Labor

Oleg Wernik: Der Streik der Bergleute in Krywyj Rih

Statement von Oleg Wernik, Vorsitzender des PI-Mitglieds Zakhyst Pratsi, zum anhaltenden Streik von Bergleuten in der Ukraine.
Während ich diese Zeilen schreibe, streiken weiterhin 22 mutige Bergleute unter Tage in der Oktjabrskaja-Mine in Krywyj Rih.

Hunderte ihrer Kamerad*innen aus verschiedenen Minen sind bereits wieder an die Erdoberfläche gekommen. Ihre Forderungen sind nur teilweise erfüllt worden, aber sie bleiben ihrem Kampf verpflichtet. Neue, schwere Kämpfe stehen bevor, gegen das Kapital und für ein menschenwürdiges Leben der ukrainischen Arbeiter*innen. Zum ersten Mal in der Geschichte unseres Staates sind wir Zeugen eines Arbeitskampfes und von Solidarität in einem derartigen Ausmaß.

Am 3. September 2020 kamen die Bergleute des Eisenerz-Bergwerks Krywyj Rih (KZhRK), das gemeinsam von den untereinander im Konflikt stehenden Oligarchen Rinat Achmetow und Igor Kolomojskyj betrieben wird, nicht zurück über Tage. Die Arbeitenden forderten höhere Löhne, die die Unternehmensleitung einige Monate vor den Protesten zu kürzen beschlossen hatte, sowie bessere Arbeitsbedingungen. Ab dem 8. September streikten auch die Bergwerke "Oktjabrskaja", "Rodina", "Ternowskaja" (ehemals "Lenin-Mine") und "Gwardejskaja". Den ganzen September hindurch hielten sich 393 Bergleute aus Protest unter Tage auf, viele davon Frauen.

Dieser Streik der Bergleute ist einzigartig in der modernen Ukraine. Er ist einer der ersten, der die Kämpfe von Bergleuten und Arbeiter*innen in anderen Branchen zusammenführt. Insbesondere die Eisenbahner*innen des Lokomotivdepots in Krywyj Rih unterstützten den Kampf der Bergleute mit ihren Aktionen für "ausschließlichen Dienst nach Vorschrift": Aktivist*innen der Unabhängigen Eisenbahnergewerkschaft identifizierten zwar technische Probleme in Dutzenden von Lokomotiven, weigerten sich aber, diese zu beheben. Am 27. und 28. September konnten daher rund zehn Lokomotiven das Lokomotivdepot in Krywyj Rih nicht verlassen — eine starke Demonstration der Solidarität mit den streikenden Bergleuten der KZhRK. Eisenbahner*innen beteiligten sich auch an Solidaritätsaktionen an Orten weit entfernt von Krywyj Rih, unter anderem in Nikopol und Nischnedniprowskyj Usel.

Der Protest der Bergleute in Krwij Rih wurde durch Änderungen in der Gehaltsstruktur ausgelöst: Die Löhne waren vormals stundenweise bezahlt worden, wobei die gesamte Zeit, die die Bergleute unter Tage verbrachten, berücksichtigt wurde. In letzter Zeit wurden die Löhne jedoch an die Produktion gebunden. Sie sind daher stark gesunken. Die veraltete Ausrüstung in den Bergwerken versagt regelmäßig und die Arbeiter*innen werden nicht mehr für die Reparatur bezahlt. Aber auch die allgemeinen Arbeitsbedingungen spielten eine Rolle: Die Bergleute berichten, dass die Ausrüstung in den Minen seit über 30 Jahren in Gebrauch ist, mit erheblichen negativen Auswirkungen auf ihre Gesundheit und das Arbeitsumfeld. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen starb im April 2020 ein Arbeiter in einem Bergwerk in KZhRK. Ein Gericht räumte später ein, dass dies auf den schlechten technischen Zustand der Ausrüstung zurückzuführen sei. Darüber hinaus gibt das neue Risiko, den Anspruch auf Rente zu verlieren, den Streiks weiteren Auftrieb. Nach Angaben der Bergleute werden mehr als viertausend Beschäftigte keinen Anspruch auf eine Vorzugsrente haben. Die Rentenreform in der Ukraine, die vor einigen Jahren verabschiedet wurde, traf die Bergarbeiter*innen besonders hart: Statt eines möglichen Renteneintritts mit 45 Jahren werden sie mindestens fünf Jahre länger arbeiten müssen.

Viele führende ukrainische Medien haben der Forderung der Streikenden, die Leitung des Eisenerzwerks von Krywyj Rih abzusetzen, besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Ich habe oben bereits geschrieben, dass KZhRK im gemeinsamen Besitz von zwei miteinander konkurrierenden ukrainischen Oligarchen — Kolomoiskyj und Achmetow — ist, die zu gleichen Teilen an dem Unternehmen beteiligt sind. Kolomojskyj übertrug seinen Anteil formell an einen anderen Oligarchen, Jaroslawskyj, aber Experten glauben, dass das Management von KZhRK nach wie vor von Kolomojskyj ernannt wird. Da sie sich auf die Forderung nach einem Wechsel in der Leitung des Bergwerks fokussierten, sind viele Pressevertreter*innen davon ausgegangen, dass die Streiks Teil eines Komplotts von Seiten Achmetows sein könnten. Sein Ziel sei es, die vollständige Kontrolle über das Eisenerzwerk von Krywyj Rih zu erlangen.

Dieses Verschwörungsdenken ignoriert jedoch die Kraft der entstandenen Massenprotestbewegung der Arbeiter*innen. Eine solche Bewegung ist für die ukrainische Oligarchie insgesamt gefährlich. Hier schließt also die herrschende Klasse, die Elite, angesichts einer Massenbewegung der Arbeiter*innen ihre Reihen. Denn: Nur die organisierte Arbeiterschaft kann das ukrainische Modell des oligarchischen Kapitalismus zerstören. Deshalb ist für uns in unserer Analyse nicht dieser Konflikt zwischen zwei ukrainischen Oligarchen von Bedeutung, sondern der Organisationsgrad und die Aktivitäten der demokratischen Arbeiterbewegung, die von unabhängigen Gewerkschaften in der gesamten Ukraine getragen wird.

Krywyj Rih ist der Geburtsort des derzeitigen Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, der bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in seiner Heimatstadt beispiellose Unterstützung von Seiten der Wähler*innen erhielt. Die Bergleute von Krywyj Rih hatten allen Grund, bei ihren Forderungen auf die Unterstützung Selenskyjs zu zählen. Doch sowohl Selenskyj als auch das Präsidentenamt distanzierten sich von den Bergleuten. Und bei Treffen zwischen den streikenden Bergarbeiter*innen und Abgeordneten von Selenskyjs Partei "Diener des Volkes" wurden die Bergleute gebeten, doch lieber ihr Misstrauen gegenüber ihren Gewerkschaftsführern, die den Streik initiiert hatten, zum Ausdruck zu bringen.

Darüber hinaus haben die ukrainischen Behörden keinerlei Schritte unternommen, um die streikenden Bergleute vor Repressionen durch die Verwaltung des Eisenerzwerkes Krywyj Rih zu schützen. Die Verwaltung der KZhRK begann, persönliche Daten der unter Tage streikenden Bergleute in sozialen Netzwerken zu veröffentlichen, und nach Informationen des ukrainischen Abgeordneten Michailo Wolynets wurde in die Wohnung eines der streikenden Bergleute eingebrochen. “Tatsächlich stand der Leiter des Werks sogar Schmiere für die ‘Domuschniki’ (Einbrecher),” berichtet Wolynets.

“Die Arbeitenden, die sich unter Tage befinden, spüren unmenschlichen physischen und moralischen Druck... Aber es ist anzunehmen, dass der Präsident noch stärkerem Druck von Seiten der Oligarchen ausgesetzt ist. Ich denke, dass beide Eigentümer ihn bitten, sich nicht in die Situation einzumischen. Denn das würde schließlich zeigen, dass die Demonstrierenden Recht haben, und die Situation könnte sich erheblich ändern,” erklärt Witali Dudin, Leiter der Rechtsabteilung der ukrainischen unabhängigen Gewerkschaft “Zakhyst Pratsi” (“Arbeitsschutz”).

Die Situation entwickelt sich dynamisch und jeder Tag bringt neue Nachrichten. Aber die Tatsache, dass der Streik der Bergleute von Kryvyj Rih in der ganzen Welt Resonanz gefunden hat, freut und ermutigt uns. Jeder Klassenkampf bietet den ukrainischen Arbeiter*innen unschätzbare Erfahrungen. Die Solidarität der globalen Arbeiterschaft ist kein abstraktes Ideal mehr, sondern eine sehr konkrete Realität für diese Arbeiter*innen in der Ukraine. Sie danken daher ihren Genoss*innen auf der ganzen Welt für ihre beispiellose Unterstützung. Es liegen noch viele Kämpfe für echte Demokratie und Arbeitsrechte vor uns. Diese Kämpfe waren, sind und werden international sein.

Mehr Informationen zum Streik in der Ukraine gibt es beim Syndikat-Partner openDemocracy.

Available in
EnglishRussianGermanSpanishFrenchItalian (Standard)Portuguese (Portugal)
Author
Oleg Vernik
Translator
Tim Steins
Date
06.10.2020
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