Labor

Organisierung über die Grenzen hinweg sichert historischen Arbeitskampfsieg in Mexiko

In einem Werk von General Motors in Mexiko haben sich die Arbeiter*innen über nationale Grenzen hinweg zusammengeschlossen, um die Macht des Unternehmens herauszufordern.
Ein Wechsel in der Gewerkschaftsvertretung im GM-Werk in Silao, Mexiko, machte es möglich, deutlich verbesserte Arbeitsbedingungen zu erkämpfen. Dieser Sieg angesichts schmutziger und repressiver Taktiken wurde durch jahrelange unermüdliche Organisierungsarbeit, internationale Solidarität und Änderungen der Arbeitsrechtsreformen der mexikanischen Regierungspartei Morena ermöglicht.
Ein Wechsel in der Gewerkschaftsvertretung im GM-Werk in Silao, Mexiko, machte es möglich, deutlich verbesserte Arbeitsbedingungen zu erkämpfen. Dieser Sieg angesichts schmutziger und repressiver Taktiken wurde durch jahrelange unermüdliche Organisierungsarbeit, internationale Solidarität und Änderungen der Arbeitsrechtsreformen der mexikanischen Regierungspartei Morena ermöglicht.

Seit der Eröffnung des riesigen General Motors-Werks in Silao im Jahr 1996 wurden die Beschäftigten von der 86 Jahre alten Gewerkschaft Confederación de Trabajadores de México (CTM) vertreten. Im Februar dieses Jahres änderte sich dies, als eine Mehrheit der 6400 Arbeiterinnen von GM dafür stimmte, von der Unabhängigen Gewerkschaft der Arbeiter der Automobilindustrie (SINTTIA) vertreten zu werden. Bis dahin waren die Gewerkschaftswahlen in dem Werk im Grunde eine Farce. 

Einige Fachleute gehen davon aus, dass der Grund für den Sieg von SINTTIA in den Bestimmungen des USA-Mexiko-Kanada Abkommens liegt. Diese gewähren den mexikanischen Arbeiter*innen Schutz und dem US-Handelsbeauftragten das Recht, direkt bei einzelnen Unternehmen zu intervenieren, die Rechte der Arbeiter*innen verletzen. Als GM bei der Abstimmung zur Ratifizierung des GM-Vertrags am 20. August 2021 Wahlbetrug beging, kritisierten dies die US-Handelsbeauftragte Katherine Tai und das mexikanische Arbeitsministerium, und der Vertrag wurde abgelehnt. Dies war der Auslöser für die anschließende Wahl im Februar, die genauestens beobachtet wurde.

BEDINGUNGEN BEI GM SILAO

Im GM-Werk Silao wird in zwei 12-Stunden-Schichten gearbeitet. Abgesehen von gelegentlichen Unterbrechungen, wenn Teile nicht verfügbar sind (wie letztes Jahr während eines Mangels an Computerchips), steht die Arbeit nie still. Bezahlte Überstunden gibt es nicht, und die Toiletten sind von einigen Bereichen der Produktionslinie weit entfernt. Die Arbeiter*innen haben nur eine halbe Stunde Mittagspause, und die einzige Kantine innerhalb des riesigen Werks kann 10 Minuten Fußweg vom Fließband entfernt sein. Da das Essen am Band verboten ist, lassen einige Arbeiter*innen das Mittagessen während ihrer Schicht einfach ausfallen.

Die Arbeiter*innen bei GM Silao erhalten umgerechnet zwei US-Dollar pro Stunde für die Produktion der Pickups Chevrolet Silverado und GMC Sierra. Diese sind zu 100 Prozent für den Export bestimmt, wobei der größte Teil in die Vereinigten Staaten geht. Bei diesen Hungerlöhnen können es sich die Arbeiter*innen von GM Silao nicht leisten, ein eigenes Auto zu kaufen. Stattdessen sind sie auf öffentliche Verkehrsmittel oder die Busse des GM-Unternehmens angewiesen, um zur Arbeit zu kommen.

INTERNE ORGANISIERUNG: VON GENERANDO MOVIMIENTO ZU SINTTIA

2018 schloss sich eine kleine Gruppe verärgerter GM-Arbeitenden zusammen und gründete Generando Movimiento (Bewegung schaffen). GM und die Gewerkschaft CTM schlossen sich sofort zusammen, um gegen sie vorzugehen. Ein Beispiel für die Taktik von GM: 2019 wurde  Israel Cervantes, ein Nachtschichtarbeiter und Hauptorganisator von Generando Movimiento, nach 13 Jahren im Betrieb um 22:30 Uhr ins Büro der Geschäftsführung gerufen, des Drogenkonsums beschuldigt und vor Ort getestet. Das positive Ergebnis des Tests war gefälscht. Wenig später wurde Israel fristlos entlassen, und um Mitternacht wurde er zum Eingangstor von GM eskortiert, das direkt auf eine Schnellstraße führt. Zu dieser Stunde hatte er Glück, ein Taxi zu bekommen, und auf der Heimfahrt begann er, einen Aktionsplan zu entwerfen. Zunächst würde er sich mit seinen Genoss*innen von Generando Movimiento in Verbindung setzen, und am nächsten Morgen würde er ein unabhängiges Labor aufsuchen und für einen Drogentest bezahlen. Kaum 12 Stunden nach seiner Entlassung erhielt er das Ergebnis des zweiten Tests. Negativ. Er wusste, dass er dadurch seinen Job nicht zurückbekommen würde, aber Israel hielt es für ein nützliches Beweisstück für seinen laufenden Kampf mit der GM-Leitung.

Mindestens 17 weitere Organisator*innen von Generando Movimiento wurden ebenfalls unter diversen Vorwänden entlassen - unter anderem, weil sie Covid hatten! GM hat sie allerdings nicht wirklich "entlassen"; die Arbeiter*innen wurden gebeten, freiwillige Kündigungen ohne Abfindungen zu akzeptieren. Die meisten waren der Ansicht, dass sie keine andere Wahl hatten. Da sie Familien zu versorgen hatten, mussten sie schnell eine andere Arbeit finden; nur drei fechten ihre Entlassungen an.

Nachdem die GM-Geschäftsleitung und die CTM erfahren hatten, dass Israel eine Klage auf Wiedereinstellung eingereicht und den gefälschten Drogentest angefochten hatte, boten sie ihm die Erstattung seines entgangenen Lohns an, wollten ihn aber nicht wieder einstellen. Israel lehnte das Angebot ab und kämpft nun vor den neuen Arbeitsgerichten, die im Rahmen der Arbeitsreformen der Morena-Partei 2019 eingerichtet wurden, um seine Wiedereinstellung.

Generando Movimiento hatte sich schon mehrere Jahre vor der Verdrängung der CTM organisiert und bereits einige vertrauenswürdige Führungspersonen hervorgebracht. Als SINTTIA gegründet wurde, wurde die GM-Arbeiterin Alejandra Morales Reynoso zur Generalsekretärin gewählt. Nicht wenige Arbeiter*innen waren skeptisch, als sie eine Frau an der Spitze sahen, aber das änderte sich schnell. Alejandra Morales Reynoso, die die meiste Zeit ihrer 12-jährigen Tätigkeit bei GM als Lackiererin gearbeitet hatte, sprach sich häufig gegen die unzähligen Ungerechtigkeiten im Werk aus. Und ihre Kolleginnen und Kollegen sahen in ihr, einer alleinerziehenden Mutter, die in armen Verhältnissen aufgewachsen war, eine von ihnen, die ihre Nöte teilte und sich nicht durch Drohungen der SINTTIA-Gegner einschüchtern ließ.

ARBEITSREFORMEN UNTER MORENA

Sam Pizzigati, ein erfahrener Gewerkschaftsjournalist und Mitherausgeber des Bulletins des Mexico Solidarity Project, hat einen weiteren wichtigen Faktor festgestellt, der zum Sieg von SINTTIA beigetragen hat. Der eiserne Griff der CTM auf die Arbeitsbeziehungen in Mexiko begann zu schwächeln, als die progressive Morena-Partei 2018 an die Macht kam und der politische Schutzherr der CTM, die Partei der Institutionellen Revolution (PRI), besiegt wurde. Es wurden neue Arbeitsgesetze erlassen, und die Durchsetzung bestehender Gesetze begann ernsthaft. Auf dem Papier verankert die mexikanische Verfassung von 1917 den Schutz der Arbeiter*innen, ihr Recht, sich zu organisieren, und das Streikrecht. Doch 70 Jahre lang haben die PRI und die CTM die Arbeiter*innen "wie eine Geige gespielt": mit der "linken" Hand wurde das Instrument sanft in die Hand genommen, mit der "rechten" Hand wurde es heftig gespielt. Unter Morena wurden die Arbeitsbeziehungen föderalisiert und die frühere Struktur abgeschafft, in der die Politiker der Bundesstaaten, die CTM und die Unternehmen das Sagen hatten.

Die Verarmung der mexikanischen Arbeiter*innen ist nicht nur auf die korrupten Gewerkschaften in Mexiko zurückzuführen. Die Vereinigten Staaten spielen seit mehr als einem Jahrhundert eine Rolle bei der Unterentwicklung Mexikos. Schon vor der mexikanischen Revolution von 1917 erhielten US-Unternehmen lukrative Aufträge für den Bau der mexikanischen Eisenbahnen, und 1994 machte das NAFTA-Abkommen mexikanische Kleinunternehmer*innen und Landwirt*innen zu Niedriglohnempfänger*innen oder Migrant*innen.

VERHANDLUNGEN ÜBER EINEN NEUEN VERTRAG

Angesichts der Geschichte der Manipulation in den USA wissen die Führer der Generando-Bewegung um die Bedeutung der Klassensolidarität. Sie brachten ihre Unterstützung für die streikenden UAW-Beschäftigten im Jahr 2019 mit einer Arbeitsniederlegung zum Ausdruck. Ihre Solidarität wurde belohnt, als die internationale Aufmerksamkeit eine wichtige Rolle bei den GM-Gewerkschaftswahlen in Silao spielte und sie darin bestärkte, GM und die CTM unter Druck zu setzen, sodass eine ehrliche Wahl durchgeführt werden konnte. Unterstützungserklärungen und finanzielle Hilfe kamen vom Mexico Solidarity Project, von Labor Notes, der AFL-CIO und der UAW, dem Solidarity Center, einer internationalen Delegation von Gewerkschafter*innen aus Brasilien, der kanadischen Unifor sowie von Mitgliedern des lateinamerikanischen GM-Gewerkschaftsnetzwerks. An den Wahltagen wurde vor dem Werk ein Solidaritätscamp eingerichtet, und internationale Beobachtende sorgten dafür, dass die Wahl nicht gefälscht wurde.

Die Ablehnung des CTM-Vertrags und die Wahl einer neuen unabhängigen Gewerkschaft waren wichtige Schritte auf dem Weg zu einem anständigen Arbeitsvertrag - zum ersten Mal seit der Eröffnung des GM-Werks Silao. Die internationale Unterstützung war in dieser Phase des Arbeitskampfeseindeutig wichtig, da internationale Beobachter*innen die Gewerkschaftswahlen überwachten. Die Arbeiter*innen, die bei GM Silao gewerkschaftlich aktiv sind, haben zwar viel Energie und eine moralische Überlegenheit, verfügen aber nur über wenig Erfahrung oder praktisches Wissen über Tarifverhandlungen, während GM eine berüchtigte gewerkschaftsfeindliche Firma angeheuert hat. Glücklicherweise erhielt SINTTIA Hilfe von Hector de la Cueva von der in Mexiko-Stadt ansässigen Gewerkschaftsorganisation CILAS, dem Solidarity Center des AFL-CIO, der brasilianischen Automobilarbeiter*innengewerkschaft, dem Mexico Solidarity Project und anderen.

Nach diesem langen und mühsamen Prozess erzielten SINTTIA und GM am 10. Mai eine vorläufige Vereinbarung, die einen soliden Sieg darstellt. Sie beinhaltet eine 8,5-prozentige Lohnerhöhung über der Inflationsrate, Dienstalterszulagen, eine 75-prozentige Entlohnung bei vorübergehenden Arbeitsunterbrechungen anstelle der 50 Prozent der CTM-Vereinbarung - und das Recht, die Toilette zu benutzen!

MEXIKOS WAGNER ACT MOMENT

Jeff Hermanson, der Hauptmitarbeiter des Solidarity Center in Mexiko, bezeichnet die Abstimmung als einen historischen Moment für die mexikanische Arbeiter*innenbewegung und betrachtet das mexikanische Arbeitsreformgesetz und den Sieg von SINTTIA als “Mexikos Wagner-Gesetz” und die Erfahrung mit GM Silao als so bedeutend wie den Sitzstreik in Flint 1936/37. Der Sieg von SINTTIA macht Hoffnung;allein in der Autoindustrie gab es bereits eine Reihe neuer Kämpfe: ein abgelehnter Vertrag bei Mazda, ein wilder Streik bei GM San Luis Potosí, Unruhen bei GM Ramos Arizpe in Coahuila und der Sieg der unabhängigen Gewerkschaft SNITIS bei Tridonex in Matamoros.

Mark Masaoka, der im GM-Werk in Van Nuys, Kalifornien, arbeitete, bis es 1992 geschlossen wurde (und wohl vier Jahre später durch das Silao-Werk ersetzt wurde), fasst das Potenzial zusammen: "Die Beseitigung von Scheingewerkschaften in Mexiko wird die Solidaritätsbeziehungen zwischen amerikanischen und mexikanischen Arbeiter*innen verändern. Wenn diese korrupten Gewerkschaften aus dem Weg geräumt sind, haben organisierte Arbeiter*innen die Möglichkeit, sich über nationale Grenzen hinweg zusammenzuschließen und Strategien zu koordinieren, die die Macht der Unternehmen herausfordern. Wir können den Wettlauf nach unten beenden - und gemeinsam aufsteigen!"

Diese kleine Gewerkschaft der Automobilarbeiter*innen in der Hochebene Zentralmexikos hat zweifellos Geschichte geschrieben.

Bruce Hobson ist Co-Redakteur und Übersetzer des wöchentlichen Journals Mexico Solidarity Project. Er lebt in der mexikanischen Stadt Guanajuato, nur 20 Minuten vom GM-Werk Silao entfernt.

Foto: SINTTIA

Available in
EnglishPortuguese (Brazil)German
Author
Bruce Hobson
Translators
Nicole Millow and Tim Steins
Date
18.08.2022
Source
Original article🔗
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