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Mileis Reformen des “doppelten Neo-Extraktivismus” bedrohen Argentinien und den Planeten

Argentiniens Schulden wachsen in dem Maße, wie Big-Tech-Unternehmen Daten und Wissen sammeln, sodass der Staat gezwungen ist, die Natur auszubeuten, um die Schulden zu begleichen.
Argentiniens rechtsextremer Präsident Javier Milei verabschiedete das Ley Bases, das Investitionen in die Rohstoffindustrie fördert und Anlass zur Sorge über Umweltzerstörung und wirtschaftliche Abhängigkeit gibt.

Argentiniens rechtsextremer Präsident Javier Milei erzielte am 28. Juni seinen ersten großen Sieg im Amt, als das Unterhaus des Landes die erste seiner wegweisenden regressiven Reformen verabschiedete. Die Verabschiedung des so genannten “Ley Bases” (Grundlagengesetz) durch den Kongress erfolgte Wochen nachdem der Gesetzentwurf eine 13-stündige Debatte im Oberhaus und eine friedliche Demonstration vor dem Parlament, die mit starker Repression der Polizei einherging, ausgelöst hatte.

Das Gesetz ist ein wichtiger Bestandteil von Mileis anarcho-liberalem Regierungsplan und fördert Investitionen in der Rohstoffindustrie, wie Forstwirtschaft, Bauwesen, Bergbau, Energie und Technologie. Es umfasst eine Regelung zur Förderung von Großinvestitionen (RIGI, spanische Abkürzung), die für Investitionsprojekte in der Rohstoffindustrie im Wert von mindestens 200 Millionen $ eine niedrigere Einkommenssteuer vorsieht, ihnen den Import von Anlagekapital gestattet und ihre Exporte nur in den ersten drei Jahren besteuert.

In seiner jetzigen Form ist es unwahrscheinlich, dass RIGI Argentinien die nötigen Geldmittel einbringen wird, um die bereits sehr hohen – und wahrscheinlich noch steigenden – Auslandsschulden zu begleichen. Außerdem wird RIGI wahrscheinlich die Umwelt weiter zerstören und die ökologische Krise noch verschärfen.

Der traditionelle Grundgedanke hinter Gesetzen wie dem Grundlagengesetz ist, dass die Förderung ausländischer Direktinvestitionen zu internen industriellen Übertragungseffekten führt – oft ist eine entsprechende Verpflichtung im Vertrag zwischen dem Unternehmen und dem Staat festgelegt. So könnte beispielsweise ein ausländischer Automobilhersteller, der für die Eröffnung einer Fabrik in einem Land eine Steuererleichterung erhält, verpflichtet werden, Komponenten von lokalen Zulieferern zu beziehen.

RIGI enthält jedoch nur eine begrenzte Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit mindestens 20 Prozent der lokalen Dienstleister und besagt zugleich, dass Unternehmen nicht verpflichtet sind, vor Ort zu kaufen, wenn die lokalen Preise höher als die Marktpreise sind. Abgesehen davon, dass diese beiden Aussagen zu widersprüchlichen Situationen führen können, ist der Anteil so niedrig, dass er bei den nicht handelbaren Gütern leicht mit lokalen Dienstleistern erreicht werden kann. Auch ist er so niedrig, dass eine mögliche dynamische Entwicklung einheimischer Industrieleistung durch lokale Unternehmen unmöglich ist. Mit minimalen Unterschieden ähnelt diese Regelung den willkürlichen Importen während des Currency Board in Argentinien in den 1990er Jahren.

Damals führte das zu Insolvenzen von Unternehmen und steigender Arbeitslosigkeit. Heute besteht die Gefahr, dass prekäre Arbeit weiter zunimmt, insbesondere in der Gig-Economy.

Das heißt, dass die Initiativen bestenfalls zu einem kurzfristigen Zufluss von Devisen und Wachstum führen, was sich mittel- und langfristig nachteilig auf die Entwicklung Argentiniens auswirkt, da die Gelder durch die Einfuhr von Maschinen und ins Ausland gezahlte Dividenden verbraucht werden und das, was von der argentinischen Industrie noch übrig ist, weiter entwendet wird.

Milei hofft, dass RIGI zu einer Welle von Technologieinvestitionen in Argentinien führt. Ungefähr zu der Zeit, als das Grundlagengesetz debattiert wurde, flog er in die USA und traf sich mit den CEOs von Microsoft, Google und OpenAI, um sie davon zu überzeugen, ihre Geschäfte nach Argentinien zu expandieren. Solche Investitionen würden sich jedoch auch nachteilig auf den Planeten auswirken, da das Grundlagengesetz auf einem Modell beruht, das einen “doppelten Neo-Extraktivismus” fördert: Dabei verstärkt der Abbau von immateriellen Gütern (Wissens- und Datamining) den Abbau der Natur.

In Entwicklungsländern mit niedrigem wirtschaftlichen Entwicklungsniveau, in der Regel in Afrika, Asien und Mittel- und Lateinamerika, führen private Unternehmen neue Technologien meist (sehr) spät ein. Das ist auch in Argentinien der Fall, wo Universitäten und andere öffentliche Forschungseinrichtungen gewöhnlich an der globalen Forschungsspitze ihres Fachgebiets stehen – was bedeutet, dass sie von ausländischen Unternehmen wie Big Tech für Wissensmining ins Visier genommen werden.

Ein Beispiel für diese Art von Mining ist die Vergabe akademischer Stipendien von Amazon an Forscher*innen in Argentinien, Peru und Brasilien, bei denen es sich eigentlich um Guthaben handelt, die nur in Amazons Web Services (AWS) – Amazons Cloud – ausgegeben werden können. Solche Guthaben stellen für Cloud-Hegemonen extrem niedrige Zusatzkosten dar, da es sich bei Computerdienstleistungen oft nur um dieselben Codezeilen handelt, die millionenfach verkauft werden. Und für ein Unternehmen von Amazons Größe sind die Kosten für kleine Projekte, die einen winzigen Teil der kolossalen Speicher- und Energieinfrastruktur in Anspruch nehmen, sehr gering.

Vielmehr können diese Initiativen den Tech-Giganten große Vorteile bringen, indem sie ihnen die Möglichkeit geben, erfolgreiche Projekte frühzeitig zu erkennen und dann zu kaufen oder zu kopieren. Aber selbst wenn die Forschungsteams mit AWS-Guthaben ihre Software oder Modelle nicht an Amazon verkaufen, sind sie auf dessen Cloud-Dienste angewiesen, um ihre Forschungsergebnisse nach Ablauf des Guthabens zu erhalten.

Angesichts der strukturellen Unterfinanzierung der öffentlichen Forschung in Entwicklungsländern – die in Argentinien besonders akut ist – kann man es den Wissenschaftler*innen nicht verübeln, dass sie solche privaten Zuschüsse zur Durchführung ihrer Arbeiten beantragen. Dieses Mining verstärkt jedoch die Unterentwicklung, da Projekte immer mehr darauf ausgerichtet werden, ein Cloud-Guthaben zu bekommen und so die Prioritäten von AWS zu erfüllen. Es ist schwer vorstellbar, wie die Geschäftsprioritäten eines riesigen ausländischen Unternehmens mit der Bewältigung lokaler sozialer und ökologischer Probleme in Einklang gebracht werden können.

Big-Tech-Unternehmen betreiben auch Datamining in Entwicklungsländern, in dem sie Daten von Einzelpersonen und Organisationen sammeln, dann zentralisieren und mit ihren KI-Algorithmen verarbeiten. Das ist der Kern ihrer Valorisierungsstrategien. Die Daten, die wir alle jedes Mal produzieren, wenn wir etwas bei Google suchen oder eine Sendung auf Netflix ansehen, werden verwendet, um die zugrunde liegenden KI-Algorithmen dieser Unternehmen zu verbessern, was zu mehr Geschäften und Gewinnen führt.

Mehrere Länder des Globalen Südens liefern solche Daten in unverhältnismäßigen Mengen. Der letztjährige Digital 2023 Global Overview Report, der vom Online-Medienbeobachter Meltwater und der Kreativagentur We Are Social erstellt wurde, ergab, dass 87 Prozent der Argentinier*innen das Internet nutzen. Das ist weniger als die 99 Prozent der Menschen in Irland, Norwegen, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, liegt aber immer noch weit über dem weltweiten Durchschnitt von 64,4 Prozent. Die argentinischen Internetnutzer*innen verbringen auch die vierthöchste Zeit pro Tag online – nach Südafrika, Brasilien und den Philippinen, allesamt Entwicklungsländer – und generieren in dieser Zeit Daten für Big Tech und andere große Technologieunternehmen.

Je mehr Daten und Wissen diese Unternehmen in den Entwicklungsländern sammeln, desto unvermeidlicher scheint der Abbau der Natur. Es werden mehr Auslandsschulden angehäuft, da mehr Dienstleistungen in Dollar von ausländischen Unternehmen gekauft werden, wie Werbung von Google oder Abonnements von Netflix. In einem Land wie Argentinien, das bereits in historischen Auslandsschulden ertrinkt, ist die Regierung dann oft gezwungen, die Natur auszubeuten, indem sie weitere Investitionen in Branchen wie Bergbau und Fracking akzeptiert und gegenüber Unternehmen in diesen Sektoren nachsichtiger ist – als Mittel, um die Schulden zu bezahlen.

Das ist der Hintergrund für die RIGI-Initiative von Milei. Vom Bergbau bis zum Fracking – die Förderung des Naturabbaus treibt den ökologischen Zusammenbruch der Welt voran. Die Auswirkungen sind verheerend, nicht nur im Hinblick auf die Reproduktion der wirtschaftlichen Abhängigkeit, sondern auch auf die globalen ökologischen Folgen, die eine rücksichtslose Aneignung der Natur für die menschliche Gesundheit und die biologische Vielfalt hat.

Dieses Konzept ist eine tickende Zeitbombe für Argentinien, mit wesentlichen ökologischen Auswirkungen auf die ganze Welt. Das Land braucht eine Regierung, die sich der kolossalen Aufgabe einer demokratischen Entwicklungsplanung und des Rückbaus dieses doppelten Neo-Extraktivismus annimmt. Stattdessen gießen Milei und seine Koalition im Kongress Öl ins Feuer, indem sie wichtige Gemeingüter an die großen Rohstoffkonzerne und Big Tech verschenken.

Cecilia Rikap ist Associate Professorin für Wirtschaft, Autorin und Forschungsleiterin am Institut für Innovation und Gemeinwohl des University College London. Sie ist Wissenschaftlerin auf Lebenszeit des argentinischen Nationalen Rates für wissenschaftliche und technologische Forschung und wissenschaftliche Mitarbeiterin am COSTECH-Labor der Université de Technologie de Compiègne, Frankreich.

Available in
EnglishSpanishArabicItalian (Standard)GermanFrenchPortuguese (Brazil)
Author
Cecilia Rikap
Translators
Melissa Puppel, Uta Schulz and ProZ Pro Bono
Date
08.08.2024
Source
Original article🔗
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