-je sein, die jetzt mit fünf Sitzen die drittgrößte politische Partei Taiwans ist, von denen alle durch die Parteistimme gewonnen wurden. Damit ist die TPP von der Größe her mit der KKW im Jahr 2016 vergleichbar. Die TPP wird in Zukunft unter verstärktem Druck stehen, deutlich zu machen, ob sie eine “pan-Green” oder eine “pan-Blue” Partei ist. Sie behauptet zwar, dass sie sich außerhalb dieser politischen Unterscheidungen bewege, ihre Mitgliedschaft tendiert aber in Richtung des “pan-Blue” Lagers.
Da die TPP eine Partei ist, deren politische Orientierung von ihrem Vorsitzenden Ko Wen-je bestimmt wird, ist ihre Neigung zum “pan-Blue” Lager auch deshalb offensichtlich, weil sich Ko nur “pan-Blue” Schwergewichten wie dem FoxConn-Geschäftsführer Terry Gou und dem ehemaligen KMT-Mehrheitssprecher Wang Jinpyng genähert hat, ohne dass er sich in ähnlicher Weise dem “pan-Green” Lager zugewandt hätte.
Angesichts der zentralen Rolle, die Ko für die Partei spielt, hat sie über Ko hinaus keine tragfähige politische Zukunft, wenn sie nicht in der Lage ist, andere Parteimitglieder*innen zu bekannten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zu machen. Insofern bleibt die Frage offen, ob die TPP dem politischen Lager von “pan-Green” oder “pan-Blue” mehr Stimmen entzogen hat, obwohl die TPP doch hier und da das Zünglein an der Waage darstellte, sodass sie in einigen politischen Rennen das Ergebnis bestimmte.
Es bleibt abzuwarten, wie China auf den Wahlsieg reagieren wird. Abgesehen von der Verurteilung der Wahlsiege von Tsai und der DPP ist es nicht ausgeschlossen, dass China in den kommenden Tagen Maßnahmen ergreifen wird, um Taiwan als Zeichen der Stärke zu bedrohen. Dies ist jedoch unwahrscheinlich, da die erste Phase der bevorstehenden Handelsverhandlungen zwischen den USA und China dadurch gestört werden könnten. Das könnte auch zu einer weiteren Gegenreaktion gegen China in Taiwan führen würde, wo dies doch bereits ein Schlüsselfaktor für die Wahlniederlage der KMT bei den Wahlen war.
Die Zusammensetzung der politischen Kräfte, die in den nächsten Wahlzyklus eintreten, wird mit der Zeit immer deutlicher werden. Die Regierung Tsais wird wahrscheinlich keine plötzlichen Maßnahmen ergreifen, sondern ihr gegenwärtiges, graduiertes politisches Programm fortsetzen, das auf die Erweiterung des internationalen Tätigkeitsbereiches Taiwans abzielt. Wie erfolgreich dies sein wird, ist noch unklar.
Nebenzeile: Brian Hioe ist mitgründender Herausgeber von New Bloom. Er ist freiberuflicher Schriftsteller und schreibt über soziale Bewegungen und Politik. Er ist gelegentlich als Übersetzer tätig. Der gebürtige New Yorker und Taiwanesisch-Amerikaner hat einen MA in ostasiatischen Sprachen und Kulturen von der Columbia University und einen Abschluss der New York University mit Schwerpunkten in Geschichte, Ostasienwissenschaften und englischer Literatur. Von 2017 bis 2018 war er Democracy and Human Rights Service Fellow bei der "Taiwan Foundation for Democracy".
Foto: 蔡英文/Facebook