Migration

Der Coronavirus-Notstand unter migrantischen Arbeiter*innen in der italienischen Landwirtschaft

Migrantische Arbeiter*innen im Süden Italiens sind in überfüllten Camps gefangen — sie sind dem Virus ausgesetzt, können nicht arbeiten und haben daher kein Einkommen.
Der Winter steht vor der Tür und die Arbeiter*innen brauchen dringend Einkommens- und Gesundheitsunterstützung.
Der Winter steht vor der Tür und die Arbeiter*innen brauchen dringend Einkommens- und Gesundheitsunterstützung.

"Wir wurden ohne Informationen über die Verbreitung von Covid im Stich gelassen. Letzte Woche teilten sie uns mit, dass einige Menschen in den Migrant*innencamps positiv getestet wurden, aber sie sagten uns nicht, wer, und sie trennten sie auch nicht von den anderen. Jetzt sagen sie, dass die positiven Fälle möglicherweise zugenommen haben". Das erzählt Mor Dembélé, ein Arbeiter von der Elfenbeinküste, der seit Jahren im Migrantenlager San Ferdinando in der Provinz Reggio Calabria lebt und von einer potenziell explosiven Situation spricht, nachdem ein regionaler Regierungsbeschluss eines der berüchtigsten Ghettos in Italien zur roten Zone erklärt hatte.

In der Nacht vom 16. auf den 17. Oktober kam es zu Protesten der Bewohner*innen des Migrant*innencamps, in dem rund 250 Menschen untergebracht sind. Sie lehnten die Entscheidung der Regionalbehörden ab, das Gebiet nach der Entdeckung von vierzehn positiven Fällen aus dreißig Abstrichen zu schließen. "Wir konnten sechs Monate lang nicht arbeiten, und jetzt wird uns gesagt, dass wir nicht in das Migrantenlager ein- und ausgehen dürfen, was eine weitere Arbeitsniederlegung zu einer Zeit bedeutet, in der die Ernte beginnt. In der Zwischenzeit haben sie uns weder Masken noch Informationen gegeben und sie haben uns daran gehindert, Treffen abzuhalten: Es ist eine wirklich schwierige Situation, sowohl aus gesundheitlicher als auch aus wirtschaftlicher Sicht", fährt Dembélé fort, der seit 2011 in Italien lebt.

Ohne Einkommen

Dembélé fügt hinzu, dass die Migranten*innen im Camp zu Beginn der Zitrusfrüchte-Erntezeit Angst hatten, sich sowohl mit dem Virus anzustecken als auch ihre Arbeit zu verlieren. "Die Unternehmen in der Gegend geben den Afrikanern*innen keine Arbeit, weil sich herumgesprochen hat, dass wir das Virus in uns tragen", so Dembélé. Der Vizepräsident der Regionalregierung von Kalabrien, Nino Spirlì, der nach dem Tod des Gouverneurs Jole Santelli Regierungschef wurde, erklärte am 17. Oktober das Migrantenlager von San Ferdinando zur roten Zone.

Die Regionalregierung ist alarmiert über die sanitären Zustände in der Gegend. Die Bedingungen haben zu einer 50% positiven Inzidenz unter den dreißig getesteten Personen aus einer Bevölkerung von mehr als zweihundert Menschen geführt. Am 13. Oktober hatte die Region auch die Container, die in der Industriezone von Rosarno als Wohnraum genutzt werden, zur roten Zone erklärt, wodurch die Beschränkungen bis zum 26. Oktober verlängert wurden. Zwanzig Personen wurden im Lager positiv getestet und anschließend in Zelten isoliert, die in einem an das Camp angrenzenden Gebiet aufgestellt worden waren. Die rote Zone im Migrantenlager sollte bis zum 27. Oktober in Kraft bleiben. "Wir haben sechs Zelte aufgestellt, um die Positiven zu isolieren", sagt Fabio Costa, der für das Camp in San Ferdinando verantwortlich ist. "Aber die Toiletten werden weiterhin gemeinsam genutzt, und wir können keine wirkliche Abschottung bieten", betont er. Obwohl die Ruhe wieder hergestellt zu sein scheint, verweigerten die Arbeiter*innen tagelang die von der Caritas verteilten Lebensmittel und baten darum, raus zu gehen und auf den Feldern zu arbeiten.

"Aus sozialer Sicht hat die Einführung der roten Zone dazu geführt, dass die Arbeiter*innen mittellos sind, da sie keinen Vertrag und keinerlei Anspruch auf Unterstützung oder Schutz haben", erklärt Ilaria Zambelli, Mitarbeiterin bei Doctors for Human Rights (MEDU). Bereits im Juli veröffentlichte die NGO den Bericht "La pandemia di Rosarno" (Die Pandemie von Rosarno), in dem Daten und Zeugenaussagen über die kritischen Bedingungen der Landarbeiter*innen während der Epidemie gesammelt wurden. Er prangerte die Ausbeutung an, der sie ausgesetzt sind, sowie das Fehlen von Quarantäneeinrichtungen und eines allgemeinen Pandemieplans. "Im Migrantenlager sind keine Strukturen eingerichtet worden, um die in Zelten lebenden Infizierten zu isolieren. Der Winter steht vor der Tür, was eine mögliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes aufgrund der drohenden Kälte und der niedrigen Temperaturen der letzten Tage bedeutet", fährt die MEDU-Expertin fort.

"Die Toiletten werden gemeinsam genutzt. Diejenigen, die positiv getestet wurden, müssen sofort an geeignete Quarantäneorte gebracht werden", fordert Zambelli. Nach Schätzungen des Placido Rizzotto Observatory werden in Italien jedes Jahr zwischen 400.000 und 430.000 Landarbeiter*innen unregelmäßig von Bandenchefs beschäftigt, die ihre täglichen Arbeitsaktivitäten kontrollieren. Davon sind mehr als 132.000 unter Bedingungen großer sozialer Verwundbarkeit und gravierender Unterbeschäftigung eingestellt, so sehr, dass sie schweren Krankheiten und dem täglichen Risiko ausgesetzt sind, durch Arbeitsunfälle ihr Leben zu verlieren, wie z.B. in der pontinischen Region Latium und in Kalabrien beobachtet wurde.

Laut dem Forscher Marco Omizzolo "ist fast jede*r zweite Landarbeiter*in während der Pandemie unregelmäßig angestellt worden". Normalerweise geben mehr als 300.000 Landarbeiter*innen, d.h. fast 30% der Gesamtzahl, offiziell an, weniger als fünfzig Tage im Jahr zu arbeiten, obwohl sie in Wirklichkeit dreimal so viele arbeiten. Während der Pandemie verzeichneten die landwirtschaftlichen Betriebe einen Rückgang der Zahl der Arbeitstage um 20%, obwohl dies mit einem nicht erfassten Anstieg der täglichen Arbeitsstunden und Arbeitsintensität einherging.

Nach Ansicht des stellvertretenden Bürgermeisters von San Ferdinando, Gianluca Gaetano, ist die explosive Situation in der Region das Ergebnis einer jahrelangen schlechten Politik, die keines der Probleme gelöst hat, zu denen jetzt noch eine Gesundheitskrise hinzu kommt. "Wir versuchen, mit allen Organisationen zusammenzuarbeiten, die uns in den letzten Jahren vor Ort geholfen haben, aber wir sind auch frustriert über das Fehlen eines regionalen Plans zur Bewältigung der Situation. Wir können die Arbeiter*innen nicht einfach nur unter Zwang setzen, wir müssen sie kurzfristig unterstützen, und langfristig muss eine Alternative zum Migrant*innenlager gefunden werden". Das neue Migrant*innencamp, bestehend aus 64 Zelten, wurde nach der Räumung der Barackensiedlung im März 2019 auf Befehl des ehemaligen Innenministers Matteo Salvini errichtet. Zu den 266 Personen, die im Lager untergebracht sind, kommen schätzungsweise 1.500 Arbeiter*innen hinzu, die in verlassenen Bauernhäusern in der Umgebung leben.

Laut Gaetano ist ein kurzfristiger Plan mit Einkommenshilfen erforderlich, ebenso ein mittelfristiger Plan mit einem Fonds für Miete und Unterkünfte oder Gästehäuser für die Landarbeiter*innen: "Im Moment hat der Tod von Gouverneur Santelli ein Machtvakuum in der Region geschaffen, und darüber hinaus verursacht der Mythos des Virus-verbreitenden Migrant*innen Angst und nährt die Spannungen in der Region". Am 20. Oktober richtete der Bürgermeister von San Ferdinando ein Schreiben an den lokalen Präfekten und die regionalen Behörden mit der Bitte um ein Treffen. Seine Vorschläge beinhalteten "das Einfrieren der Zahl der Migranten*innen mit Bleiberecht im Lager; die Abschiebung von Unbefugten oder Personen ohne Bleiberecht sowie von Migrant*innen, die für Schäden und öffentliche Unruhen verantwortlich sind; den endgültigen Abriss unnötiger Zelte, insbesondere solcher, die schwer beschädigt sind; die Ergreifung aller notwendigen Maßnahmen, um diese Schritte im gesamten Territorium unter Verwendung der vom Regionalrat Gallo garantierten finanziellen Mittel zu ermöglichen".

Der fehlende Zugang zur Sozialhilfe für die Arbeiter*innen, die in vielen Fällen keine Arbeitsverträge haben, hat die soziale Situation nach Ansicht der MEDU-Betreiber*innen weiter verschärft. "Die jüngste Amnestie hat sich auch im Agrarsektor als völlig wirkungslos erwiesen, und insbesondere im Gioia Tauro Flachland hat sie nicht zu besseren Bedingungen für die Arbeiter*innen geführt", so MEDU weiter. Nach Angaben der Organisation war es vorhersehbar, dass zu Beginn der Zitrusfrüchte-Erntezeit die Ankunft von Saisonarbeitern*innen aus anderen italienischen Regionen zu einer Zunahme der Fälle führen könnte: "Aber die Behörden haben kein spezielles Protokoll aufgestellt".

Laut Ilaria Zambelli von MEDU besteht jetzt die Gefahr, dass sich Arbeiter*innen, die befürchten, noch mehr Arbeitstage zu verlieren, in den kommenden Monaten nicht einmal an die Gesundheitsbehörden wenden, wenn sie Covid-19 Symptome haben, somit noch unsichtbarer werden und zur Ausbreitung der Krankheit beitragen. Nach Ansicht von Francesco Piobbichi von Mediterranean Hope ist dies "eine schlummernde Katastrophe, die hätte vermieden werden müssen". Die Situation sei jetzt noch kritischer, weil die Arbeiter*innen, die illegal oder semi-illegal arbeiten, kein Einkommen haben und die derzeitige Spannung nicht zur Lösung des Gesundheitsproblems beiträgt, so der Aktivist: "Sie wollen um jeden Preis zur Arbeit gehen und akzeptieren keine Quarantäne. Um den Dialog mit ihnen wieder aufzunehmen, sollte eine Form des Einkommens für diejenigen in Quarantäne erwogen werden. Und dies gilt nicht nur für die Arbeiter*innen im Flachland von Gioia Tauro, sondern für alle wesentlichen Arbeiter*innen, die, wenn sie eingesperrt werden sowie Gefahr laufen, ohne Lebensunterhalt stehengelassen zu werden".

Foto: Rocco Rorandelli / MEDU

Available in
EnglishItalian (Standard)SpanishPortuguese (Brazil)FrenchGermanHindiPortuguese (Portugal)
Translators
Vanessa Jae and Tim Steins
Date
08.12.2020
Source
Original article🔗
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