War & Peace

Israels neueste Waffe gegen Palästina sind Ägyptens Schulden

Ist Ägypten bereit, die aus dem Gazastreifen vertriebene palästinensische Bevölkerung gegen den Erlass seiner Auslandsschulden aufzunehmen?
Die ägyptische Wirtschaft befindet sich in einer akuten Krise und ihre Abhängigkeit von Importen nimmt zu. Diese Situation erschwert es dem Land, unabhängig von den Vereinigten Staaten und Europa zu handeln. Israel kann die strategische Partnerschaft mit diesen Staaten ausnutzen und Ägypten unter Druck setzen, vertriebene Palästinenser gegen einen Schuldenerlass aufzunehmen.

Dieser Artikel erwähnt zwar die weltweite Unterstützung Palästinas, einschließlich der Unterstützung Kolumbiens für die algerische Klage gegen Israel vor dem Internationalen Strafgerichtshof, spricht allerdings nicht die Klage Südafrikas gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof an, die letzte Woche in Den Haag verhandelt wurde. Den beim IGH eingereichten Antrag Südafrikas können Sie hier lesen.

Ein durchgesickertes Dokument, das von der israelischen Geheimdienstministerin Gila Gamaliel verfasst wurde, kam Ende Oktober inmitten des verheerenden Krieges in Gaza ans Licht.

Es enthielt den Vorschlag, die Bewohner des Gazastreifens auf den Sinai (Ägypten) umzusiedeln und damit eine Lösung zu finden, "die langfristig zu positiven strategischen Ergebnissen führen wird". Aber wie könnte Ägypten eine solche Lösung akzeptieren, wenn die Mehrheit seiner Bevölkerung offenbar pro-palästinensisch eingestellt ist?

Die Antwort findet sich in der Welt der Makroökonomie: Schulden.

Nach der Enthüllung durch die israelische Zeitung Calcalist und WikiLeaks findet der Vorschlag die Aufmerksamkeit der israelischen und ägyptischen kritischen Presse. Tel Aviv führt offenbar Gespräche mit dem ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi, dass Ägypten Menschen aus dem Gazastreifen aufnimmt und auf dem Sinai ansiedelt – im Gegenzug für den Erlass seiner gesamten Schulden bei der Weltbank.

Dies könnte bedeuten, dass die israelische Regierung die Schulden Ägyptens bei multilateralen Gläubigern (wie der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds usw.) übernimmt oder dass sie (mit Unterstützung der Vereinigten Staaten) verbündete westliche Länder davon überzeugt, die Schulden Ägyptens bei nationalen Institutionen zu erlassen.

Derweil wird über eine mögliche finanzielle Unterstützung für spezifische Maßnahmen verhandelt. Dazu gehört beispielsweise der Vorschlag von US-Außenminister Anthony Blinken, eine Zeltstadt (die später zu Wohngebäuden ausgebaut werden soll) zu finanzieren, den er der ägyptischen Regierung bei seiner Reise in die Region im Oktober unterbreitete.

Die Öffnung Ägyptens für die palästinensische Bevölkerung unter dem Vorwand der humanitären Hilfe verschleiert das eigentliche Ziel der „Krisenlösung" der israelischen Regierung: die ethnische Säuberung und Kolonisierung von Gebieten als Gegenleistung für finanzielle Begünstigungen – in diesem Fall der Schuldenerlass für ein Nachbarland.

Ägypten – ein Land, das an seinen Schulden erstickt

Aus makroökonomischer Sicht könnte der Vorschlag ein Glücksfall für die Regierung von Abdel Fattah al-Sisi sein. Ägypten, ein Land mit 105 Millionen Einwohnern, befindet sich derzeit in einer historischen Schuldenkrise, die vom Westen kaum wahrgenommen wird. Bloomberg Economics stuft Ägypten im Hinblick auf die Gefahr, dass das Land seine Schulden nicht mehr begleichen kann, hinter der Ukraine weltweit auf Platz zwei ein. Zwei der Haupteinnahmequellen Ägyptens, der Tourismus und die Transitgebühren für den Suezkanal, sind zwar gestiegen, reichen aber nicht aus, um die Auslandsschulden des Landes zu tilgen, die sich zum Juni 2023 auf 164,7 Mrd. USD beliefen. Ein Teil dieser Schulden besteht bei lokalen Gläubigern, wie Ägyptens Verbündeten am Golf, den Vereinigten Arabischen Emiraten. Der Rest wird weniger verständnisvollen Gläubigern geschuldet: Bis Ende 2023 muss Ägypten 2,95 Milliarden Dollar an den Internationalen Währungsfonds (IWF) und 1,58 Milliarden Dollar an ausländische Anleiheinhaber zahlen.

Ägypten, das zu den weltweit größten Weizenimporteuren zählt und auch bei anderen Grundnahrungsmitteln und Brennstoffen auf Einfuhren angewiesen ist, hat weiterhin mit den Auswirkungen des Ukraine-Krieges, einer wachsenden Inflation, beispiellosen Preissteigerungen und einem begrenzten Zugang zu erschwinglichen Finanzmitteln zu kämpfen. Infolgedessen ist das Land vollständig von internationalen Krediten des IWF und der reichen Golfstaaten abhängig. Diese Abhängigkeit schränkt die außenpolitischen Optionen Ägyptens ein. Somit ist es schwierig und unwahrscheinlich, dass Ägypten unabhängig von den Vereinigten Staaten agiert, die zusammen mit den europäischen Ländern die Entscheidungsfindung in multilateralen Institutionen wie dem IWF und der Weltbank dominieren.

Es gab Spekulationen, dass die Regierung von Abdel Fattah al-Sisi dem Vorschlag der rechtsextremistischen israelischen Regierung, die palästinensische Bevölkerung im Gegenzug für den Erlass ihrer Schulden zwangsumzusiedeln, nachgeben würde, was ihrer Beliebtheit und al-Sisis Chancen an der Wahlurne noch mehr schaden würde. Dennoch wurde er heute zum Wahlsieger erklärt, obwohl diese „Lösung" im Widerspruch zu der weitgehend pro-palästinensischen Haltung der ägyptischen Bevölkerung steht, die am 18. Oktober in Solidarität mit dem palästinensischen Volk auf die Straße ging und rief: „Keine Vertreibung, keine Umsiedlung, das Land ist das Land Palästina".

Die Opposition und die ägyptische Bevölkerung sind sich sehr wohl bewusst, dass Ägypten ein Verbündeter der Vereinigten Staaten ist und dass die US-amerikanische Unterstützung der autoritären ägyptischen Regierung und ihrer repressiven Maßnahmen weitgehend auf der Existenz Israels beruht. Die USA setzen darauf, dass die ägyptische Regierung als Damm gegen die überwiegend antizionistische Bevölkerung wirkt. Wenn sich die wirtschaftliche Lage des Landes nicht verbessert und Israel die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen weiterhin mit der Brutalität bombardiert, wie sie es in den letzten Wochen getan hat (hierbei wurden Tausende von Kindern und Zivilisten getötet), wird Ägypten möglicherweise keine andere Wahl haben, als im Gegenzug für finanzielle Hilfe und einen teilweisen Schuldenerlass de facto die Umsiedlung von Flüchtlingen auf seinem Staatsgebiet zu akzeptieren.

Schuldenherrschaft – eine (nicht sehr) neue koloniale Taktik

Die Prinzipien, auf denen der Vorschlag der israelischen Regierung beruht – ein Schuldenerlass als Gegenleistung für politische Gefälligkeiten – sind nicht neu. Leider ist dies ein Beispiel für eine Praxis, derer sich die reichen Länder des Globalen Nordens in einer von neokolonialen finanziellen Machtstrukturen geprägten Welt häufig bedienen. Dies bedeutet, dass die armen Länder, die Kredite bei Staaten des Globalen Nordens und bei multilateralen Finanzinstitutionen (wie dem IWF, der Weltbank usw.) aufnehmen, immer noch weitgehend mit den ehemaligen Kolonien identisch sind. Schulden sind also nicht nur ein finanzielles Problem, sondern können auch als Mittel der Unterdrückung und Erpressung eingesetzt werden: Der Gläubiger kann über den Schuldner Macht ausüben und dessen politische Entscheidungen beeinflussen.

Am Beispiel Ägyptens wäre es nicht das erste Mal, dass die Vereinigten Staaten einen Schuldenerlass als Druckmittel einsetzen, um das Land dazu zu bringen, den politischen Forderungen der USA nachzukommen. Im Jahr 1991 schrieben die USA und ihre Verbündeten – reiche Regierungen aus dem Pariser Club – die Hälfte der 20,2 Milliarden Dollar ab, die Ägypten ihnen schuldete. Als Gegenleistung nahm Ägypten als Teil der Anti-Irak-Koalition am zweiten Golfkrieg teil.

Viele soziale Bewegungen (angefangen bei der Jubilee-Bewegung in den 2000er Jahren) haben begonnen, die „Schuldenherrschaft" anzuprangern und zu sagen, dass Schulden ein Mechanismus zur Unterwerfung und zur Verbreitung der neoliberalen Politik sind, die der Umwelt und den Menschenrechten schwer schaden. Als Menschen, die in den reichen westlichen Ländern leben, sollten wir angesichts der Finanzvorschläge, die die ethnische Säuberung und die Kolonisierung der palästinensischen Gebiete durch die rechtsextreme israelische Regierung fördern, nicht schweigen.

Zum Glück nimmt nicht jeder in der internationalen Gemeinschaft das Massaker in Palästina schweigend hin.

Länder wie Bolivien, Kolumbien, Brasilien, Argentinien und Mexiko, Südafrika und Algerien haben die israelischen Angriffe scharf kritisiert. Der bolivianische Präsident Luis Arce hat die diplomatischen Beziehungen zu Netanjahus Regierung abgebrochen und Kolumbien, Chile und Südafrika haben ihre Botschafter aus Israel abberufen. Gleichzeitig verurteilten Argentinien und Mexiko den Angriff auf das Flüchtlingslager Jabalia im Gazastreifen. Darüber hinaus kündigte der kolumbianische Präsident Gustavo Petro am 9. November an, dass Kolumbien die Klage Algeriens vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) gegen Israel unterstützen werde. Auch innerhalb der Europäischen Union gibt es kritische Stimmen. Bei ihrem vor drei Wochen stattgefundenen Besuch am Grenzübergang Rafah zwischen Ägypten und dem Gazastreifen kritisierten der spanische Staatspräsident Pedro Sanchez und der belgische Premierminister Alexander De Croo die Tötung unschuldiger Zivilisten, darunter Tausende von Kindern, durch Israel, was zu einer anhaltenden diplomatischen Krise führte.

Im Nachhinein haben sich auch das Vereinigte Königreich, Deutschland und Frankreich den Forderungen nach einem Waffenstillstand in Israel angeschlossen. Am 12. Dezember verabschiedeten die Vereinten Nationen eine nicht bindende Resolution, in der eine humanitäre Waffenruhe im Gazastreifen gefordert wird. 153 Länder stimmten dafür, 23 enthielten sich und 10 waren dagegen. Die Ukraine, ein Land, das sich im Krieg befindet und gegen die russische Invasion kämpft, enthielt sich der Stimme. Israel und die Vereinigten Staaten gehörten zu den Ländern, die gegen die Waffenruhe stimmten.

Mehr dazu: Nihal El Aasar spricht mit The Internationalist über Ägyptens wirtschaftlichen Abschwung und erläutert, warum wir das palästinensische Volk in den Mittelpunkt stellen müssen, wenn es um den anhaltenden Völkermord geht.

Photo: openDemocracy

Available in
EnglishSpanishPortuguese (Brazil)ArabicFrenchGerman
Authors
Alfons Pérez and Nicola Scherer
Translators
Katrin Suchan, Ruth Wye and ProZ Pro Bono
Date
02.02.2024
Source
openDemocracyOriginal article🔗
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