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“Boliviens Putsch-Präsidentin wird mit dem Helikopter aus dem Palast fliehen”

Der Gewerkschaftsbund COB führt den Kampf für Demokratie in Bolivien mit einem Generalstreik und Straßenblockaden im ganzen Land an und demonstriert damit die Macht der dahinterstehenden sozialen Bewegung.
Wenn die Putschregierung mit der Aussetzung der Wahlen davonkommt, dann kann sie mit allem davonkommen. Das würde bedeuten, dass sie weiterhin ganz offen Staatsunternehmen ausrauben, Gewerkschafter*innen und indigene Aktivist*innen verfolgen und die demokratischen Rechte mit Füßen treten kann.
Wenn die Putschregierung mit der Aussetzung der Wahlen davonkommt, dann kann sie mit allem davonkommen. Das würde bedeuten, dass sie weiterhin ganz offen Staatsunternehmen ausrauben, Gewerkschafter*innen und indigene Aktivist*innen verfolgen und die demokratischen Rechte mit Füßen treten kann.

Neun Monate nach dem Militärputsch, mit dem der linke Präsident Evo Morales gestürzt wurde, hat Boliviens Putschregierung zum dritten Mal die Wahlen ausgesetzt. Als Reaktion auf den Versuch der amtierenden Präsidentin Jeanine Áñez, die Wahlen zu verzögern, organisierte der bolivianische Gewerkschaftsbund (COB) Märsche im ganzen Land, wobei zur Demonstration in El Alto etwa eine halbe Million Menschen kamen. Der Generalsekretär der COB, Juan Carlos Huarachi, drohte mit einem unbefristeten Generalstreik, falls die Wahlen nicht wie geplant stattfinden würden.

Die Demonstration in El Alto war die größte seit den unmittelbaren Nachwirkungen von Morales' Sturz im November, als Indigene, die gegen den Putsch protestierten, “wie Tiere abgeknallt” wurden. Mindestens siebenunddreißig Menschen wurden getötet. Doch der vom Putschregime ernannte Präsident des Wahlgerichts, Salvador Romero, ignorierte die Proteste, und am Montag (3. August) begann der unbefristete Generalstreik mit Protesten, Aufmärschen und Straßenblockaden, die sich schnell über ganz Bolivien ausbreiteten. Innerhalb von 24 Stunden wurden mehr als 75 Hauptstraßen und Autobahnen in den Provinzen La Paz, Cochabamba, Santa Cruz, Oruro und Potosí ganz oder teilweise von lokalen Gewerkschaftsverbänden und anderen sozialen Bewegungen blockiert.

Die von der COB unterstützten Blockaden wurden von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen weitgehend unterstützt. Zu den Teilnehmenden gehörten die Gewerkschaftsföderation der bolivianischen Minenarbeiter (FSTMB), die Kokabäuer*innen (die sogenannten Sechs Föderationen des Trópico in Cochabamba), die Frauenföderation Bartolina Sisa, der Bauernverband Tupac Katari und der Gewerkschaftsbund der interkulturellen Gemeinschaften Boliviens (CSCIB). Diese Kräfte haben eine Geschichte von Massenmobilisierungen gegen neoliberale Regierungen, wie zum Beispiel im historischen “Gaskrieg” 2003 und die Wasserkriege 2000 in Cochabamba. Nach den ersten Tagen der Blockaden sah sich das Oberste Wahlgericht (TSE) am 6. August gezwungen, mit der Bewegung Gespräche über den endgültigen Termin für die Wahlen aufzunehmen.

In einer angespannten Verhandlungsnacht am 8. August, an der die COB, die TSE und beide Häuser der Plurinationalen Gesetzgebenden Versammlung beteiligt waren, wurde keine Einigung erzielt. Das Wahlgericht weist weiterhin alle Versuche zurück, die Wahl auf das ursprüngliche Datum vom 6. September zu verlegen. Am folgenden Tag endete ein Versuch des Áñez-Regimes, einen nationalen politischen Dialog einzuberufen, mit einer erniedrigenden Niederlage, da nicht nur Morales’ Bewegung für den Sozialismus (Movimiento al Socialismo, MAS), sondern praktisch alle politischen Kräfte das Treffen boykottierten, mit Ausnahme ihres eigenen Bündnisses “Gemeinsam” (Juntos) und zwei kleineren rechten Parteien.

Noch verheißungsvoller scheint es, dass die COB unter Huarachis Führung nun zu ihren historischen Wurzeln des Kampfes für Demokratie und gegen die Militärdiktatur zurückgekehrt ist. Denn während die COB nun entschlossen gegen den Versuch des Putschregimes ist, die Wahlen zu verzögern, war ihre Haltung noch vor ein paar Monaten weitaus weniger robust. Da das Putschregime versucht, eine Niederlage bei den Wahlen zu vermeiden, werden die kommenden Entwicklungen die Macht der sozialen Bewegungen Boliviens auf die Probe stellen—und ihre Bereitschaft, Seite an Seite mit Morales und seinen Verbündeten zu stehen.

Warum COB und FEJUVE Evo nicht verteidigten

Diese Verbindung kann nicht als selbstverständlich angesehen werden. Als Bolivien im Oktober 2019 auf die Präsidentschaftswahlen zusteuerte, schwächelte die Koalition der urbanen Mestizo-Arbeiter*innen und der indigenen sozialen Bewegungen auf dem Land, die lange hinter Morales' Regierung gestanden hatten. Nach vierzehn Jahren in der Regierung war nicht mehr viel von dem revolutionären Geist übrig, der Morales' MAS-Partei ins Amt gebracht hatte. Und obwohl Morales zwar der erste indigene Präsident Boliviens war, nutzte sich dieses Unterscheidungsmerkmal allmählich ab.

Als die Bolivianer*innen am 20. Oktober an die Urnen gingen, um zu entscheiden, ob sie Morales eine weitere Amtszeit gewähren, erhielt er 47 Prozent der Stimmen. Das mag in einem Rennen mit mehreren Kandidaten als haushoher Sieg erscheinen. Allerdings hatte er im Vergleich dazu 2014 mit satten 61,36 Prozent Unterstützung gesiegt. Beim Verfassungsreferendum 2016, das Morales und dem Vizepräsidenten Álvaro García Linera erlaubte, für eine historisch erstmalige vierte Amtszeit zu kandidieren, fiel die Zustimmung der MAS zum ersten Mal seit 2005 unter 50 Prozent—eine entscheidende Niederlage, der einen Dominoeffekt auslöste, der schließlich zum Putsch im November 2019 führen sollte.

Während Morales letztendlich das Recht erhielt, auch bei den Präsidentschaftswahlen 2019 wieder zu kandidieren—dank eines Urteils des Plurinationalen Verfassungsgerichts—investierte die rechte Opposition viel Zeit und Energie in den Aufbau eines falschen Narrativs, wonach Bolivien in einen “Narcostaat” und eine “Diktatur” verwandelt worden sei, da Morales sich weigerte, die Ergebnisse des Referendums zu akzeptieren. Diese Erzählung fand ihren Ausdruck in der extremen Gewalt, die während des Wahlkampfes im vergangenen Oktober von rechtsextremen Gruppen wie der Bewegung 21F, der Jugendwiderstandsgruppe Cochala und der Cruzenianischen Jugendunion verübt wurde, gefolgt von einer Meuterei der Polizei Anfang November und schließlich dem Militärputsch am 10. November.

Dabei mussten die indigenen Hochburgen der MAS die größte Gewalt im Zusammenhang mit den Wahlen im Oktober ertragen. Die zwei größten Massaker ereigneten sich in Sacaba, Cochabamba, gegen die Morales-treuen Kokabauern der Sechs Föderationen des Trópico; und in Senkata, gegen die selbstorganisierten indigenen Aymara-Bewohner von El Alto (FEJUVE).

Angesichts solch intensiver Verfolgung verteidigten weder FEJUVE noch COB Morales’ Regierung entschieden. Mit einer riesigen Medienkampagne der Organisation Amerikanischer Staaten, die von vermeintlichem “Wahlbetrug” und rechten Massendemonstrationen sprach, sowie Militär und Polizei, die Morales zum Rücktritt aufforderten, wurde COB-Führer Huarachi ein Teil der “Befriedungsaktionen”.

Wie viele Gewerkschaftsführerinnen erhielt er ernstzunehmende Morddrohungen; und als Polizei und Militär Morales zum Rücktritt zwangen, war Huarachi offensichtlich der Ansicht, dass Morales dies tatsächlich tun sollte, wenn es denn helfen würde, "das Land zu befrieden". Viele eingefleischte MAS-Anhängerinnen betrachteten dies als Verrat—und der venezolanische Präsident Nicolás Maduro nannte Huarachi einen Verräter.

Doch in den vergangenen Monaten haben diese sozialen Bewegungen wieder an Stärke gewonnen—und ihre Haltung gestärkt. Das ist vor allem der relativen Unsichtbarkeit und Schwäche des Áñez-Regimes während der Coronavirus-Krise und der Forderung nach Gerechtigkeit nach einer Zeit intensiver Repression zu verdanken. Unter der Führung von Basilio Villasante arbeitet die FEJUVE, die Teil des der MAS angegliederten "Paktes der Einheit" ist, mit COB-Gruppen zusammen, mit denen die Regierung von Áñez ihrerseits jegliche Verhandlungen abgelehnt hat.

Mit der Ankündigung des unbefristeten Generalstreiks und der Massenmobilisierungen stellt die COB die Einheit von Kleinbäuer*innen (Campesinos), Bergarbeiter*innen und urbanen Arbeiterinnen wieder her, die im vergangenen November verloren gegangen war. In den letzten Jahrzehnten waren es genau diese Einheit und die permanente Massenmobilisierung, die die Verstaatlichung der natürlichen Ressourcen und vierzehn Jahre MAS-Regierung mit erfolgreicher wirtschaftlicher Entwicklung ermöglichten. Einige Wochen vor Beginn der Märsche [sagte ein Anführer der Bergarbeiterinnen, Orlando Gutiérrez](https://www.pagina12.com.ar/278794-orlando-gutierrez-el-pueblo-esta-activo) von der FSTMB: “Hier geht es nicht mehr um eine politische Partei. Hier geht es um die Würde des Volkes.”

Erinnerung an frühere Kämpfe

In seiner Rede auf der Demonstration in El Alto berief sich Huarachi auf die Kämpfe der jüngeren bolivianischen Geschichte und erinnerte daran, wie er selbst während des Gaskriegs von 2003 marschierte: “Wie können wir diese Kämpfe und diejenigen vergessen, die in diesen Kämpfen ihr Leben gegeben haben,” fragte er und sagte weiter: “Nach vielen Jahren ist das Volk wieder vereint und fordert die Regierung auf, das Wahldatum vom 6. September zu respektieren.”

Bereits einen Tag nach dem Marschreichtedas Putschregime eine Strafanzeige gegen ihn und andere Gewerkschafter*innen wegen “Förderung krimineller Handlungen und Bedrohung der öffentlichen Gesundheit” ein.

Die Bergarbeiter*innen—vertreten durch Huarachis Gewerkschaft, die FSTMB—waren früher die wichtigste Stütze der bolivianischen Arbeiter*innenorganisation, die die Nationale Revolution der 1950er Jahre und den Widerstand gegen Militärdiktaturen und die vom IWF diktierte neoliberale Politik anführte. Ihre Arbeit in den Bergwerken, in einem Land, das stark vom Export von Mineralien abhängig ist, machte sie zum stärksten—und einzigen bewaffneten—Sektor organisierter Arbeiter*innen. Das änderte sich 1985 mit der Schließung der staatseigenen Minen unter Víctor Paz Estenssoro, wodurch die Gewerkschaft geschwächt wurde.

Einige Jahre später verhinderte Morales' Regierung die Schließung weiterer staatseigener Minen und gab privaten Minen Subventionen, um relativ gut bezahlte Arbeitsplätze zu schützen. Das trug dazu bei, dass die FSTMB (und die COB) zu einem engen Verbündeten im "Prozess des Wandels" wurden. Und selbst wenn die FSTMB jetzt etwas von ihrer Macht verloren hat, so wird jetzt ihr Erbe der militanten Gewerkschaftsaktion fortgeführt, unter anderem von ehemaligen Bergarbeiter*innen, und von den Sechs Föderationen des Trópico, den Kokabauern aus Yungas, den Gewerkschaftsverbänden in El Alto und den Organisationen in vielen indigenen Bezirken.

Derartige Organisationen stehen noch immer unter dem ideologischen Einfluss der vorkapitalistischen indigenen Kultur und aber auch in der gewerkschaftlichen Tradition: Angesichts ihrer historischen Rolle im Kampf für Demokratie hat die COB zudem einen großen symbolischen Wert.

Die COB muss also ihre traditionelle Basis unter den Arbeiter*innen und gleichzeitig die unter Morales' Präsidentschaft entstandene einheimische Mittelschicht, darunter eine große Zahl von Studierenden, vertreten. Unter dem Áñez-Regime verlieren Teile dieser neuen indigenen Mittelschicht bereits die sozialen Rechte, die sie sich im vergangenen Jahrzehnt erkämpft hatten, und ihr Lebensstandard wird durch die neoliberale Schock-Politik zerstört.

Die wirtschaftliche Unfähigkeit der Regierung von Áñez, mit der furchtbaren wirtschaftlichen Situation und der Wirtschaftskrise umzugehen, stärkt somit die sozialen Bewegungen und die COB, während der Rassismus der Regierung die Indigenen der Mittelschicht wieder in den Schoß der MAS zurückführt.

Erinnerungen an 2003

Für viele MAS-Anhänger*innen und linke Intellektuelle wie Jorge Richter gibt es deutliche Parallelen zu den turbulenten neoliberalen Zeiten Anfang der 2000er Jahre, die Morales' Aufstieg zur Macht vorbereiteten. Es gibt in der Tat eine Reihe wichtiger Gemeinsamkeiten.

Wie schon 2003 sehen wir lange Schlangen, um Benzin zu kaufen, eine Regierung, die IWF-Kredite beantragt, Massendemonstrationen, Panzer auf den Straßen, die eine unbeliebte Regierung schützen, und den radikale Aymara-Indigenen Felipe Quispe Huanca, der seine Unterstützung für die COB-Blockaden ankündigt.

Quispe war die wohl wichtigste Figur im Kampf für die Rechte indigener Völker in den 1990er und frühen 2000er Jahren. Seine Worte "Ich will nicht, dass meine Tochter Euer Hausmädchen ist" veränderte die bolivianische Politik. Außerdem war er der intellektuelle Kopf hinter dem Gaskrieg von 2003.

Er war nie Mitglied der MAS und gilt seit 2014 als einer der schärfsten indigenen Kritiker*innen der Regierung Morales. Und selbst unter solchen Kritiker*innen ist er mit seiner Haltung zu den aktuellen Protesten kaum allein. Dr. Félix Patzi, indigener Gouverneur von La Paz und ehemaliger MAS-Politiker, sagte bereits voraus, dass Jeanine Áñez so enden wird wie Gonzálo Sánchez de Lozada ("Goni"), der Präsident, der durch die Anti-Privatisierungsproteste von 2003 gestürzt wurde: Sie werde angesichts der bevorstehenden Konflikte “mit einem Hubschrauber aus dem Palast flüchten. Die Menschen sind ihrer überdrüssig und werden sich erheben.”

Anti-MASismus

Doch es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen der Regierung Áñez und der Regierung Goni: Letztere hatte immerhin eine demokratische Wahl (wenn auch knapp) gewonnen; nach seiner Amtsenthebung wurde er durch seinen Vizepräsidenten Carlos Mesa ersetzt. Áñez übernahm das Amt hingegen dank eines militärisch-polizeilichen Putsches im Namen der Demokratie und "Gottes"—unterstützt von der alteingesessenen rassistischen Mittelschicht.

Die überwiegende Mehrheit der bolivianischen Presse hat die von der COB geleiteten Märsche als eine von Morales' eigener MAS-Partei organisierte Revolte dargestellt und damit die Erzählung der Putschregierung unterfüttert, dass die Massenmobilisierungen in erster Linie darauf abzielen, das Land mitten in einer Pandemie zu destabilisieren. Eben diese Presse diffamiert die Demonstrierenden regel- und routinemäßig als "Wilde".

Die wichtigsten Zuschauer*innen und Leser*innen dieser offen rassistischen Medien sind die traditionelle Mittelschicht der Großstädte, und in der abgekapselten, weißen Hochburg Santa Cruz sogar die Arbeiter*innen. Gemeinsam bauen sie einen starken Anti-MAS-Block auf—mit dem Ziel, schlichtweg "jeden" außer einer erneuten MAS-Regierung zu wählen.

Der Journalist Fernando Molina hat eine gute Erklärung für dieses Phänomen ausgearbeitet. Die traditionelle Mittelschicht hat den indigenen Präsidenten Morales nie wirklich akzeptiert. Für sie erodierte die entstehende indigene Mittelschicht das "Bildungskapital" der alten, privilegierten Mittelschicht mit teilweise spanischer Abstammung.

Bei den Protesten gegen Morales ging es somit nicht nur um einen angeblichen "Wahlbetrug". Das war eine euphemistische Ausdrucksweise für die Ablehnung der Macht eines Indigenen, die durch einen Machtblock ersetzt werden sollte, der sich auf "Militär und Polizei, Justiz, Massenmedien, Universitäten und die Organisationen und Institutionen der Mittel- und Oberschicht" stützt.

Doch angesichts ihrer eigenen Korruption und internen Spaltungen sowie des dramatischen Fehlverhaltens des Regimes im Bezug auf die COVID-19 Pandemie hat sich diese Bewegung in den vergangenen Monaten weitgehend selbst demobilisiert. Morales' wichtigster Herausforderer bei den Wahlen im Oktober, der ehemalige Präsident Carlos Mesa, hat es bisher versäumt, genügend weiße und Mestizo-Wähler*innen aus der Mittelschicht hinter seiner Kandidatur zu vereinen.

Wenn endlich demokratische Wahlen stattfinden (sollten), wird er versuchen, von der "nützlichen Stimmabgabe" zu sprechen und sich als einziger Kandidat zu präsentieren, der in der Lage ist, eine demokratische Wahl gegen die MAS zu gewinnen. In der Zeit zwischen dem Putsch im November 2019 und der im März dieses Jahres beginnenden COVID-19-Krise war seine Behauptung wahrscheinlich sogar richtig. Aber mit der Coronavirus-Krise hat sich die gesellschaftliche Realität in Bolivien schlichtweg verändert.

COVID-19 und Wirtschaftskrise

Während der mehr als einhundert Tage dauernden Quarantäne hat es die Regierung nicht geschafft, Atemschutzmasken zu kaufen und die einheimische Bevölkerung ausreichend über die gefährliche Pandemie zu informieren, sondern stattdessen lieber Radiosender der Indigenen geschlossen. So dauerte es nicht lange, bis das Gesundheitssystem zusammenbrach. Seither sterben die Menschen zu Tausenden auf der Straße—in einem Land mit nur elf Millionen Einwohner*innen.

Gleichzeitig hat sich die wirtschaftliche Lage drastisch verschlechtert. In den dreizehn Jahren der Herrschaft der MAS verzeichnete Bolivien regelmäßig das stärkste Wirtschaftswachstum in Lateinamerika. Das geschah unter dem Wirtschaftsminister Luis Arce Catacora, der nun Präsidentschaftskandidat der MAS ist. In etwas mehr als einem Jahrzehnt ging dieextreme Armutum mehr als die Hälfte zurück, von 38,2 Prozent im Jahr 2005 auf 15,2 Prozent im Jahr 2018; auch die moderate Armut sank von 60,6 Prozent im Jahr 2005 auf 34,6 Prozent im Jahr 2018. In diesem Sinne erlebte Bolivien unter Evo Morales und Luis Arce ein goldenes Jahrzehnt.

Am meisten davon profitiert hat die arme indigene Bevölkerung, die in der informellen Wirtschaft arbeitet. Zusätzlich wurde Erdgas verstaatlicht, was Großinvestitionen ermöglichte. Es wurden Sozialleistungen für ältere Menschen, Mütter, Eltern und andere Personengruppen geschaffen. Eine riesige Infrastruktur mit Schulen, Universitäten, Krankenhäusern und öffentlichen Verkehrsmitteln wurde gebaut, einschließlich moderner Projekte wie die städtischen Seilbahnen, die La Paz und El Alto verbinden.

Eine neue Generation indigener Teenager aus der Arbeiter*innenklasse ging zum ersten Mal an die Universitäten. Im vergangenen Jahr verfügte die MAS-Regierung über ausreichende finanzielle Mittel, um mit dem Aufbau eines universellen Gesundheitssystems (SUS) zu beginnen, das die Gesundheitsversorgung zu einem Menschenrecht macht. Sie setzte ihr eigenes "sozial-kommunitaristisches" Wirtschaftsmodell um und machte Bolivien so zu einem wirklich unabhängigen Land.

Dennoch: Mehr als die Hälfte der Arbeitskräfte hängt nach wie vor direkt oder indirekt von der täglichen Arbeit im "informellen Sektor" ab. Nun, nach mehr als hundert Tagen Lockdown und Quarantäne, ohne jegliche Sozialpolitik zur Linderung ihres Leidens, steht dieser Sektor unter starkem Druck. Teile der neuen indigenen Mittelschicht verlieren derweil alles, was sie hatten. Und arme Menschen sind hungrig, trotz Nachbarschaftsinitiativen wie Suppenküchen (olla común) und "Das Volk wird sich selbst retten” (Sólo el pueblo salvará al pueblo). Diese schreckliche Situation bildet die Grundlage für die kommenden sozialen Konflikte.

Entscheidender Test

Angesichts der neuen Provokation durch das Putschregime haben die COB und die sozialen Bewegungen mit den am 3. August im ganzen Land organisierten Blockaden nun den Weg der Massenmobilisierung eingeschlagen. Es bleibt abzuwarten, ob sie stark genug sind, das Wahlgericht tatsächlich zu zwingen, ein grundlegendes Maß an institutioneller Unabhängigkeit zu zeigen und eine demokratische Abstimmung zu bewirken.

Wenn die Putschregierung mit der Aussetzung der Wahlen davonkommt, dann kann sie mit allem davonkommen. Das würde bedeuten, dass sie weiterhin ganz offen Staatsunternehmen ausrauben, Gewerkschafter*innen und indigene Aktivist*innen verfolgen und die demokratischen Rechte mit Füßen treten kann. Wir werden in den kommenden Tagen und Wochen mit weiteren Massakern wie im November 2019 und in den frühen 2000er-Jahren rechnen müssen.

Die Linke muss wachsam und bereit sein, alle derartigen Übergriffe und Verstöße anzuprangern. Bisher hat noch keine einzige westliche Menschenrechtsgruppe oder NGO das Putschregime wegen seiner Übergriffe oder der Massaker, die es begangen hat, ernsthaft verurteilt. Es wird also wirklich am bolivianischen Volk liegen, sich selbst zu retten.

Anton Flaig ist der Koordinator der Wiphala-Bewegung Deutschland. Er studiert Politikwissenschaft und Soziologie.

Denis Rogatyuk ist Journalist für El Ciudadano, sowie Autor für diverse Publikationen, darunter Jacobin, Tribune, Le Vent Se Leve, Senso Comune, GrayZone und andere.

Foto: Noticias al Día

Available in
EnglishPortuguese (Brazil)GermanFrenchSpanishPortuguese (Portugal)
Authors
Anton Flaig and Denis Rogatyuk
Translator
Tim Steins
Date
21.08.2020
Source
Original article🔗
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