Politics

Wohin die lineare Entwicklung des Hindu-Nationalismus Indien führen wird

Das Projekt, das fast ein Jahrhundert lang unter Schichten politischer Zweckmäßigkeiten verborgen war, ist nun schonungslos sichtbar.
Eine neue Idee von Indien ist nun für alle sichtbar. Sie ist nicht harmonisch, aber triumphiert zu diesem Zeitpunkt.

Zu diesem Zeitpunkt gibt es im ganzen Land Proteste gegen das Staatsbürgerschaftsgesetz (“Citizenship (Amendment) Act”) und 42 Menschen sind bei Unruhen in der Hauptstadt getötet worden.

In den letzten neun Monaten – also in der Zeit seit dem Beginn der zweiten Amtszeit von Premierminister Narendra Modi – haben die Hindutva ein neues Gefühl von Dringlichkeit entwickelt. Selbst der Vorwand der Entwicklung gehört der Vergangenheit an.

Das ist tatsächlich die wahre und reine Form von “Hindutva” – des Hindu-Nationalismus –, die fast ein Jahrhundert lang unter Schichten politischer Zweckmäßigkeiten verborgen war.

An der Spitze der BJP steht Modi, gefolgt von seinem engen Stellvertreter Amit Shah im Amt des Innenministers der Union. Und ein drittes Gesicht am politischen Firmament ist Uttar Pradeshs Ministerpräsident Adityanath. Während die Kongresspartei mit einer schweren Führungskrise kämpft, hat die BJP die Frage der Nachfolge bereits geklärt.

Allerdings gibt es einen Unterschied zur alten BJP. Hatte die frühere nationale Führung der BJP den ehemaligen führenden Kopf des Hindutva, L.K. Advani, und den ehemaligen Premierminister Atal Bihari Vajpayee – der in vielerlei Hinsicht sogar von Liberalen bewundert wurde –, so hat die gegenwärtige Nachfolge nichts mit Mäßigung zu tun.

Hindutva folgt einer linearen Entwicklung.

Das wird beim Blick in die Vergangenheit der BJP und ihrer Vorgängerin “Jana Sangh” deutlich. Um die Gegenwart zu verstehen, müssen wir also einen Blick auf die politische Geschichte von Hindutva in den Jahrzehnten seit der Unabhängigkeit werfen.

Die 1950er Jahre

Im ersten Jahrzehnt der Unabhängigkeit wurde die Jana Sangh – die politische Schwesterorganisation der “Rashtriya Swayamsevak Sangh” (RSS, rechte paramilitärische Organisation) – geboren. Und ihre Erfolge waren trotz der Teilung (in Indien und Pakistan) und der damit verbundenen Ängste dürftig. Die Jana Sangh gewann 1952 nur drei und 1957 vier Sitze. Ihre zentralen Themen waren die vollständige Integration von Jammu und Kaschmir – Jana-Sangh-Gründer Syama Prasad Mookerjee starb in einem Gefängnis in Kaschmir, nachdem er wegen des unerlaubten Grenzübertritts verhaftet worden war –, die Förderung von Hindi und die Ablehnung der Rinderschlachtung.

Aber damit hatte die Partei kaum Erfolg. Jawaharlal Nehru übernahm die Leitung der Kongresspartei und lenkte ihn in Richtung einer eindeutig säkularen Politik, wobei er den Anführer der Hindu-Konservativen P.D. Tandon verdrängte. Und in den nordindischen Bundesstaaten – in denen die Jana Sangh ihre Chance witterte – setzte die Kongresspartei Förderer von Hindi an die Spitze. In einigen Bundesstaaten verboten die Regierungen der Kongresspartei zudem das Schlachten von Kühen und setzten damit Artikel 48 der Verfassung, einen Teil der “Directive Principles of State Policy” (Richtlinien-Prinzipien der Staatspolitik), in Kraft.

Die 1960er Jahre

Verärgert über ihre Misserfolge verfolgte die Jana Sangh eine zweigleisige Politik. Sie versuchte, mit den Sozialisten, der Swatantra-Partei und anderen gemeinsame Sache zu machen, und zwar auf der Schiene des “Anti-Kongressismus”. Bei vier Nachwahlen in Lok Sabha in den nordindischen Bundesstaaten im Jahr 1963 wurden mit einigem Erfolg gemeinsame Kandidaten aufgestellt. Bei dieser Wahl wurde der sozialistische Kandidat Ram Manohar Lohia in die Lok Sabha gewählt.

Gleichzeitig zu diesem Anti-Kongress-Wahlkampf, der einige zentrale Hindutva-Kompromisse mit sich brachte, startete die “Vishwa Hindu Parishad” – eine 1964 gegründete, RSS-nahe Organisation – eine Bewegung für eine Verfassungsänderung, damit die Zentralregierung das Schlachten von Kühen in allen Staaten verbieten konnte.

Der Aufruhr von 1966 wurde gewalttätig und einige Menschen kamen dabei ums Leben. Bei den Wahlen zur Lok Sabha und Versammlungen im Jahr 1967 – dem letzten Mal, dass beide zusammen abgehalten wurden – kam es zu Verschiebungen zwischen den Oppositionsparteien in vielen Staaten und die Kongresspartei erlitt Rückschläge. Die Jana Sangh wurde Teil der kurzlebigen “Sanyukta Vidhayak Dal”-Regierungen, die in einigen Provinzen über legislative Vereinbarungen gebildet wurden. Die Partei schnitt in Uttar Pradesh recht gut ab, wo ihr auch die Bewegung für den Schutz der Kühe half.

Die 1970er Jahre

Zu diesem Zeitpunkt hatte die moderate Strategie Legitimität innerhalb der Partei erlangt, da sie dadurch teilweise erfolgreich gewesen war. Die Jana Sangh und die RSS schlossen sich der JP-Bewegung von 1974 gegen Korruption und eine Wirtschaftskrise an – das war wegen Indira Gandhis Dominanz in den Wahlen im Jahr 1971 trotz oppositioneller Bündnisse notwendig geworden.

Die Bewegung begann in Gujarat und Bihar und wurde unter Jaya Prakash Narayan eine nationale Bewegung. 1975 verhängte Indira Gandhi den Ausnahmezustand – kurz nachdem der “Allahabad high court” entschieden hatte, dass sie ihre letzte Wahl mit unfairen Mitteln gewonnen hatte, und der Oberste Gerichtshof ihr nicht half – und die JP-Bewegung agierte nach der Verhaftung ihrer Führung im Untergrund weiter.

Das war der erste Versuch der Jana Sangh, eine bürgerlich-liberale Politik zu betreiben. Vor den Wahlen von 1977 schlossen sich die Jana Sangh, die Sozialisten, die Bharatiya Lok Dal und ein Teil der Kongresspartei (O) zur Janata-Partei zusammen und besiegten die Kongresspartei. Vajpayee und Advani wurden Minister in der Regierung unter Morarji Desai. Doch schon bald führten ideologische Widersprüche zur Spaltung der Janata-Partei, selbst als Indira Gandhi 1980 wieder an die Macht kam.

Die 1980er Jahre

Das Jahrzehnt begann schlecht für die BJP, die 1980 als Nachfolgerin der Jana Sangh gegründet wurde. Unter Vajpayee machte die BJP den gandhischen Sozialismus und das Vermächtnis der JP zu ihrem Glaubensbekenntnis. In der Zwischenzeit, als die militanten Sikhs auf dem Vormarsch waren und die Hindus in Punjab darunter am meisten litten, gelang es Indira Gandhi, die zentrale Wählerbasis der Jana Sangh zu durchbrechen. Ihre Ermordung im Jahr 1984 führte außerdem zu einer Sympathiewelle – trotz der Unruhen in Delhi, bei denen zahlreiche Sikhs ums Leben kamen.

Die Kongresspartei unter Rajiv Gandhi gewann bei den Wahlen von 1984 eine Rekordzahl von 415 Sitzen, während Vajpayees BJP auf zwei Sitze zusammengestutzt wurde. Das markierte eine vorübergehende Verdrängung von Vajpayee und Advani folgte ihm bald als Parteivorsitzender nach. Die VHP lancierte unterdessen die Ram-Tempel-Bewegung mit einer Reihe von Yatras.

Rajiv Gandhi versuchte, sowohl den muslimischen als auch den hinduistischen Fundamentalismus zu besänftigen, indem er einerseits das Urteil des Obersten Gerichtshofs über Schah Bano durch Gesetzgebung aufhob und andererseits die Öffnung der Schleusen von Ram Janmabhoomi erleichterte. Auch er wurde durch den Bofors-Betrug hart getroffen. Die neu gegründete “Janata Dal” von V.P. Singh, die von außen von der BJP und linken Parteien unterstützt wurde, kam an die Macht. Die BJP allein gewann 85 Sitze.

Advani wendete sich einer radikalen Form von Hindutva zu und erklärte seine Unterstützung für einen Ram-Tempels in Ayodhya. V.P. Singh kündigte die Umsetzung der Empfehlungen der Mandal-Kommission an, während offenbar im Gegensatz dazu Advani das Ram Rath Yatra startete, das riesige Menschenmassen anzog, aber auch die Gesellschaft genug polarisierte, um Unruhen auszulösen. Die BJP zog ihre Unterstützung für die Regierung von V.P. Singh zurück, nachdem Lalu Prasad als Bihar-Chefministerin Advani in Samastipur verhaften ließ.

Die 1990er Jahre

Die BJP wurde inmitten der Polarisierung immer stärker. In den Lok-Sabha-Wahlen von 1991, in denen die Kongresspartei unter Narasimha Rao an die Macht zurückkehrte, gewann sie 120 Sitze. 1992 wurde die Babri-Moschee abgerissen.

Der Aufstieg der BJP hatte jedoch seine Grenzen. Die Partei war nur in Nord-, Zentral- und Westindien stark und im Süden, Osten und Nordosten schwach. Sie brauchte nun Bündnisse, um ihre verbesserten Ergebnisse in eine Mehrheit zu verwandeln.

In den Jahren 1995-96 kehrte Vajpayee als das gemäßigte Gesicht der Partei, als Premierministerkandidat der BJP zurück. 1996 schnupperte die BJP 13 Tage lang an der Macht, konnte aber das Vertrauensvotum nicht gewinnen. 1998 kostete die BJP mit einer Koalitionsregierung unter Vajpayee 13 Monate lang die Macht aus. Und 1999 kam die Regierung unter Vajpayee mit einer Koalition von mehr als 20 Parteien für eine volle fünfjährige Amtszeit an die Macht.

Lehren aus dem Aufstieg der BJP

Die BJP konnte ihren unter Advani gestärkten Hindutva nur unter Vajpayee in eine Mehrheit umwandeln. Der Grund: Verbündete mit muslimischen Wählern brauchten ein gemäßigtes Gesicht, um ihre Unterstützung für die BJP, die weitgehend auf Macht ausgerichtet ist, zu rationalisieren.

Dies führte dazu, dass die BJP eine zweigliedrige Führung erhielt: Vajpayee als das akzeptable Gesicht und Advani als der Hardliner. Aber nur das akzeptable Gesicht konnte sie an die Macht bringen. Mit anderen Worten, der stärkere Hindutva bedeutete paradoxerweise auch seine Verwässerung.

Advani konnte trotz Versuchen zur Mäßigung nicht Vajpayees Schuhe füllen und die BJP konnte 2009 unter ihm nicht an die Macht zurückkehren. Nun schien die Kongresspartei mit zwei aufeinander folgenden Siegen unter Sonia Gandhi in den Jahren 2004 und 2009 gut aufgestellt zu sein.

Allerdings wurde Gandhis “United Progressive Alliance” (UPA) in ihrer zweiten Amtszeit von Korruptionsvorwürfen getroffen. Die soziale Aktivistin Anna Hazare führte öffentliche Proteste in der Hauptstadt an und untergrub damit die Legitimität der Zentralregierung. Negative Berichte der Aufsicht CAG trugen dazu außerdem bei und die Medien standen der Regierung weiterhin kritisch gegenüber.

Das Vakuum und der Aufstieg von Modi

Das so entstandene Vakuum musste von jemandem gefüllt werden. In diesem Fall wurde es nicht von der BJP gefüllt, sondern von einem einzigen Mann, Narendra Modi, dessen öffentliche Redekunst und PR-Maschinerie ihn wie einen Retter erscheinen ließen, als alles im Chaos war. Sein Hindutva-Image erhielt eine zusätzliche, neue Ebene – den transformativen, sachlichen Führer.

Diese neue BJP trat mit dem populistischen Versprechen eines neuen Indiens an die Macht und jegliche Mäßigung gehörte der Vergangenheit an. Die regionalen Parteien waren bereit dazu, mit einer BJP ohne gemäßigtes Gesicht in einer prominenten Position zusammenzuarbeiten. Der Sieg 2019 war eine erneute Bestätigung dafür, dass die öffentliche Stimmung nun eine hyper-nationalistische Rhetorik mit Muslimen als dem kaum versteckten “Anderen” verlangte.

Es ist dieser Wandel, der Hindutva wie nie zuvor in den Mittelpunkt gerückt hat. Bei der zweiten Modi-Regierung geht es um eine harte Linie gegenüber Kaschmir und um das CAA, das viele als diskriminierend gegenüber Muslimen wahrnehmen.

In den letzten Monaten waren Proteste in allen Ecken Indiens in den Nachrichten zu zu sehen. Und Delhi hat nun die schlimmsten Ausschreitungen seit 1984 erlebt, als der Mob nach einer provokativen Rede des BJP-Führers Kapil Mishra muslimische Ortschaften angriff. Die Polizei wird als nachlässig bei der Eindämmung der Gewalt wahrgenommen, die bisher zu etwa 40 Toten und weltweit zu einer schlechten Presse geführt hat.

Das ist der Höhepunkt von Hindutva, wenn die kulturelle Polarisierung die Politik der Stunde ist. Es gibt innerhalb der BJP keine alternative Stimme für irgendeine andere Nuance der nationalen Meinung.

Es gab noch nie so gute Bedingungen für das Projekt von Hindutva. Leider gab es für die Harmonie noch nie so schlechte.

Foto: Twitter

Available in
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Author
Vikas Pathak
Date
11.05.2020
Source
The WireOriginal article🔗
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