Economy

Den Schuldenschnitt wagen

Die Koordinator*innen das Syndikats und des Plans der Progressiven Internationale rufen die Schuldnern der Welt auf, sich gemeinsam gegen die Austeritätspolitik der Weltbank und des IWF zu stellen.
“Wichtig ist nur eines — es wagen zu können,” zitierte die Chefin des Internationalen Währungsfonds Kristalina Georgiewa kürzlich beim Jahrestreffen ihrer Organisation den russischen Schriftsteller Fjodor Dostojewski.

Georgiewas Worte sollten signalisieren, dass der Fonds und sein Schwesterinstitut, die Weltbank, über ihre Austeritäts-Orthodoxie hinausgekommen sind. Dies sei notwendig, um den pandemiebedingten tiefsten wirtschaftlichen Abschwung seit der Großen Depression abzuwenden.

Ein Bruch mit der Vergangenheit ist in der Tat dringend erforderlich. Während viele Länder die schlimmsten gesundheitlichen Auswirkungen des Coronavirus vermeiden konnten, wird der globale Süden dennoch wirtschaftlich leiden. Die UNO schätzt, fast die Hälfte aller Arbeitsplätze in Afrika könnten verloren werden, während Oxfam berechnet, dass die wirtschaftlichen Auswirkungen des Virus eine halbe Milliarde Menschen in die Armut stürzen könnten.

Wenn es dem IWF mit dem wirtschaftlichen und sozialen Wohlergehen der Mehrheit der Weltbevölkerung ernst wäre, würde er jetzt den ärmsten Ländern der Welt für die nächsten vier Jahre die Schuldenzahlungen erlassen, neue Fonds zu Vorzugsbedingungen einrichten und Darlehen an die Länder des globalen Südens ohne marktfundamentalistische Bedingungen vergeben. Dann könnten die jeweiligen Regierungen in die soziale, physische und grüne Infrastruktur investieren, die ihre Bevölkerungen so dringend brauchen.

Stattdessen erzwingt der Fonds weitere verheerende Einschnitte bei den Sozialprogrammen, wodurch der Lebensstandard in einem Land nach dem anderen drastisch sinkt. Oxfam hat dokumentiert, dass 84 Prozenz der IWF-Darlehen, die seit Beginn der Pandemie vergeben wurden, zu Kürzungen der staatlichen Ausgaben anregen oder diese ausdrücklich einfordern. Dadurch wird sowohl die öffentliche Gesundheit als auch die wirtschaftliche Sicherheit gefährdet.

Die politischen Reaktionen der Regierungen, Zentralbanken und des IWF auf die Pandemie vertiefen die drastische globale Ungleichheit. Über 90 Prozent der Ausgaben zur Ankurbelung der Wirtschaft in und nach der Pandemie sind in wohlhabenden Ländern getätigt worden. Gleichzeitig sind 72 der Länder, die gezwungen sind, Kredite beim IWF aufzunehmen, aufgefordert worden, ihre Staatshaushalte bereits im nächsten Jahr zu kürzen.

Die Solidaritätsbekundungen der reichen Länder ist indes ein grausamer PR-Gag: Die G20-Länder einigten sich darauf, lediglich in den kommenden sechs Monaten nicht an die Türen ihrer Schuldner*innen zu klopfen. Ihre Initiative zur Aussetzung des Schuldendienstes (“Debt Service Suspension Initiative”, DSSI) schließt dabei nicht nur private Gläubiger aus; der Gesamtbetrag der bisherigen Schuldenzahlungsaussetzungen ist darüber hinaus lächerlich gering — schätzungsweise fünf Milliarden Dollar, oder ganze 0,7 Prozent der gesamten Auslandsschulden aller DSSI-Länder im Jahr 2019. Um die Dinge ins rechte Licht zu rücken: Der Aufschub für diese Länder summiert sich somit auf weniger als ein Drittel des Budgets der New Yorker U-Bahn im Jahr 2019. Kurz gesagt, die Entscheidung ist gefallen: Das Leben der Menschen im globalen Süden steht nach dem internationalem Privatkapital erst an zweiter Stelle.

Das eigentliche Motto der jüngsten IWF-Treffen war indes etwas, was der IWF bereits Anfang des Monats eingeräumt hatte: “Für die entwickelten Volkswirtschaften geht es darum, das zu tun, was notwendig ist. Ärmere Nationen bemühen sich um das, was ihnen möglich ist.” Die Frage ist: Was ist möglich? Bis zum Sommer konnten die G20-Länder jedenfalls innerhalb weniger Monate Konjunkturpakete in Höhe von über zehn Billionen US-Dollar auf den Weg bringen — also fast das Vierfache des von Expert*innen geschätzten Bedarfs der Entwicklungsländer.

"Eine gescheiterte wirtschaftliche Erholung, oder schlimmer noch, ein weiteres ‘verlorenes Jahrzehnt’ sind nicht unvermeidlich," mahnt die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung. Tatsächlich sei es "eine Frage der politischen Entscheidungen". Entscheidungen allerdings, die unsere internationalen Finanzinstitutionen aktiv für die schwächsten Völker der Welt treffen.

Es gibt Lösungen — die G20-Finanzminister*innen, der IWF und die Weltbank können und müssen dem globalen Süden die Liquidität bieten, die er so dringend braucht. Der IWF kann neue Sonderziehungsrechte (SZR), eine Form von Devisenreserven, praktisch ohne Kosten ausgeben. Der Erlass aller multilateralen Schuldenzahlungen durch die DSSI-Länder von jetzt an bis Dezember 2024 könnte "mit weniger als 9 Prozent der Mittel bezahlt werden, die die reichen Länder und China aus einer Ausgabe von Sonderziehungsrechten erhalten würden". Und letztlich muss ein sofortiger und bedingungsloser Schuldenerlass auf dem Tisch liegen — von allen Kreditgebern, bilateral, privat und multilateral — zumindest für die kommenden vier Jahre.

Ein erneuertes Bekenntnis zu globaler wirtschaftlicher Gerechtigkeit muss jedoch über kurzfristige Erleichterungen hinausgehen: ein dauerhafter globaler Entschuldungsmechanismus; ein Verzicht auf jegliche Bedingungen für Kredite in Form von Austerität, Privatisierung und Deregulierung; eine globale Steuerung zur Bekämpfung von Steuervermeidung, Steuerhinterziehung und illegalen Finanzströmen; ein grüner Technologietransfer von Nord nach Süd; eine Neufassung der Welthandelsregeln; ein massives Programm öffentlicher Nord-Süd-Investitionen; Reparationen für einen fairen, grünen Aufschwung und mehr — kurz gesagt: ein globaler Green New Deal.

Die internationalen Institutionen haben ihre roten Linien bereits deutlich gemacht: Sie wollen weiterhin Austerität, einige wenige Notfallkredit, und stellen sich unmissverständlich gegen die Idee eines Schuldenerlasses für ärmere Länder. Dies sagt uns alles, was wir über die Weltordnung wissen müssen, die sie aufrechterhalten wollen.

Doch die Opfer dieser Ordnung, nämlich die überwältigende Mehrheit der Welt, sind nicht ohne Macht. Wie Phil Mader uns erinnert: “Wenn Kreditnehmer und Bürger*innen zu aufsässigen Schuldnern und radikalen Aktivist*innen werden, die wirtschaftliche Ungerechtigkeiten in Frage stellen, können sie die moralischen und wirtschaftlichen Grundlagen des globalen Finanzsystems erschüttern.” Vielleicht ist es an der Zeit, den Aufruf von IWF-Direktorin Georgiewa aufzugreifen und “es zu wagen, unsere gewaltigste Herausforderung gemeinsam anzugehen” — nämlich, die Schuldner dieser Welt zu vereinen und gemeinsam bei den Schuldenzahlungen säumig zu werden.

Available in
EnglishItalian (Standard)GermanSpanishFrenchHindi
Authors
Varsha Gandikota-Nellutla and Michael Galant
Translator
Tim Steins
Date
21.10.2020
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