Women's Rights

Indigene Aktivist*innen besetzen Mexiko-Stadt

Tessy Schlosser von der Progressiven Internationale interviewt Maricela Mejía, eine Feministin und indigene Aktivistin, die das Dritte Nationale Treffen der Frauen des Nationalen Indigenen Kongresses mitorganisiert hat.
„Ich weiß, was ich will, ich weiß wofür ich kämpfe, und ich fordere was mir zusteht.“ Maricela Mejía verbindet die gemeinsamen Kämpfe für die Befreiung von Frauen und Indigenen in Mexiko. Sie ruft dazu auf, sich zu organisieren.
„Ich weiß, was ich will, ich weiß wofür ich kämpfe, und ich fordere was mir zusteht.“ Maricela Mejía verbindet die gemeinsamen Kämpfe für die Befreiung von Frauen und Indigenen in Mexiko. Sie ruft dazu auf, sich zu organisieren.

Ein Interview mit Maricela Mejía.

Guten Tag, Compañera. Danke, dass du uns in deinem Haus zum Dritten Nationalen Treffen der Frauen des Nationalen Indigenen Kongresses ampfängst.

Der gewählte Veranstaltungsort für das diesjährige Treffen war die „Toma del INPI“, das besetzte Nationale Institut der Indigenen Völker hier in Mexiko-Stadt. Was stand hinter der Entscheidung, die Räumlichkeiten zu übernehmen?

Am 12. Oktober, als das Institut übernommen wurde, war wieder einmal der „Tag der indigenen Völker“. 528 Jahre Verachtung, Enteignung und Amnesie, die nicht nur in meiner Gemeinschaft, den Otomí, sondern in allen indigenen Gemeinschaften durchlebt wurden.

Es gibt nichts, was wir feiern könnten. Während die von oben feiern, dass es unsere Gemeinschaften und Völker gibt, sagen sie uns, dass wir eine rebellische Gruppe sind, dass wir nicht verstehen, dass wir nicht wissen, was wir wollen. Seit wir hier angekommen sind und diese Einrichtung betreten haben, haben wir gezeigt, dass wir sehr wohl verstehen; wir wissen, was wir wollen, und wir wissen, was wir suchen. Aus diesem Grund besetzen wir jetzt einen Raum, den sie als die Heimat aller Völker bezeichnen. „Wenn er wirklich die Heimat aller Völker ist“, sagten wir, „machen wir ihn zu unserem Heim.“

Diese Gemeinschaft kam zusammen, engagierte sich und nahm die Aufgabe auf sich, diese Einrichtungen zu ihrem Zuhause zu machen. Es war eine friedliche Übernahme – es war nicht gewaltsam. Es wurde auf die beste Art und Weise gemacht. Wir betraten das Gebäude um 10 Uhr morgens an jenem Tag und nur sehr wenige Leute waren bei der Arbeit. Wir sagten ihnen, dass es sich um eine Übernahme handelte und ob sie bitte hinausgehen würden. Die Regierungsbeamt*innen verstanden nicht, was vor sich ging. „Was soll das heißen, eine Übernahme?“, fragten sie. „Wir sind gekommen, um zurückzuerobern, was uns gehört – was uns schon seit langem gehört hat.“

Als wir diesen Raum betraten, sahen wir, wie die indigenen Gemeinschaften als Dekorationsstücke an den Wänden hingen. Wir sahen die Ungerechtigkeit und die vorgetäuschte Fürsorge, die von diesem Gebäude aus ausgeübt wurde – den Verrat an den Völkern. Ich, als Gemeinschaft; ich, als Volk; ich, als Frau sage: es ist nicht gerecht an mir, dass diese schlechte Regierung hingeht und mit Lügen zu euch spricht.

In meiner Gemeinschaft haben sie gesagt: „Wir werden einen Touristenplatz bauen“. Aber sie haben nie darüber gesprochen, wie sich das auf uns auswirken würde oder was sie von meiner Stadt wollen. Sie haben uns nicht gefragt, ob wir ihn wollten oder nicht – sie gingen hin und bauten ihn. Nun, wenn sie uns konsultiert und gefragt hätten, dann hätten wir gesagt, was die Leute wirklich brauchen. Ich sage: „Was ist so schön an einem Touristenplatz, wenn alles drum herum voller Armut und Ausgrenzung ist?“

Was braucht die Gemeinschaft und wie versucht ihr, es zu erreichen?

Wir brauchen anständige Wohnungen, Gesundheit, Bildung, Raum zum Arbeiten, Essen, Demokratie und Freiheit…

In unserer Gemeinschaft haben wir zum Beispiel keine 24-Stunden-Klinik. Die Menschen in der Stadt sterben. Wenn möglich, gehen wir in die nahegelegenen Städte, Querétaro oder San Juan del Río. Und wenn es nicht möglich ist, stirbst du auf dem Weg. Seit vielen Jahren fordern wir von der Regierung Gesundheitsvorsorge.

Wir wollen auch Bildung für unsere Kinder, aber in der Gemeinschaft gibt es diese Möglichkeit nicht. Es ist sehr schwierig. Der Staat macht es uns sehr schwer. Deshalb beschließen wir, in die Stadt zu ziehen.

Aber du kommst in der Stadt an und bist mit einer anderen Lebensweise konfrontiert, in der du keinen Platz hast. Du kommst an und wirst ausgeschlossen, weil du eine andere Sprache sprichst, weil du eine bestimmte Kleidung trägst. Die Gesellschaft fragt dich: „Warum sprichst du so?“ oder sie sagen dir, dass du nicht wirklich aus einer indigenen Gemeinschaft stammst – vielleicht bist du ein Hochstapler. Es tut weh, dass die Gesellschaft selbst dir das sagt – die Verachtung kommt nicht nur von der Regierung. Das ist ein Teil unseres Kampfes, jeden Tag.

Oft sind wir gezwungen zu sagen: Lasst uns auf die Straße gehen, weil sie das Wasser privatisieren“, Lasst uns auf die Straße gehen, weil sie unser Wasser verschmutzen.“ Wasser ist begrenzt und bemessen für uns, die wir uns darum sorgen. Wir haben kein Recht auf Wasser, während die Wasserverschmutzer es verkaufen und verschwenden, den Luxus haben, einen Garten zu bewässern und ein Auto zu waschen.

Wenn wir den Leuten sagen „organisiert euch“, so tun wir das nicht leichtfertig. Wenn wir den Leuten sagen, „organisiert euch“, dann deshalb, weil es notwendig ist. Die Kraft zum Organisieren brauchen wir zum Überleben.

Nach fünf Monaten hier leisten wir weiterhin Widerstand. Die Regierung setzt auf Zermürbung – darauf, dass uns die Ressourcen ausgehen und wir am Hunger sterben. Wir sind Kunsthandwerker. Wir wollen nicht die Hand ausstrecken; unsere Hände sind es, die uns ernähren.

Welchen Herausforderungen sind euch allen bei der Organisation der Frauentreffen begegnet?

Unsere Gemeinschaft hatte Schwierigkeiten, als die Frauen begannen, sich zu organisieren. Es war nicht leicht für unsere Compañeros, zu kapieren, dass die Compañeras auch rausgehen müssen um zu kämpfen, sich zu organisieren und ihre Stimme zu erheben. Und die Compañeras waren es nicht gewohnt, zu sprechen. Sie sagten zu mir: „Du sprichst für uns.“ Und ich sagte: „Ich werde nicht für euch sprechen.“ Sie sagten: „Nein, was immer wir zu sagen haben, sag’ du es.“ Ich musste entschieden sagen: „Nein, ihr drückt euch anders aus als ich. Ihr müsst für euch selbst sprechen.“ Ihnen zu helfen, dieses Selbstvertrauen zu bekommen, war sehr wichtig für mich.

Als die Compañeras Selbstvertrauen gewannen, begannen sie auch, mehr über ihre Erfahrungen zu sprechen. Sie sagten: „Ich bin misshandelt worden“ oder „Mein Partner bestimmt, ob ich teilnehmen kann oder nicht.“ Ich frage sie dann: „Aber warum? Ihr müsst mit dem Compañero sprechen. Was hat er über den Kampf verstanden? Was davon muss er noch verstehen?“ Es war eine Menge Arbeit.

Das ist das Dritte Treffen der Frauen. Die Compañeros machen Tortillas. Sie kochen das Essen. Sie sind auch sehr zufrieden damit. Sie sagen: „Die Compañeras sind in ihrem Treffen, sie sind in ihrer Plenarsitzung und wir müssen ihnen ihr Essen kochen, ihre Tortillas machen und das Geschirr abwaschen.“ Die Compañeros haben es verstanden. Es mag dauern, aber es funktioniert. Es erfordert viel Gewissensarbeit, zu sagen: „Ja, wir müssen einander unterstützen, weil der Kampf uns beiden gehört.“ Das ist der Weg, den man gehen muss.

Zu Beginn des Treffens unterhielten wir uns mit indigenen Frauen aus anderen Regionen, vor allem aus Bolivien und Guatemala. Die Compañeras aus Bolivien luden uns ein, über die Verbindung zwischen Frauen und Leben nachzudenken, insbesondere über die Themen Frauenmorde, Landverbundenheit und Pflege. Kannst du uns ein wenig darüber erzählen, wie du diesen Zusammenhang siehst?

Wenn man jetzt zum Beispiel Covid bekommt und kein Geld für Sauerstoff hat, dann hat man kein Recht auf Gesundheit. In den Gemeinschaften hat diese Situation unsere Verbindung zum Land gestärkt. Die Natur selbst sagt dir: „Zerstöre mich nicht, denn du brauchst mich.“ Es ist das, was die Kapitalist*innen und schlechten Regierungen tun – zerstören, damit man nur sie braucht und von ihnen kauft.

Wie viele Frauen sterben derzeit aufgrund von medizinischer Nachlässigkeit oder schlechter Pflege? Früher waren in unseren Gemeinschaften die meisten Frauen Hebammen. Die alternative Medizin kommt von dieser Verbindung zum Land. Wir wussten, wie man sie nutzt und mit ihr arbeitet. All das Wissen unserer Vorfahren war wunderschön, aber ich war sehr jung und habe es nicht beachtet. Ich wünschte, ich hätte ihm mehr Aufmerksamkeit geschenkt und es nicht sterben lassen.

Ich habe erkannt, dass es in vielen Kämpfen, ob in den Gemeinschaften oder in Städten, die Frauen sind, die ihr Gesicht zeigen und ihren Körper aufs Spiel setzen. Wenn man seinen Körper für den Kampf einsetzt, weiß man nie, was passieren wird. Ich habe vielen Compañeras gesagt, wir sind gekommen und haben die Besetzung vollzogen und wir haben die Rache noch nicht gesehen. Halte den Kopf hoch. Wenn sie mich ins Gefängnis stecken müssen, sollen sie mich ins Gefängnis stecken. Wo immer ich hingehe, ich werde organisiert bleiben. Ich werde nicht schweigen: Ich weiß, was ich will, ich weiß, wofür ich kämpfe, und ich fordere, was mir zusteht.

Ich möchte dich bitten, uns etwas über die schwierigen und intimen Gespräche zu erzählen, die wir während dem Treffen in den Arbeitsgruppen hatten. In diesen Arbeitsgruppen sprachen die Frauen über ihre Erfahrungen im letzten Jahr und tauschten sich über Formen der Organisation und des Widerstands aus, sowie über die Bedeutung des Internationalismus im Kampf. Kannst du mir erzählen, was in diesen Gruppen besprochen wurde?

Vom ersten Treffen an haben wir die gleichen Fragen gestellt: Was ist Patriarchat? Warum der Kampf? Warum ist es für uns Frauen wichtig, unsere Stimme zu erheben?

Viele Frauen haben Gewalt erlitten und gelernt zu schweigen. Umso mehr mit der Pandemie und den Ausgangssperren. Wie kann ich als Frau anderen Frauen sagen, dass sie kämpfen und an die Möglichkeit einer neuen Welt glauben müssen, wenn sie als Frauen diese Gewalt jeden Tag erleben?

In unseren Begegnungen ist es notwendig, diese Fragen zu stellen, denn sobald eine Frau sich öffnet und sagt: „Ich habe das durchlebt“, beginnt eine Kettenreaktion. Vielleicht haben sie es zu Hause erlebt, in der Schule, auf ihrem Weg irgendwohin. Auf die eine oder andere Weise haben sie Gewalt erlebt. Da muss man ansetzen und von da aus nach außen weben. Deshalb sprechen wir in diesen Begegnungen über die Achsen Frauen, Autonomie und Territorium, mit regionalen und internationalen Analysen, um anti-patriarchalen Widerstand aufzubauen.

Es ist möglich, die Dinge zu verändern und eine neue Welt zu schaffen, in die viele Welten passen, in die wir alle passen. Wir haben auch das Recht zu träumen, wir haben das Recht auf diese neue Welt.

Als letzte Frage. Der CNI [Nationaler Indigener Kongress] und die EZLN [Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung] haben in der Deklaration für das Leben, die im Januar 2021 veröffentlicht wird, eine bevorstehende Tour der fünf Kontinente angekündigt. Was sind diesbezüglich deine Erwartungen?

Es ist ein kompliziertes Gefühl. Einerseits werden wir Städte besuchen, die ebenfalls geschändet und geschlagen wurden. Wir werden uns über Probleme austauschen: Ich erzähle dir und du erzählst mir. Hier hat man uns oft gesagt, dass in anderen Ländern und Kontinenten die Dinge viel besser sind, aber wir wissen, dass es auch dort Menschen gibt, die unsere Probleme teilen. Auf der anderen Seite wollen wir uns nicht nur austauschen, sondern sagen „lasst uns gemeinsam Lösungen finden“.

Das war meine Erfahrung, als ich zu meinen Zapatista-Brüdern und Schwestern nach Chiapas ging. Jedes Mal, wenn ich zu ihrer Gemeinschaft gehe und zurückkehre, merke ich, dass ich immer noch lerne. Ich setze es dann in die Praxis um, so lerne ich weiter.

Wir werden unsere Stimmen auch erheben. Indem wir hinausgehen und auf den fünf Kontinenten sind, werden wir viele Dinge sagen, die in Mexiko passiert sind. Die Vierte Transformation ist nicht das, was sie zu sein scheint, sie ist nicht das, was sie zu sein vorgibt, sie hat nicht gehalten, was sie versprochen hat. Für mich als Frau, als Gemeinschaft und als Volk wäre es verdammt großartig, diese schlechte Regierung entlarven zu können. Wir wollen darüber berichten, was mit den Frauenmorden passiert, mit unseren Toten, den Schikanen, den politischen Gefangenen, der Enteignung… alles, was wir als Volk und Gemeinschaft erlebt haben – mit unseren Brüdern und Schwestern in anderen Kontinenten teilen, was wir Tag für Tag erleben, angesichts des Terrors der Regierung.

Das ist unser Kampf: Würde zu schaffen, bis sie zur Gewohnheit wird.

Foto: @CNI_Mexico / Twitter

Available in
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Translators
Valentin H. and Nicole Millow
Date
14.04.2021
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