Politics

Ertuğrul Kürkçü: Öcalans Freiheit ist eine demokratische Notwendigkeit für alle

Zum Jahrestag der Inhaftierung Abdullah Öcalans spricht PI-Ratsmitglied Ertuğrul Kürkçü über die anhaltende Bedeutung der Freilassung von Abdullah Öcalan.
Abdullah Öcalan, kurdischer Politiker und Gründer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), vollendete am 15. Februar sein 23. Jahr in Einzelhaft auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali. Wie PI-Ratsmitglied Ertuğrul Kürkçü erklärt, ist seine Inhaftierung nicht nur eine außergewöhnlich grausame Strafe, sondern auch symbolisch für die Unterdrückung der Rechte der Kurden durch den türkischen Staat.
Abdullah Öcalan, kurdischer Politiker und Gründer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), vollendete am 15. Februar sein 23. Jahr in Einzelhaft auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali. Wie PI-Ratsmitglied Ertuğrul Kürkçü erklärt, ist seine Inhaftierung nicht nur eine außergewöhnlich grausame Strafe, sondern auch symbolisch für die Unterdrückung der Rechte der Kurden durch den türkischen Staat.

Am 15. Februar war “Öclans Freiheit” das Thema an der Spitze lokaler und internationaler Tagesordnungen, sowohl in Kurdistan als auch auf allen Kontinenten, wo auch immer Kurd*innen und ihre Freund*innen leben. 

In seinem 23. Jahr der Inhaftierung auf der Gefängnisinsel Imrali sind die demokratischen und emanzipatorischen Kräfte Kurdistans fest entschlossen, die Mauer der “absoluten Isolation” rund um Abdullah Öcalan einzureißen. Diese wurde 2015 zwischen dem inhaftierten Führer der PKK und dem kurdischen Volk errichtet.

Das sogenannte “Imrali-Regime” – eine Bezeichnung für die Regeln und Praktiken mithilfe derer Öcalan inhaftiert wurde – ist nicht nur eine besondere Form der Inhaftierung, um einen Rebellen zu “bestrafen”. Es handelt sich vielmehr um eine organisierte Vorgehensweise, die gekennzeichnet ist durch ein permanentes Aushebeln des geltenden Rechtssystems, das auf internationalem und nationalem Recht gründet. Damit ist dieses Regime die Verkörperung der Perspektive Ankaras im Umgang mit der Kurdenfrage: Die Errichtung einer ewigen Mauer, um die Volksbewegung von ihre Führung zu trennen; die Ausgrenzung der Kurd*innen von politischen und rechtlicher Grundlagen, die allen anderen “Bürger*innen” in der Türkei gewährt wurden; die Schaffung eines permanenten “Meister und Sklave”-Status zwischen Türk*innen und Kurd*innen; und folglich die Umgestaltung des Kolonialismus und Faschismus, sodass sie in Ankaras undurchsichtiges internationales Bündnissystem passen. 

Die gegenwärtige Mobilisierung der Kurd*innen rund um das "Imrali-Regime" ist also nicht einfach ein Kampf, der nur darauf aus ist, die Insel Imrali als "Strafkolonie" für Öcalan abzuschaffen. Das "Imrali-Regime" hat seit 2015 eine besondere Position inne, die ihre eigenen Grenzen überschreitet und Teil eines neuen "kurdischen Status quo" ist, den die Erdoğan-Diktatur der Türkei und Kurdistan auferlegt hat.

Deshalb wäre es falsch, die zunehmende Reaktion gegen das “Imrali-Regime” rein als Loyalitätsbekundung des engsten Kreises der “PKK-Sympathisant*innen” zu verstehen. Es geht um eine weit verbreitete Unzufriedenheit unter den Kurd*innen in der Türkei. Diese falsche Annahme käme einer groben Nichtachtung des politischen Aufbaus, der Erfahrungen des kurdischen Volkes  und der kollektiven politischen Weisheit gleich, die aus diesem Hintergrund erwachsen ist.

Die Kurden müssen nicht wie die politische Elite der Türkei auf "tiefgründige" anthropologische Analysen zurückgreifen, um zu begreifen, dass der Respekt gegenüber ihrer Leben und Freiheiten unter der türkischen Herrschaft in direktem Verhältnis zum Grad der Zu- oder Abnahme der Kapazitäten ihrer politischen Führung steht.

Die Kurd*innen sind sich der Parallelen zwischen ihrer eigenen Leben und dem des “Imrali-Regimes” durch eigene Erfahrungen bewusst: Die gescheiterten Versuche der Türkei, das “Imrali-Regime” vollständig umzusetzen, standen immer in Relation zu einer Zunahme der kurdischen Kapazität, die Tyrannei auszubalancieren. Das Auf und Ab in der Geschichte des “Imrali-Regimes” ist gleichzeitig eine grafische Darstellung der Entwicklung der politischen Entschlossenheit der Kurd*innen.  

Wann immer sich auf der Insel Imrali ein Fenster öffnet, genießen die Kurden kurzzeitige Erleichterung, und wenn es wieder mit Dunkelheit bedeckt ist, leuchtet Kurdistan heller denn je. Wenn Öcalans direkter Kontakt und Kommunikation mit den Vertretern des kurdischen Volkes unterbrochen wird und diese durch selbsternannte "Boten", "Kuriere", "Akademiker", "Präsidenten" und "Premierminister" ersetzt werden, dann verschwinden Wahrheit, Vernunft und Moral und eine Ära der Lügen, schmutzigen Spiele und Intrigen ist eröffnet…

Deshalb reagieren die Kurd*innen im Allgemeinen auf das "Imrali-Regime" und diese Reaktion ist nicht unbedingt auf die Nähe zu der besonderen politischen Linie beschränkt, die die Bewegung zu diesem Zeitpunkt verfolgt. Es handelt sich vielmehr um eine allgemeine Abneigung gegenüber Faschismus, Diktatur und die abscheulichen Methoden der Tyrannei bei der Behandlung kurdischer Gefangener im Allgemeinen – und Öcalans im Besonderen. Dieser Groll spiegelt die moralische Überlegenheit wider, die die Kurd*innen in den Jahrzehnten ihres Kampfes um Würde erworben haben und die sie niemals mit einer Niederlage enden lassen würden.

Öcalan bewahrt somit seine einzigartige Position auch noch nach 23 Jahren im Gefängnis – meist in Einzelhaft, mit wenig Zugang zu Informationen und Kommunikation, immer unter der strengsten Kontrolle, die jemals einem anderen politischen Gefangenen seiner Art anderswo auferlegt wurde. In diesen 23 Jahren sind viele Politiker*innen der Elite oder des Widerstands, viele Anführer*innen der Linken oder der viergeteilten kurdischen Bewegung gekommen und gegangen, meist ohne jegliche Spur zu hinterlassen. Öcalan ist jedoch nach wie vor eine einzigartige Figur, deren Eingreifen den politischen Lauf der Dinge direkt beeinflussen könnte.

Der Schlüssel zu seinem politischem Erfolg unter diesen Bedingungen liegt darin, dass er sich der Einzigartigkeit des kurdischen Kampfes für die Selbstverwaltung des geteilten Landes und der geteilten Nation durch die vier Staaten der Region bewusst ist. Dabei ist die Türkei der einzige Staat mit den am besten entwickelten politischen, historischen, kulturellen und militärischen Bindungen an das kapitalistische Zentrum.

An der militärischen Front hatte er seine Stützpunkte entlang der Bruchlinien zwischen Ost und West, im Bekaa-Tal, über dem Sinjar- und Qandil-Gebirge errichtet, was ihm einen großen geographischen Vorteil für die Fortsetzung des Aufstands auf seinem eigenen Territorium verschaffte. An der politischen Front stellte er aber fest, dass der Sieg nicht darin lag, ein Stück Kurdistan nach Parteigrenzen zu zerhacken, sondern den Kurd*innen eine wohlhabende und friedliche Existenz in einem multiethnischen und mehrsprachigen Land zu sichern, in dem nur eine Koexistenzpolitik Frieden und Wohlstand garantieren würde.

Dies ist die historische und logische Quelle, aus der Öcalans vielschichtige und multilaterale Politik stammt. Und von diesem Ausgangspunkt aus entwickeln sich die Strategien und Taktiken Öcalans, um eine zivile und populäre Haltung für die Bewegung in Kurdistan, der Türkei, der Region und in Übersee aufrechtzuerhalten.

Es ist also nicht nur eine destruktive, sondern auch eine konstruktive Mission; nicht nur eine Organisation für den Krieg, sondern auch für den Frieden; nicht nur subversive Methoden, sondern offene Politik auf allen Ebenen – von der Basis bis zu den diplomatischen Höhen; eine Bewegung, die sich nicht nur auf die Fähigkeiten der ausgebildeten Kader, sondern auch auf lokale Überlieferungen und Traditionen stützt, nicht nur auf die modernen Lehren des Sozialismus, sondern auch auf die Lebenspraktiken der Stammesgemeinden und so weiter…

Der Wechsel der Taktiken sowie die politischen Ansätze, die er beibehalten konnte, haben Öcalan in den Jahrzehnten, die er im "İmrali-Regime" verbracht hat, eine feste Grundlage für den Aufbau seiner Strategien verschafft und ihm die Position eines politischen Spielmachers außerhalb des Establishments der türkischen und regionalen Politik gesichert.

Durch den eingeschränkten Zugang zur Öffentlichkeit hat Öcalan versucht, jede Gelegenheit zu nutzen, um seine Kader auszubilden und zu führen, damit sie sich an das sich ständig verändernde politische Klima in der postsowjetischen Ära anpassen können und um den bewaffneten Kampf in Nordkurdistan zu limitieren, während er einen tieferen Einfluss in der offenen, demokratischen Politik gewinnt. Er versuchte ebenfalls einzigartige, konkrete, funktionale Strategien für jeden einzelnen der vier Teile Kurdistans zu entwickeln, anstatt dem unmittelbaren Erfolg für "Kurdistan als Ganzes" hinterherzujagen und so demokratische Synergie in das politische Gefüge aller Staaten zu bringen, in denen Kurd*innen regiert werden. 

Ohne Öcalan wäre die Demokratische Volkspartei (HDP)  in der Türkei, die fast 15 Prozent der Wählerstimmen ausmacht und die einzigartige Position des “Königsmachers” innehat, weder von den ehemaligen Kadern des kurdischen politischen Establishments noch von der Mehrheit der türkischen Linken geschätzt worden. Doch dank Öcalans Entschlossenheit und nur dank seiner Entschlossenheit, mit der er die neue Generation kurdischer Politiker*innen zur Gründung einer neuen pluralistischer politischer Partei drängte – pluralistisch nicht nur im Sinne politischer Tendenzen, sondern auch im Sinne der Zusammenführung aller Sektoren der Unterdrückten, d.h. der Sprachen, Kulturen, Geschlechter, Klassen, Glaubensrichtungen –, kam es zu einer beispiellosen "chemischen" Reaktion, die zu einer großen "sanften Macht" gegen Faschismus und Tyrannei führte und zum Nährboden der radikalen Demokratie wurde.

Daher ist die Öffnung eines Kanals durch das "İmrali-Regime" hindurch, das Einreißen der isolierenden Mauern und der Kontakt Öcalans mit den Massen eine "demokratische Notwendigkeit" für alle, die eine Agenda der Rechte und Freiheiten in Kurdistan, der Türkei und in der ganzen Welt verfolgen und voller Erwartung auf die kommenden Veränderungen schauen.

Ertuğrul Kürkçü ist derzeit Ehrenpräsident der Demokratischen Volkspartei (HDP) und Ehrenmitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE). Von 2013 bis 2014 war er stellvertretender Vorsitzender der HDP und für drei Amtsperioden in Folge (2011-2018) ebenfalls Parlamentsabgeordneter. Von 1972-1986 verbrachte er 14 Jahre im Gefängnis, verurteilt wegen seines politischen Aktivismus in der Türkei. Nach seiner Entlassung half er die Partei für Freiheit und Solidarität (ÖDP) zu gründen. Nach deren Zerfall trat er 2011 dem Zusammenschluss “Arbeit, Demokratie und Freiheit” an, der später zur HDP wurde.

Available in
EnglishTurkishGerman
Author
Ertuğrul Kürkçü
Translator
Laura Werner
Date
22.02.2022
Privacy PolicyManage CookiesContribution Settings
Site and identity: Common Knowledge & Robbie Blundell