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PI Rundbrief | Nr. 32 | Hass macht niemanden satt

Die indische Wirtschaft leidet, doch Premier Modi pusht vor allem seinen aggressiven Hindu-Nationalismus.
Im 32. Briefing der Progressiven Internationale berichten wir über Indien. Das Land feierte kürzlich seinen 78. Unabhängigkeitstag. Davor hatte es Wahlen gegeben, die von Hate Speech und Einschüchterung geprägt waren.

In der vergangenen Woche hat Indien seinen 78. Unabhängigkeitstag gefeiert. An der Spitze der bombastischen Feierlichkeiten im Roten Fort in Neu-Delhi zeigte sich wieder einmal Premierminister Narendra Modi. Erstmals stand sein Auftritt aber vor einem etwas schlechteren Eindruck - schließlich hatten er und seine Partei bei den Wahlen im Juni die Mehrheit im Parlament verloren. Daher müssen sie nun in einer Koalition regieren.

Dieser Rückschlag bei den Wahlen scheint den Premier aber nicht sonderlich schwer ausgebremst zu haben. So bekräftigte Modi seine Forderung nach einem “säkularen Zivilgesetzbuch”. Dieses wäre ein direkter Angriff auf das Recht auf Religionsfreiheit, das allen Minderheiten in Indien verfassungsmäßig garantiert ist. Das Argument der rechtsgerichteten Hindu-Partei Bharatiya Janata erscheint auf den ersten Blick harmlos, hat es aber in sich. In der Lesart der Modi-Partei akzeptiere die hinduistische Bevölkerung bereitwillig Reformen, die “anderen” Communities würden aber weiterhin an ihren eigenen spezifischen und rückschrittlichen Gesetzen festhalten und sich somit weigern, sich in einen nationalen Mainstream einzufügen.

Die Idee einer “Hindu-Nation” steht schon lange im Mittelpunkt von Modis Politik. In den letzten Jahren wird diese immer schamloser und brutaler durchgesetzt. Das zeigte sich auch im Vorfeld der jüngsten Wahlen: ein in der vergangenen Woche von Human Rights Watch veröffentlichter Bericht legt dar, dass Modi in 110 der 173 Reden während seines Wahlkampfes “islamfeindliche Äußerungen” gemacht hat. Wie in Meldungen der Progressiven Internationalen dokumentiert, hat die BJP in den wenigen Wochen seit der Wiederwahl illegal muslimische Häuser abgerissen und Angriffe auf Muslime ignoriert. Dabei wurden unter anderem zwölf muslimische Männer getötet.

Dennoch ist die Kritik an Modi in der internationalen Presse verhalten. Einer der Hauptgründe dafür ist seine vermeintliche Erfolgsbilanz mit Blick auf die indische Wirtschaft. In seiner jüngsten Rede zum Unabhängigkeitstag gab Modi nun ein kühnes Versprechen ab: Indien werde in seiner Amtszeit die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt werden. Damit bestätigte er im Wesentlichen, wie er im Ausland wahrgenommen wird: “Klar, Modi scheint wirklich unangenehm autoritär zu sein, aber schauen Sie sich mal die Wachstumsraten Indiens an!”

Deshalb muss man fragen: Hält das Modi-Narrativ vom Wirtschaftswunder der Realität stand? Indien hat gerade seinen Unabhängigkeitstag gefeiert, aber wie sieht diese Freiheit für die 1,4 Milliarden Menschen im Land wirklich aus?

Die Einkommensungleichheit in Indien hat inzwischen das Niveau während der britischen Kolonialherrschaft übertroffen. Der jüngste World Inequality Report zeigt, dass sich die Zahl der Superreichen in den letzten zehn Jahren verelffacht hat, aber Indien gleichzeitig im Welthunger-Index auf Platz 111 von insgesamt 125 Ländern liegt. Damit lebt ein Viertel aller unterernährten Menschen der Welt auf dem Subkontinent.

Doch nicht nur die extreme ungleiche Verteilung des Kuchens ist ein Problem - sondern auch seine Größe: In Modis zweiter Amtszeit wurde das niedrigste BIP-Wachstum seit Beginn der Marktliberalisierung in den frühen 1990er Jahren verzeichnet. Tatsächlich wächst das Pro-Kopf-Einkommen nur noch halb so stark wie im vorherigen Jahrzehnt unter Modis Vorgänger Manmohan Singh. Die ausländischen Direktinvestitionen sind deutlich zurückgegangen und haben den niedrigsten Stand seit fast 20 Jahren erreicht.

Dies sind Anzeichen für eine Wirtschaft (und eine Gesellschaft) in der Krise. Die Banken erleben den schlimmsten Einlagenmangel seit 20 Jahren, die Ersparnisse der privaten Haushalte sind auf ein 47-Jahres-Tief gefallen und die Verschuldung hat ein Rekordhoch erklommen. Indien hat eine der jüngsten Bevölkerungen der Welt, aber auch eine der am stärksten wirtschaftlich benachteiligten Jugend: Ein Drittel der Hochschulabsolvent*innen findet einfach keinen Job.

Modi versucht diese Probleme mit einer Unmöglichkeit zu lösen: Er will die Menschen besänftigen, indem er Hass sät.

Das reicht von nationalistischen Ausschreitungen daheim bis zur Außenpolitik. Einige Wochen nach dem Angriff auf den Gazastreifen im Oktober 2023 vollzog Indien eine einschneidende Abkehr von seiner jahrzehntelangen Tradition und enthielt sich einer UN-Resolution, mit der ein humanitärer Waffenstillstand im Gazastreifen gefordert wurde. Gleichzeitig organisierten indische Hindu-Fundamentalist*innen eine Demonstration zur Unterstützung Israels vor der Botschaft des Landes in Delhi. In einem Video ist der Ex-Soldat Subedhar Lalit zu hören, der sagt: “Wir haben nur eine Botschaft: Israel sollte uns die Staatsbürgerschaft geben, uns in seine Armee aufnehmen und gemeinsam werden wir diese islamischen Dschihadisten, diese Feinde der Menschheit, von der Erde tilgen.”

Modi versucht entschlossen, das Indischsein umzudefinieren: Inder*in zu sein ist demnach gleichbedeutend mit “anti-muslimisch” zu sein. Dies ist Teil seiner Strategie, möglichst konsequent von der darbenden Wirtschaft abzulenken. Den Beschluss der Regierung, 35.000 Arbeiter*innen nach Israel zu schicken, kommentierte ein arbeitsloser Akademiker namens Chaudhary Ranbir Singh schlicht mit den Worten: “Ich bin mir der Gefahr durch den Krieg mit der Hamas in Israel bewusst. Aber es ist besser, dort bei der Arbeit zu sterben als hier zu verhungern.”

Die Progressive Internationale steht unumstößlich an der Seite all derer, die weiterhin für das demokratische Versprechen Indiens kämpfen - für einen Staat, der für alle seine Bürgerinnen und Bürger sorgt.

Kunst: Rah Naqvi ist ein\e indische*r Künstlerin mit Wohnsitz in Amsterdam. Naqvis Arbeiten befassen sich mit den Themen religiöse und gesellschaftliche Polarisierung. Unter Verwendung vertrauter Motive erkundet Naqvi komplexe Themen wie kulturell-religiöse Zugehörigkeit und aufgezwungene koloniale Identitäten. Das Werk Yatra zeigt die jährliche Rath Yatra in Ahmedabad, eine religiöse Prozession, die bei der muslimischen Bevölkerung vor Ort für Furcht und Schrecken sorgt: In der Vergangenheit gab es immer wieder Spannungen zwischen hinduistischen und muslimischen Gruppen. Die Yatra-Szene von Naqvi - die in Zusammenarbeit mit dem Kunsthandwerker Chandrakant Chitara entstand - zeigt hingegen eine alternative Realität, in der die beiden Communities harmonisch gemeinsam feiern.

Available in
EnglishFrenchGermanPortuguese (Brazil)Spanish
Translator
Tim Steins
Date
19.08.2024
BriefingDemokratie
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