Politics

Die PKK sollte nicht mehr als Terrororganisation aufgelistet werden

Der Oberste Gerichtshof Belgiens hat die PKK kürzlich von der Liste der Terrororganisationen gestrichen. Es ist an der Zeit, dass andere Länder diesem Beispiel folgen.
Obwohl die PKK auf Geheiß der türkischen Regierung de facto auf den EU-Terrorlisten steht, hat kein EU- oder internationales Gericht jemals tatsächlich festgestellt, dass die PKK die Definition einer terroristischen Organisation erfüllt.

Ein stabiler, demokratischer und friedlicher Naher Osten kann nur nach weitreichenden politischen Reformen in der Türkei erreicht werden. Einige der wenigen Akteure, die in der Lage sind, den autokratischen Status quo in der Türkei in Frage zu stellen, sind die kurdische politische Bewegung und ihr Anführer Abdullah Öcalan, der lange inhaftierte “Mandela des Nahen Ostens”. Ihr radikales politisches Programm der Dezentralisierung, Basisdemokratie, frauengeführten Regierung und des Schutzes von Minderheiten ist das Gegenteil des autokratischen, von oben gesteuerten, chauvinistischen Regimes des türkischen Präsidenten Erdoğan.

Noch 2015 befanden sich die türkische Regierung und die militante Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in recht produktiven, fortgeschrittenen Friedensgesprächen und in einem Waffenstillstand, der von Öcalan von seiner Gefängniszelle aus vermittelt wurde. Doch die Erdoğan-Regierung hat seither die Auseinandersetzungen mit der PKK wieder angefacht – was zum Tod von tausenden Zivilist*innen führte – und versucht, die legitime politische Opposition in der Türkei auszuschalten, indem sie zehntausende Politiker*innen, Aktivist*innen und Journalist*innen unter erfundenen Terroranschuldigungen verhaftet. Es ist an der Zeit, dass andere Länder dem Beispiel des Obersten Gerichtshofs Belgiens folgen und die PKK nicht mehr als Terrororganisation einstufen. Dies ist der einzige Weg zu Dialog, Waffenstillstand und der Wiederaufnahme des Friedensprozesses in der Türkei.

Erdoğan hatte den Friedensprozess aus zwei Gründen aufgekündigt: Erstens die Wahlerfolge der kurdisch geführten, pro-demokratischen HDP, die nun die drittgrößte Partei in der Türkei ist; und zweitens die Einrichtung einer demokratischen Autonomie in den mehrheitlich kurdischen Regionen von Rojava (Syrisch-Kurdistan). Diese Regionen bilden den Kern derjenigen Landstriche, die von der dezentralisierten Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyriens nach den Grundsätzen der kurdischen Bewegung vereint und verwaltet werden.

Doch Erdoğan hat seitdem mit Hilfe scharfer und weitreichender Anti-Terrorgesetze sowie dem Vorwurf der Unterstützung der PKK Verfahren gegen 154 türkische Abgeordnete – hauptsächlich HDP-Mitglieder – angestrengt und 59 der 65 demokratisch gewählten HDP-Bürgermeistern*innen aus dem Amt gedrängt. Jede dritte weltweit inhaftierte Journalist*in sitzt in der Türkei im Gefängnis. Die Türkei weist aufgrund ihrer systematischen Verfolgung der politischen Opposition im Rahmen der Anti-Terror-Gesetze inzwischen die höchste Inhaftierungsrate in Europa auf. Ein einziger Tweet oder allein die Verwendung des Wortes “Kurdistan” in einer politischen Rede kann ausreichen, um hohe Haftstrafen unter unmenschlichen und folterähnlichen Bedingungen zu riskieren.

In ähnlicher Weise wurde eine “Anti-Terror”-Rhetorik benutzt, um die wiederholten Invasionen seitens der Türkei in Nord- und Ostsyrien zu rechtfertigen. Bei diesen Aktionen wurden im Rahmen systematischer ethnischer Säuberungen in ehemals kurdischen Gebieten hunderte Menschen getötet und hunderttausende Zivilist*innen vertrieben. Das Netzwerk dschihadistischer Milizen und krimineller Gruppierungen, das die Türkei in diesen Regionen installiert hat, hat zahlreiche ehemalige IS-Mitglieder in seinen Reihen. Die USA töten regelmäßig hochrangige IS- und Al-Qaida-Kader, die von ihrem eigentlichen NATO-Verbündeten in den von der Türkei besetzten Gebieten geschützt werden.

Gleichzeitig hat die Türkei bei ihren endlosen blutigen Angriffen auf die PKK im Irak chemische Waffen und Drohnenangriffe gegen zivile Aktivist*innen eingesetzt. Ein Ende dessen ist nicht in Sicht. Erdoğan versucht immer wieder, die syrischen Demokratischen Kräfte (DKS), die PKK und den IS in einen Topf zu werfen – als ob es nicht die kurdische Freiheitsbewegung war, die an der Spitze der Militäraktion zur Auslöschung des IS-Kalifats stand und dabei über 10.000 Kämpfer*innen verloren hat.

Die aggressive Expansion der Türkei in Syrien und im Irak ist durch ihre antikurdische Politik motiviert. Die Angriffe waren ein Vorwand für Expansionstaktiken und militärische Ausrüstung, wie man sie bei türkischen Interventionen von Berg-Karabach über Libyen bis ins östliche Mittelmeer hinein beobachten kann – eine Entwicklung zum Nachteil der gesamten Region.

Unter diesen Umständen kann es keinen produktiven Dialog geben. Doch eine kürzlich ergangene, richtungsweisende Entscheidung des Obersten Gerichtshofs Belgiens weist nun den Weg zur möglichen Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen: Der Kassationsgerichtshof bestätigte eine Entscheidung, wonach die PKK nicht als Terrororganisation, sondern als legitime Partei in einem internen Konflikt – also als Kriegspartei in einem Bürgerkrieg – betrachtet werden sollte. Grund dafür sei, dass die PKK keine Terroranschläge verübt, dass sie gut strukturiert und organisiert ist und ihre Mitglieder für ihre Handlungen zur Rechenschaft ziehen kann, dass sie von der Bevölkerung unterstützt wird und dass sie in den von ihr kontrollierten Regionen Dienst- und Verwaltungsleistungen erbringt.

Rechtsanwalt Jan Fermon, der den Fall eingebracht hatte, erklärte: “Es besteht kein Zweifel, dass die PKK alle Kriterien erfüllt, die es erlauben, sie als politisch-militärische Organisation zu betrachten, die einen bewaffneten Kampf gegen die türkischen Sicherheitsdienste, die Armee und die Behörden führt, um das Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volkes zu verwirklichen.”

Obwohl die PKK de facto auf den Terrorlisten der EU steht – und dies jedes Jahr auf Geheiß der türkischen Regierung erneuert wird – hat kein EU- oder internationales Gericht jemals festgestellt, dass die PKK tatsächlich die Definition einer terroristischen Organisation erfüllt. Im Laufe des belgischen Verfahrens wurde festgestellt, dass viele der Verbrechen, für die die PKK verantwortlich gemacht wird, tatsächlich von den türkischen Streitkräften selbst begangen worden waren. Obwohl die belgische Regierung die Ansicht ihres eigenen obersten Gerichts aus politischen Gründen ablehnte, ebnet dieses richtungsweisende Urteil den Weg für weitere westliche Verbündete der Türkei, ihre Beziehungen zur PKK und deren Nennung in den Terrorlisten zu überdenken.

Die Streichung der PKK von den Terrorlisten hätte drei Vorteile:

  • Es wird ermöglicht, dass sowohl die Türkei als auch die PKK für alle Verbrechen, die während des laufenden Konflikts von einer der beiden Parteien begangen werden, nach internationalem Kriegsrecht gleichermaßen zur Verantwortung gezogen werden können, anstatt dass alle Handlungen der PKK de facto außerhalb des geltenden Rechts stehen. Als anerkannte Kraft in einem Bürgerkrieg würde die PKK also gegebenenfalls mehr Verantwortung und Schuld nach internationalem Recht auf sich laden.
  • Die Türkei wird daran gehindert, angebliche Mitgliedschaft in oder Sympathie für die PKK immer wieder als Vorwand zu benutzen, um die innenpolitische Opposition, insbesondere die HDP, in Form von Verhaftungen tausender Zivilist*innen und Politiker*innen zu zerschlagen.
  • Es wird Druck auf die Türkei aufgebaut, an den Verhandlungstisch und in den Friedensprozess mit der PKK zurückzukehren, Öcalan freizulassen und Verhandlungen mit ihm aufzunehmen sowie den Weg zu Demokratie, Dezentralisierung und Rechtsstaatlichkeit einzuschlagen.

Diese Ziele scheinen derzeit noch in weiter Ferne zu liegen, aber der Friedensprozess in den Jahren 2013-2015 zeigt, dass es durchaus Grund zur Hoffnung gibt. Und auch in Europa ist ein Umdenken im Gange: In einer kürzlich im britischen Parlament geführten Debatte forderten Abgeordnete der Tories, von Labour und von der SNP die britische Regierung auf, ihre eigene Haltung zur Aufnahme der PKK in die Terrorliste zu überdenken, wobei der Labour-Abgeordnete Kim Johnson sagte: “Dieses historische Urteil [in Belgien] muss erhebliche Auswirkungen auf unsere eigene Regierung haben. Ich fordere die Regierung auf, die Empfehlungen des Berichts aufzugreifen und die Einstufung der PKK als Terrororganisation angesichts der vorliegenden Beweise zu überdenken.”

Die kurdische Freiheitsbewegung ist meilenweit davon entfernt, eine terroristische Bewegung zu sein, und hat sich im Kampf gegen den IS als führende Kraft erwiesen - nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch durch die Förderung einer radikalen, von Frauen geführten, demokratischen Alternative zu allen Formen einer autoritären Regierungsform. Es ist an der Zeit, dass der Westen diese Realität anerkennt und der PKK sowie der Türkei den Weg für die Wiederaufnahme friedlicher Verhandlungen ebnet.

Matt Broomfield ist Journalist, Autor und Mitbegründer des Rojava Information Center, der führenden Nachrichten- und Rechercheorganisation in Nord- und Ostsyrien.

Available in
EnglishTurkishSpanishGermanFrenchItalian (Standard)
Author
Matt Broomfield
Translator
Tim Steins
Date
16.11.2021
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