Briefing

PI-Rundbrief | Nr. 22 | Wie lassen sich die heutigen Zustände überwinden?

Nach sechs Jahren mit steigendem Lebensstandard für den Großteil der mexikanischen Bevölkerung scheint es, dass Sheinbaum und ihre Partei MORENA die Wahlen gewinnen werden und somit die progressive Entwicklung des Landes fortführen.
Im 22. Rundbrief der Progressiven Internationale im Jahr 2024 liefern wir aktuelle Informationen von unseren Delegationen in Südafrika, Mosambik und Mexiko. Wenn Du unseren Rundbrief in deinem Postfach erhalten willst, kannst Du Dich über das Formular unten auf dieser Seite anmelden.

Wir haben tausend gute Gründe, warum wir versuchen, etwas anderes aufzubauen. Das gegenwärtige Weltsystem beraubt viele Menschen ihrer Würde - und in zu vielen Fällen ihrer gesamten Menschlichkeit - um die Taschen einiger weniger zu füllen. Dennoch stellt sich die Frage: Was wollen wir aufbauen?

Es geht nicht um eine mögliche Zukunft selbst, sondern um den Prozess und die Mittel, um sie zu gestalten. Karl Marx verstand den Kommunismus nicht als ein Endstadium und nicht als Ideal, sondern vielmehr als eine “wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt”. Wenn wir die Zukunft erreichen wollen, die wir alle verdienen, müssen wir eine solche “echte Bewegung” aufbauen, die die Kraft hat, den gegenwärtigen Zustand der Dinge zu überwinden.

Die Arbeit am Aufbau und an der Bewegung findet auf vielen Ebenen statt: in der lokalen Community, in der Produktion, in Nationen, in Regionen, international und transnational. Die Sprachen, Kulturen, Praktiken und Maßstäbe der Bewegung sind ebenso zahlreich. Wenn man genau hinsieht, kann man sie überall entdecken.

In den vergangenen zehn Tagen war eine Delegation der Progressiven Internationale in Südafrika und Mosambik vor Ort, um die Wahlen in Südafrika zu beobachten und die Volksbewegungen in beiden Ländern zu treffen, von ihnen zu lernen und ihnen Solidarität entgegenzubringen.

Im südafrikanischen Durban verbrachten wir 48 Stunden mit Abahlali baseMjondolo (AbM), der beeindruckenden sozialistischen Bewegung der Hüttenbewohner*innen, die vor 19 Jahren mit dem selbstorganisierten Widerstand gegen den geplanten Abriss der Siedlung an der Kennedy Road begann. Seitdem ist AbM auf über 100.000 Mitglieder in fünf der neun Provinzen Südafrikas angewachsen. Trotz Schikanen, Gewalt und der Ermordung von Führungspersönlichkeiten hat AbM zahllose Verbesserungen in den Siedlungen erreicht - Zugang zu Strom, Wasser, sanitären Einrichtungen, Straßen und mehr - und zahlreiche Besetzungen durchgesetzt, bei denen Land, Häuser und Würde erobert wurden.

Durch die tägliche Arbeit ihrer lokalen Ableger ist AbM dabei, die Lage der Hütten- und Slumbewohner*innen Südafrikas zu verbessern. Doch die Vision geht noch weiter: Wie der AbM-Vorsitzende S’bu Zikode gegenüber unserer Delegation betonte, ist die Bewegung durch und durch internationalistisch und sieht die Verteidigung ihrer Mitglieder als Teil einer Mission zur “Humanisierung der Welt”.

In Mosambik verbrachte unsere Delegation drei Tage mit dem Nationalen Bauernverband UNAC. Das Land grenzt an Südafrika, einige Sprachen werden auf beiden Seiten dieser Grenze gesprochen und beide Länder werden seit der Unabhängigkeit von ihren jeweiligen nationalen Befreiungsbewegungen geführt, die heute ähnlich strukturierte politische Parteien sind. Doch damit enden die Ähnlichkeiten. Mosambik ist ein mehrheitlich ländlich geprägter Staat, in dem alles Land in öffentlicher Hand ist. Die UNAC ist mit ihren über 200.000 Mitglieds-Haushalten die größte organisierte Kraft in der Gesellschaft des Landes.

Die PI-Delegation konnte sich von der Arbeit der UNAC auf allen Stufen überzeugen: auf Verbands-, Bezirks-, Provinz- und nationaler Ebene. Die Organisation unterstützt ihre Mitglieder bei der Verbesserung ihrer Produktion, u.a. per Solarenergie, Bewässerungstechniken, Saatgutwissen und Schulungen in agrarökologischen Praktiken. Sie organisiert sich auf nationaler Ebene, um progressive Gesetze sowie das Erbe der anfänglich sozialistischen Entwicklungsrichtung des Landes nach der Unabhängigkeit von Portugal für die Bäuerinnen und Bauern Mosambiks in die Realität umzusetzen. Und sie verteidigt ihre Errungenschaften vehement, um die Ausbreitung des zerstörerischen, von der Weltbank unterstützten Agrarmodells mit Monokulturen für den Export zu verhindern. Im Jahr 2020 hat die UNAC das riesige ProSavana-Projekt abgelehnt, das weite Teile des Landes in eine Produktionsstätte für Viehfutter für den Export verwandelt hätte. Ana Paula Tauacale, die Präsidentin von UNAC, erklärte unserer Delegation, die UNAC habe diesen Sieg errungen, weil “wir unsere tief verwurzelte Organisation in Mosambik mit internationaler Solidarität und Kampagnenarbeit - von Brasilien bis Japan - kombiniert haben, um sowohl auf unsere Regierung als auch auf die ausländischen Investoren Druck auszuüben”.

Hier sehen wir die wichtige Rolle organisierter Bewegungen bei der Überwindung der derzeitigen Zustände - aber auch ihre Grenzen. Staatliche Macht, wenn sie im souveränen, demokratischen Interesse der Menschen ausgeübt wird, ist Teil des größeren Prozesses zur Abschaffung unserer heutigen Verhältnisse.

In Südafrika treten die Widersprüche und Probleme dabei deutlich zutage. Heute bildet die Generation der „Freigeborenen“ - also derjenigen, die geboren wurden nach dem Wahlsieg des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC) 1994 unter der Führung von Nelson Mandela, mit dem die formale Herrschaft der weißen Minderheit auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen wurde - die Mehrheit der Südafrikaner*innen. Doch ihr Leben ist immer noch durch das lange Nachleben der Apartheid in Form von anhaltenden und teils extremen rassistischen, wirtschaftlichen und geografischen Ungleichheiten geprägt. Diese sind nach wie vor bestimmende Merkmale innerhalb der südafrikanischen Gesellschaft.

Der Geist von Südafrikas Vergangenheit und die Gegenwart im Kampf zur Veränderung dieser Welt lebt in mächtigen und kämpferischen progressiven Kräften wie Abahlali baseMjondolo (AbM) und der National Union of Metalworkers of South Africa (NUMSA) weiter, die sich oft in Form von Widerstand gegen die Maßnahmen der ANC-Regierung äußern. Auch in der Außenpolitik des Landes zeigte sich in den vergangenen Jahren ein ähnlicher Widerstand.

Das spiegelt sich in der Politik des Landes wider: Südafrika war weltweit führend bei dem Versuch, die monopolistischen Strukturen zu durchbrechen, durch die Impfstoffe gegen COVID-19 teuer und für die Mehrheit der Weltbevölkerung nicht zugänglich waren. Es hat den internationalen Aufschrei gegen das US-Embargo gegen Kuba sowie die Sanktionen des Globalen Nordens gegen sein Nachbarland Simbabwe angeführt. Und heute spricht Südafrika mit seiner Klage gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Verstößen gegen die Völkermordkonvention für die gesamte Menschheit.

Allerdings wurde die Freiheitscharta des ANC in den vergangenen Jahren nicht ausreichend umgesetzt. Das lässt sich nun auch an den Ergebnissen der Parlamentswahlen ablesen, bei denen der ANC zum ersten Mal seine absolute Mehrheit verlor. Die “nur” 40% der Stimmen für die Partei sind ein Zeichen für die Enttäuschung vieler Menschen - aber sicherlich nicht für den Wunsch, mit dem Geist der Freiheitscharta zu brechen. Denn: Keine Oppositionspartei konnte einen ernsthaften Durchbruch erzielen. Die rechtsliberale Democratic Alliance (DA) blieb bei 22% hängen, während die dritt- und viertplatzierten Parteien beide als “ANC-Fraktionen light” bezeichnet werden - die neu gegründete uMkhonto weSizwe Party (MK) des Ex-Präsidenten Jacob Zuma und die Economic Freedom Fighters (EFF) des ehemaligen ANC-Jugendführers Julius Malema erhielten 15% bzw. 10%.

Der ANC hatte gehofft, entweder einen klaren Sieg zu erringen oder ein Bündnis mit kleineren Parteien eingehen zu können, die keine allzu großen Gegenforderungen stellen würden. Die 40% bringen die Partei in eine Zwickmühle: Versucht sie, sich mit Zumas und Malemas Gruppierungen wieder zu vereinigen und damit eine gemeinsame Fraktion innerhalb der eigentlich gespaltenen Partei zu stärken, oder traut sie sich in die Koalition mit der neoliberalen DA? Keine der beiden Optionen dürfte Präsident Cyril Ramaphosa sonderlich gut gefallen.

Während diese PI-Delegation also die Wahlen in Südafrika beobachtete, reiste eine weitere Gruppe nach Mexiko, wo die Gefahr einer Einmischung in die Präsidentschaftswahlen vom vergangenen Sonntag zu wachsen schien. Fast 100 Millionen Mexikaner*innen wählten in den 32 Bundesstaaten des Landes mehr als 1.000 lokale Abgeordnete, 628 Kongressmitglieder, 18.000 Gemeinderäte, neun Gouverneur*innen und ihre neue Präsidentin.

Die mexikanische Verfassung begrenzt die Amtszeit von Präsident*innen auf sechs Jahre. Die Spitzenkandidatin der Partei MORENA des amtierenden Präsident Andrés Manuel López Obrador war Claudia Sheinbaum. Sie ist die frühere Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt, Klimawissenschaftlerin und Feministin. Nach sechs Jahren, in denen der Lebensstandard der großen Mehrheit der mexikanischen Bevölkerung gestiegen ist, zeigen die Hochrechnungen nun, dass Sheinbaum und MORENA die Wahlen gewinnen und somit den progressiven Kurs des Landes beibehalten werden. Diese Ergebnisse werden in der gesamten Hemisphäre und darüber hinaus zu spüren sein. Unter López Obrador ist Mexiko zu einem regionalen Vorreiter in Fragen wie dem Friedensprozess in Kolumbien, dem Embargo gegen Kuba und den Migrationsbewegungen in Zentralamerika geworden.

All diese sozialen, politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Prozesse, die in diesem Rundbrief angesprochen wurden, bergen ihre Widersprüche und Spannungen. Um eine wirkliche Bewegung aufzubauen, die die heutigen Verhältnisse überwinden kann, müssen alle progressiven Kräfte in der Lage sein, zwar vielfältig und divers zu sprechen, aber in Einigkeit zu handeln.

Hier liegt die Aufgabe für die Progressive Internationale. Sie muss über Grenzen, Branchen, Logiken und diverse Ebenen hinweg agieren, Widersprüche und Spannungen aushalten, um den Kampf gegen den gegenwärtigen Zustand zu unterstützen und zu verstärken. Ziel muss es sein, sich zu vereinen und ausreichend Kraft aufzubauen, um die Dinge zu ändern und einen Prozess zur Humanisierung der Welt einzuleiten.

Das Neueste aus der Bewegung

Menschenkette um das Weiße Haus

Das PI-Mitglied Palestinian Youth Movement (PYM) hat dazu aufgerufen, anlässlich der bereits acht Monate anhaltenden genozidalen Aktionen Israels und der USA gegen das palästinensische Volk am 8. Juni das Weiße Haus zu umstellen. Vor einem Monat hatte Präsident Joe Biden erklärt, eine Invasion in Rafah sei für ihn eine rote Linie. Doch nun dauert genau diese Invasion seit Wochen an und hat sich auf den gesamten Gazastreifen ausgeweitet. Bidens rote Linie ist nirgends zu sehen. Anstatt zu seinen Worten zu stehen und die Militärhilfe für Israel zu stoppen, hat der US-Präsident weitere Waffenlieferungen in Milliardenhöhe genehmigt. Diese Waffen werden weiterhin zum Töten von Palästinenser*innen eingesetzt.

Indien erwartet Wahlergebnisse

Die Stimmabgabe bei der größten Wahl der Welt endete am vergangenen Samstag. Die Ergebnisse werden für Dienstag (4. Juni) erwartet. Die PI hat den sechswöchigen Prozess beobachtet, einschließlich der erschreckenden Zunahme antimuslimischer Hate Speech seitens der regierenden BJP und Premierminister Narendra Modi. Wir werden weiterhin über die Ergebnisse und die Angriffe auf Rechte und Freiheiten während des Wahlprozesses berichten.

Die PI startet eine Summer School

Wir leben in turbulenten Zeiten. Der Schwerpunkt der Weltwirtschaft verlagert sich allmählich von West nach Ost, von Nord nach Süd und stellt die jahrhundertelange Dominanz der euro-atlantischen Achse in Frage. Dieser Prozess löst auf der ganzen Welt heftige Erschütterungen aus - von steigender Inflation und der gewaltamen Übernahme von Lieferketten bis hin zu heißen Kriegen und anhaltendem Völkermord.

Wie sind diese großen Umwälzungen zu verstehen und einzuordnen? Was geht in der Weltwirtschaft wirklich vor sich? Und was bedeutet das für Menschen wie uns alle?

Jeden Tag erhalten wir E-Mails von unseren Abonnent*innen, die Antworten auf diese Fragen suchen. Sie sagen uns, dass es nicht ausreicht, durch unsere Feeds zu scrollen und in den Zeitungen zu blättern. Wir brauchen einen Ort, an dem die Menschen lesen, zuhören und Perspektiven austauschen können.

Aus diesem Grund veranstalten wir die erste Summer School der Progressiven Internationale - mit der Grundidee “Über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des globalen Kapitalismus” zu sprechen. Wir laden Dich herzlich ein, Dich jetzt anzumelden.

Kunst: George Mqapheli Bonono, der stellvertretende Vorsitzende von Abahlali baseMjondolo (rechts), und Generalsekretär Thapelo Mohapi leiten die Generalversammlung von AbM mit einem Lied ein. Durban, am 26. Mai 2024.

Available in
EnglishSpanishPortuguese (Brazil)FrenchGerman
Date
03.06.2024
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