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Das Ende des Erdölzeitalters: CO2-Kolonien & ein globaler Green New Deal

Wenn wir von ökologische Konsequenzen sprechen, denken wir an das Ansteigen der Meere, stärkere Stürme und schnellere Überschwemmungen. Aber wir bezahlen nicht nur einen ökologischen Preis, sondern auch einen politischen. Für diejenigen, die in Ressourcen-Kolonien leben, sind CO2-Emissionen ein Garant für atmosphärisches und administratives Elend.
Freitag, 27. September 2019. Auf meinem Computer waren zwei Zeitlinien parallel geöffnet.
Freitag, 27. September 2019. Auf meinem Computer waren zwei Zeitlinien parallel geöffnet.

Auf der linken Seite: Ägypten. Das Land war schon im Lockdown, lange bevor das Coronavirus diesen Zustand zur Normalität werden ließ. 42 Straßensperren rund um das Zentrum Kairos, Bereitschaftspolizei in großer Zahl an jedem größeren Platz des Landes. Von meinem Fenster aus konnte ich sehen, dass die Straßen leer waren. Das Regime befand sich nach einer Reihe von Straßenprotesten in der Woche zuvor in höchster Alarmbereitschaft und war mit voller Kapazität auf den Straßen.

Auf der rechten Seite: Greta Thunbergs Klimastreik. Riesige Menschenmengen strömen frei durch die Stadtzentren von Turin, Helsinki, Rom und anderen Orten. Die Polizei stand daneben, Banner wurden hochgehalten, auf denen eine nachhaltige Zukunft für den Planeten gefordert wurde.

Ich erinnerte mich, dass ich mich für E-Mail-Updates über den Klimastreik angemeldet hatte. Nachdem meine Adresse registriert wurde, wurde eine zweite Seite mit einer einzigen Frage geladen: Willst du eine Aktion an deinem Arbeitsplatz oder in deiner Gemeinde organisieren?

Ich habe Nein angekreuzt.

An diesem Tag gab es in Ägypten mutige Versuche, Märsche zu organisieren – nicht für das Klima, sondern gegen das Regime. Sie wurden schnell mit Tränengas und Schusswaffen unterdrückt.

Als die Sonne unterging, surfte ich weiter durchs Netz – aber niemand kam durch die Polizeibarrieren hindurch. Auf der rechten Seite meines Bildschirms entdeckte ich einen Klimastreik nach dem anderen: Budapest, Neapel, Barcelona. Ich blieb stundenlang online und beobachtete, wie die Sonne über neuen Städten und neuen Märschen aufging: Montreal, Vancouver, Santiago de Chile, Valparaiso.

In dieser Woche würde es in Ägypten über 4.000 Verhaftungen geben. Sie dauern bis heute an, die Anklagepunkte sind immer die gleichen. Am 28. April 2020 wurde Kholoud Amer, Leiter der Übersetzungsabteilung der Bibliothek von Alexandria, wegen Verbreitung von Falschnachrichten und Zugehörigkeit zu einer terroristischen Organisation angeklagt.

Als ich die ganze Nacht hindurch zwischen diesen beiden Zeitlinien hin und her wechselte, kam mir immer wieder ein Gedanke: Wie können diese beiden Ereignisse in scheinbar völliger Unabhängigkeit voneinander existieren? Natürlich ist es für uns unmöglich, einen Klimastreik in Ägypten zu veranstalten. Aber warum kam beim Klimastreik kein Ägypten vor?

Ägypten – die Heimat von einer halben Million Flüchtlingen sowie über hundert Millionen Ägypter*innen – befindet sich an der Vorfront des Klimachaos; die Temperaturen steigen; die Küstenstädte werden verloren gehen; die Erträge schrumpfen, das Ackerland sinkt und der Süßwasserspeicher wird vom Salz infiltriert; härtere, längere Regenfälle legen Städte routinemäßig lahm, während die Sommerdürren länger dauern; das Gerede von einem Wasserkrieg mit Äthiopien summt ständig in der Luft. Es gibt nur wenige Orte, die so anfällig für die Ungleichheiten der globalen Erwärmung sind wie Ägypten.

Wenn wir alle an das Schicksal desselben Planeten gebunden sind, wie lange können wir dann noch in diesen getrennten Welten existieren?

***

Es ist seit langem bekannt, dass, obwohl es die Industrienationen sind, die den größten Teil des gesamten CO2-Budgets der Erde aufgebraucht haben, die unmittelbarsten ökologischen Folgen vom globalen Süden bezahlt werden.

Wir denken dabei an Folgen wie steigende Meeresspiegel, stärkere Stürme und schnellere Überschwemmungen. Aber wir bezahlen nicht nur einen ökologischen Preis, sondern auch einen politischen. Für diejenigen, die in Ressourcen-Kolonien leben, sind CO2-Emissionen ein Garant für atmosphärisches und administratives Elend.

Ägypten ist das ein perfektes Beispiel: eine Volkswirtschaft, die nominell selbstbestimmt ist, aber am Schnittpunkt von einer Reihe regionaler Wettbewerbe steht. Es verfügt über einen diversifizierten Energiemix mit zunehmender Sonnen- und Windenergie, großen Gasvorkommen und Wasserkraft. Im traditionellen Sinne würde Ägypten als postkoloniale, unabhängige Nation betrachtet werden.

Eine sorgfältige Analyse der Position des Landes innerhalb der globalen CO2-Wirtschaft verkompliziert das Bild jedoch. Wir werden sehen, wie Ägypten innerhalb dessen, was ich die CO2-Kette nennen werde – das globale industrielle Energienetz, das vom und für die Entwicklung des industriellen Kapitalismus in den letzten 250 Jahren errichtet wurde – durch vielfältige Interessen gebunden ist. Wie in einer Nahrungskette gibt es an der Spitze Raubtiere (Führungskräfte der Ölgesellschaften, Wladimir Putin), Fleischfresser des mittleren Segments (Herrscher in den Erdölstaaten, Makler, Bankiers), ein Spektrum privilegierter Säugetiere – und dann alle anderen.

In einer Region, die bekanntermaßen konflikt- und wettbewerbsintensiv ist, kann uns eine Analyse der CO2-Kette neue politische Erkenntnisse liefern. Innerhalb der nationalen Grenzen kann sie uns neue Instrumente zur politischen Mobilisierung und Organisation geben. Innerhalb supranationaler Bewegungen kann sie uns Wege zu neuen Modellen der Koordination aufzeigen. Sie kann, kurz gesagt, dazu beitragen, die Kluft zwischen unseren divergierenden Welten zu überbrücken.

Ich werde Ägypten als Beispiel anführen, aber die Methode kann überall dort angewendet werden, wo fossile Brennstoffe verwendet werden. Also überall.

DIE CO2-KETTE 1: ZOHR

Ägypten nimmt drei verschiedene Positionen in der CO2-Kette ein. Die erste, und am wenigsten überraschende, ist die als Ressourcen-Kolonie. Das Mittelmeer, die Wüsten und das Niltal sind in einen Flickenteppich von Hunderten von Konzessionen aufgeteilt, die Dutzenden ausländischer Öl- und Gasunternehmen gehören, die Öl und Gas suchen und fördern.

Im Jahr 2015 entdeckte der italienische Energieriese Eni das größte Gasfeld im gesamten Mittelmeerraum. Es wurde Zohr getauft. Die ägyptischen Öl- und Gaskonzessionen beinhalten eine 50/50-Aufteilung zwischen dem Unternehmen und dem Staat. Ägypten erklärte daraufhin, dass diese Entdeckung die Gasreserven liefern würde, die notwendig sind, um energieunabhängig zu werden.

Das erste Gas wurde im Dezember 2017 geliefert. Im darauf folgenden Jahr stiegen die Stromkosten jedoch für Privathaushalte um durchschnittlich 22,5 Prozent.

Die Gewinne von Zohr werden nicht an die Bevölkerung weitergegeben, sondern zur Tilgung der Auslandsschulden verwendet. Im April 2020 wurden 40 Prozent des Staatshaushalts für Zinszahlungen ausgegeben. Seit der Machtübernahme durch das Sisi-Regime hat sich die Auslandsverschuldung von $38 Milliarden auf $110 Milliarden verdreifacht. Neben einer endlosen Reihe französischer Kampfjets, deutscher U-Boote und russischer Hubschrauber, die als politische Charmeoffensive gekauft wurden, wurden €8 Milliarden für den Bau von Kraftwerken zur Umwandlung von Zohrs Gas in Elektrizität ausgegeben. Es war der größte Auftrag in der Geschichte Siemens’ und wurde von einem Konsortium deutscher Banken zu einem nicht bekannt gegebenen Zinssatz garantiert.

Energieunabhängigkeit wurde in Schuldknechtschaft umgewandelt.

Für die einkommensschwächsten Haushalte stieg der Gaspreis um 51 Prozent. Das Sisi-Regime hat im Gleichschritt mit der Wirtschaftsideologie des Internationalen Währungsfonds die Subventionen für Gas, Treibstoff und Wasser abgeschafft, während es die Zirkulation der nationalen Währung um 50 Prozent erhöhte – und sie damit abwertete. Ein wirtschaftlicher Schock des Austeritäts-Kapitalismus, den nur ein Militärstaat der Bevölkerung aufzuzwingen konnte. Die Schulden des Regimes werden vom Volk geschultert – jetzt und für immer, da auch die zukünftige Politik an nicht rückzahlbare Schulden gebunden ist.

Innerhalb der CO2-Kette gibt es also eine klare Pyramide von: den Gesamtsiegern Eni, Siemens, Deutschland und Italien, den Gaunern des Sisi-Regimes in der Mitte und den Nettoverlierern der ägyptischen Bevölkerung und der Erdatmosphäre. Das heißt alle und jeder.

Jeden Tag fördert Zohr das CO2-Äquivalent der gesamten Tagesproduktion Österreichs und verbrennt das CO2-Budget des Planeten, damit eine kleine Diktatur die abscheulichen Schulden begleichen kann, die sie gemacht hat, um den industriellen Export von Waffen und Brennstoff-Technologien aus dem Norden aufrechtzuerhalten.

Jeden Tag kommt das Gas, das von unter den ägyptischen Meeren verkauft wird, langsam als überschwemmendes Meer zu uns zurück. Neue Projektionen für das Jahr 2050 deuten darauf hin, dass dann Alexandria vollständig unter Wasser stehen wird.

DIE CO2-KETTE 2: LEVIATHAN

Das zweitgrößte Gasfeld im Mittelmeer heißt Leviathan. Dessen Weg bis zur Förderung war wesentlich komplizierter.

Seit der Selbstverwirklichung Israels in der Küstenebene Palästinas hat es eine dauerhafte Achillesferse: Energie. Das einzige Stückchen Territorium zwischen Casablanca und Isfahan, das scheinbar keine Reserven an fossilen Brennstoffen besitzt, ist seit langem auf Importe von Verbündeten angewiesen.

Im Jahr 2008 schloss Hussein Salem, einer von Mubaraks wichtigsten Gefolgsmännern, ein Abkommen zum Bau einer Gaspipeline von Ägypten nach Israel ab. Die ägyptische Öffentlichkeit war wütend, aber machtlos. Mubarak verkaufte nicht nur Gas an den Feind der Nation: Er verkaufte es zu einem Preis unter dem Marktwert. Zu dem Zeitpunkt, als die Türkei, Griechenland und Italien zwischen $7 und $10 für jede Million BTUs bezahlten, zahlte Israel – ohne andere Importmöglichkeiten – $4.

Die Pipeline wurde zu einem der Symbole des feigen Mubarak-Regimes. Als er 2011 vor Gericht gestellt wurde, behauptete der Staatsanwalt, dass diese Leerverkäufe die Öffentlichkeit $714 Millionen gekostetet hätten – obwohl Energieexperten sagten, dass die tatsächliche Summe bis zu $11 Dollar betragen könnte.

Während der freien Jahre zwischen 2011 und 2013 wurde die Pipeline zwölf Mal gesprengt. Beim dreizehnten Mal stellte die Regierung die Reparatur ein.

Dann wurde der Leviathan vor der Küste von Haifa entdeckt. Eine Vielzahl messianischer Zeitungskommentare erklärte Israel zu einem wahrhaft von Gott auserwählten Volk.

Der Haken an der Sache war jedoch, dass Israel Gas zum Verkauf exportieren musste, um die Förderung finanziell rentabel zu machen. Der inländische Gebrauch allein bot keine attraktive Rendite für Investoren, die wegen der sich rasch verändernden Landschaft einer dekarbonisierenden Welt zögerten.

Jahrelang wurde der Leviathan nicht ausgeschöpft. Israel fehlte die Infrastruktur, um das Gas zu verflüssigen und in Tankern zu verschiffen oder es in ein anderes Land zu leiten. Bis Jordanien mit einem $10-Milliarden-Auftrag einsprang und der Bau einer neuen Pipeline begann. Daraufhin macht Ägypten einen $15-Milliarden-Vorschlag, den Fluss durch die Mubarak-Pipeline zum Gasexportterminal an der Nordküste umzukehren, wo sich das Gas des Leviathan mit dem von Zohr verbinden und Ägypten zu einem Energieexportzentrum machen würde.

Der Vertrag wurde 2018 von einer Firma namens Dolphinus Holdings unterzeichnet: eine Briefkastenfirma, die, wie die ägyptische Zeitung Mada Masr aufdeckte, von den ägyptischen Geheimdiensten kontrolliert wurde.

Vom Leviathan aus greifen nun drei benachbarte Regime durch eine physische Infrastruktur von Gaspipelines ineinander. Ägypten nimmt in diesem Fall eine höhere Position in der CO2-Kette ein, in der es keine Ressourcen-Kolonie, sondern ein kolonialer “Ermöglicher” ist, der die Kolonialmacht in Palästina reicher macht und weiter festigt.

Dank der Fähigkeit der ägyptischen, jordanischen und israelischen Regime, sich zu koordinieren und ineinander zu greifen, wird der Leviathan nun brennen; die arabische Welt wird zersplittert und inkohärent bleiben, da Palästina immer weiter zurückgedrängt wird; die ägyptischen und jordanischen Militäreliten werden reicher; das Äquivalent aller deutschen CO2-Emissionen in einem Jahr wird aus dem CO2-Budget des Planeten entnommen.

DIE CO2-KETTE 3: ARAMCO

Es kann keine Erdölpolitik ohne Saudi-Arabien geben, den kolonialen Erdölstaat, der allen anderen ein Ende bereiten soll. Der riesige Erdölreichtum Saudi-Arabiens war lange Zeit der Treibstoff eines regionales Netzwerk von Ideologen, Predigern und Presseorganen, Dschihadisten und konfessionellen Kriegern und, in jüngerer Zeit, Stellvertreterregierungen. Saudi-Arabien lässt einen Teil ihres Wohlstands an amerikanische und britische Waffenfirmen fließen, im Austausch gegen regionalen Schutz und komplexe Hardware, mit der sie nach wie vor nicht in der Lage ist, asymmetrisch schlecht ausgerüstete Nachbarn in der Kriegsführung zu besiegen.

Seit dem Ausbruch des Arabischen Frühlings sind Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate zunehmend aktive Unterstützer der lokalen Reaktionäre: Sie boten dem tunesischen Ben Ali Zuflucht, führten einen verheerenden Luftkrieg gegen den Jemen, finanzierten den sudanesischen Übergangs-Militärrat, griffen ungeschickt in Libyen und Syrien ein, hielten den Polizeistaat Bahrain aufrecht, entführten den libanesischen Premierminister und versuchten, im Rahmen von Trumps “Deal of the Century” die endgültige Preisgabe Palästinas zu vereinbaren.

In Ägypten wurde das Sisi-Regime durch einen Zufluss von Darlehen, Geschenken, Investitionen, Joint Ventures und Inselkäufen im Wert von mindestens $78 Milliarden über Wasser gehalten. Eine schwindelerregende Menge Geld, die im schwarzen Loch der ägyptischen Vetternwirtschaft verschwunden ist. Dafür gibt es ideologische und logistische Gründe: Saudi-Arabien verachtet die Muslimbruderschaft fast so sehr wie den Iran und unterstützte den Militärputsch, der sie an der Macht ablöste. Logistisch gesehen ist Ägypten ein wichtiges Transitland für saudisches Öl, das durch den Suezkanal und eine wichtige Pipeline, die das Rote Meer mit dem Mittelmeer verbindet, transportiert wird.

Ägypten nimmt hier die niedrigste Position in der CO2-Kette ein: Vasallenstaat, Transitland.

***

Ressourcen-Kolonie, kolonialer Ermöglicher, Vasallenstaat, Transitland. Alles Punkte, die Ägypten innerhalb der CO2-Kette einnimmt–ein globales Netz, das aus Tausenden von Berührungspunkten zwischen Infrastruktur, Staaten, Unternehmen, Geographie, Geschichte besteht und den gesamten Planeten an der Schnittstelle zwischen Macht und Unterdrückung sowie Verwundbarkeit und Möglichkeiten zusammenhält.

Die CO2-Kette entwickelt sich seit 250 Jahren; und zwar auf Segelschiffen aus Southampton, Antwerpen, L'Orient und Kiel, die in Manila, Rio de Janeiro, New Orleans, Port au Prince, Kalkutta und Hongkong anlegen: eine unerbittliche Ausbreitung von Sklavenschiffen, eisernen Schienen, Asphaltstraßen, Schifffahrtskanälen, Telegrafendrähten, Radiowellen, Ölpipelines, Satellitenstationen, Containereinheiten und Glasfaserkabeln, die die Welt in eine immer engere Einheit von Raum und Zeit eingebunden, die Unterschiede zwischen den Kontinenten zum Einsturz gebracht und eine einheitliche globale Hierarchie von Klassen und Kasten geschaffen haben.

Die Sieger haben zeitweise Kriege miteinander geführt. Aber seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion beobachten wir das deutliche Entstehen eines supranationalen Akteurs einer vereinten Klasse mit einer gemeinsamen Sprache und einer einheitlichen Ideologie: Fortschritt, Sicherheit und Stabilität.

Fortschritt: die Beseitigung regulativer Bedingungen, die darauf abzielen, das Profitmotiv des internationalen Kapitals einzudämmen.

Sicherheit: die Entwicklung und Umsetzung von Techniken der Bevölkerungskontrolle.

Wirtschaftliche Stabilität: die Aufrechterhaltung nationaler Regierungen, die lokale Bedingungen für die Rendite internationalen Kapitals aufrechterhalten.

Von Davos bis zur Wall Street, von Sao Paolo bis Peking gibt es nun eine globale Klasse der obersten 1 Prozent, die einen Wohlstand angehäuft hat, der zuvor bloß durch einen großen Krieg gefährdet wurde.

Die schrecklichste Aussicht für unsere Zukunft ist jedoch nicht der Krieg, sondern dass dies unser dauerhafter Frieden sein wird. Die Kriege von heute sind Kriege der Reichen gegen die Armen, Kriege gegen Aufstände, gegen den Terror, gegen Drogen, gegen Kriminalität. Es sind Polizeikriege. Weltweit verschanzen sich die Eliten hinter einheitlichen Sicherheitssystemen: Massenüberwachung, militarisierte Strafverfolgung, harte Grenzen, während mobiles Kapital sicher und unversteuert in Offshore-Banken aufbewahrt wird. Sollte die Mittelschicht einst als die Rolle eines Puffers zwischen der Elite und Arbeiterschaft gespielt haben, wird sie nun durch den expandierenden Sicherheitsapparat der Elite ersetzt.

Im Falle Ägyptens genießen wir den doppelten Segen der kolossalen Bürokratie eines sozialistischen Staates, der gegründet wurde, um in fast alle Aspekte des Lebens einzugreifen und der nun nach dem Dogma der strikten Austerität funktioniert — eine Verschmelzung von Stalin und Reagan, die die staatlichen Funktionen auf wenig mehr reduziert als den gewaltsamen Schutz des Ressourcenreichtums für seine Komplizen, sowohl einheimische als auch ausländische.

Der ägyptische Staat ist zu einer Avantgarde der heutigen Elitenfusion geworden und wendet enorme Energien auf, um seine Bürger*innen atomisiert und von der Selbstorganisation abzuhalten: Er kontrolliert und fragmentiert den öffentlichen Raum, während er das politische Leben stranguliert und zum Schweigen bringt; er zerstückelt unabhängige kulturelle Produktionen, während er die Massenmedien “harmonisiert”; er arbeitet unermüdlich an der Schaffung einer Öffentlichkeit, die vollständig durch Korruption definiert ist und garantiert Spaltung und Konflikt in allen täglichen Interaktionen.

Aber die CO2-Kette kann uns zeigen, wie wir über die hässliche Körperlichkeit unserer gegenwärtigen Regime hinaussehen – und sie durchschauen – können.

Schauen wir uns noch einmal die drei Positionen Ägyptens innerhalb der CO2-Kette an. In jeder von ihnen sehen wir Möglichkeiten für politisches Handeln und Denken, die weder von repressiven staatlichen Akteuren noch von ihren ausbeuterischen Unterstützern eingedämmt werden können.

DIE CO2-KETTE 1: INTER-NATIONALE SOLIDARITÄT

Zohr befindet sich im Besitz des italienischen Unternehmens Eni, Minderheitsbeteiligungen halten die russische Rosneft (30 Prozent) und das britische BP (10 Prozent). Gegenwärtig haben diejenigen von uns, die physisch in Ägypten sind, keine Möglichkeit, Eni daran zu hindern, Gas zu fördern. Aber das in Ägypten geförderte CO2 brennt in unseren gemeinsamen Himmel.

In Ländern mit demokratischer Infrastruktur können mitschuldig gewordene Unternehmen mit direkten Aktionen und Klagen ins Visier genommen werden, die Unterstützer gewählter Politiker*innen können überprüft werden, Gesetze können entworfen und erkämpft werden, Wahlen können angefochten werden.

Wir sind derzeit Zeuge einer internationalen Welle potenziell bedeutender Gerichtsverfahren. Gegenwärtig gibt es vor US-Gerichten 15 größere Fälle der Klimahaftung: Die Stadt Baltimore klagt wegen der Kosten des Hochwasserschutzes, San Francisco wegen der Kosten für seinen Seedamm, der Staat Rhode Island wegen der Abwertung von Küsteneigentum. Der bahnbrechende Fall Juliana vs. Vereinigte Staaten — der von 21 jungen Kläger*innen vorgebracht wurde — nähert sich nun seinem sechsten Jahr und ist einer von Dutzenden von Fällen weltweit, in denen Kinder wegen Verletzung ihrer künftigen Rechte vor Gericht klagen.

Es hat bereits bemerkenswerte Siege gegeben, von denen der bedeutendste, Urgenda gegen die Niederlande, die niederländische Regierung angewiesen hat, ihre Emissionen in diesem Jahr um 25 Prozent unter das Niveau von 1990 zu senken. Urgenda ist der Präzedenzfall für rund 1.442 weltweit eingereichte Fälle, in denen — auf unterschiedliche Weise — behauptet wird, dass Regierungen die Menschenrechte ihrer Bürger*innen verletzen, indem sie sich nicht für die Erhaltung einer sauberen, lebenswerten Umwelt einsetzen.

Es ist durchaus denkbar, dass ein Unternehmen wie Eni in seinem Heimatland Italien an mehreren Fronten verwundbar sein könnte: vom eigenen Recht der Italiener*innen auf eine gesunde Umwelt und ein gemeinsames Mittelmeer, über Anklagen wegen des Verstoßes gegen die offizielle italienische Außenpolitik (wie in der jüngsten Universal Periodic Review dargelegt) bis hin zu Ermittlungen in Finanz- und Buchhaltungsfragen oder als Mittäter, Komplize oder materieller Unterstützer eines Militärregimes, das seine Menschenrechtsverletzungen als Ehrenabzeichen trägt und mindestens einen italienischen Staatsbürger ermordet hat: Giulio Regeni.

Aber nicht nur Eni unterstützt das Sisi-Regime von Rom aus. An der Front der staatlichen Gewalt sehen wir ein italienisches Logo im Scheinwerferlicht eines Vans der Bereitschaftspolizei: Iveco. Am Morgen danach sammeln wir die Patronenhülsen auf und lesen das Wort Fiocchi. Wenn wir unsere Webcams zukleben und unsere Telefone in der Mikrowelle lassen, versuchen wir, uns vor dem Mailänder Hacking-Team und der Area S.p.A. zu verstecken.

Der ägyptische Staat erhält die “stabilen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen” mit italienischer Hardware aufrecht. Die italienische Hauptstadt, die auf der Flucht vor der Regulierung im Norden ist, findet in dieser Diktatur im Süden ein glückliches Zuhause, wo die Gewerkschaften seit langem ausgehöhlt sind und Arbeitsniederlegungen mit militärischen Streikbrechern begegnet werden können. Italiens Arbeitskrise (33 Prozent der Jugendlichen sind derzeit arbeitslos) steht in engem Zusammenhang mit billigen Arbeitskräften in ausländischen Autokratien und den hohen Renditen, die die sich zusammenschließenden Eliten genießen, wenn sie ihr Kapital supranational halten.

Diese wirtschaftlichen Rahmenbedingungen müssen destabilisiert werden, im Norden wie im Süden.

Am 27. September, als ich mir diese beiden Zeitlinien ansah, sah ich die Klimastreiks in München, Mailand, Paris und Waterloo, Ontario. In diesen vier Städten befinden sich die Hauptsitze der Unternehmen, die die sechs uns bekannten Schlüsseltechnologien entwickeln und verkaufen, die die digitale Überwachung des ägyptischen Regimes ermöglichen. Münchens Gamma International und Trovicor, Mailands Hacking Team und Area SpA, Paris' Nexa und Waterloos Sandvine.

Eine Karte der ägyptischen Öl- und Gaskonzessionen ab 2019 zeigt das Land in 195 verschiedene geographische Gebiete unterteilt, die von staatlichen, lokalen und internationalen Energieunternehmen erkundet werden können. In diesem Jahr waren insgesamt 20 internationale Energieunternehmen in Ägypten tätig. Sie haben Hauptsitze in London (BP, Perenco, SDX, Pharos), Houston (Apache, Apex), Paris (Total, Perenco), Hamburg (Dea), Den Haag (Shell), Rom (Eni), Dublin (Petroceltic), Moskau (Lukoil), Kiew (Nafto Gas), Zagreb (Ina-Nafte), Santiago de Chile (Sipetrol) und Calgary (TransGlobe).

In jeder dieser Städte gab es Klimastreiks.

Die “wirtschaftlichen Rahmenbedingunge” müssen destabilisiert werden. Es gibt so viele Möglichkeiten für eine neue, substanzielle internationale Solidarität.

DIE CO2-KETTE 2: LEVIATHAN & SUPRANATIONALE SOLIDARITÄT

Wir sind in den Kommunikationsnetzen des Kapitalismus verstrickt. Wie können wir sie besser nutzen, um die Bemühungen zwischen verschiedenen Räumlichkeiten zu koordinieren, die heute durch harte Grenzen und wirtschaftliche Barrieren getrennt sind?

Ich habe die oben genannten Beispiele für inter-nationale Solidaritäten genannt – sie finden zwischen Menschen statt, die innerhalb ihrer verschiedenen Nationen existieren. Wir sollten aber auch über supranationale Möglichkeiten nachdenken. Wir können sie sehen, wenn wir den einzelnen Teilen in den uns umgebenden CO2-Ketten folgen.

Auf rechtlichem Gebiet verklagt der peruanische Landwirt Saúl Lliuya derzeit den größten deutschen Stromerzeuger RWE vor einem deutschen Gericht. Er argumentiert, RWE solle 0,47 Prozent des Hochwasserschutzes seiner Stadt bezahlen: Der jährliche Anteil des Unternehmens an den weltweiten Treibhausgasemissionen wird auf 0,47 Prozent geschätzt. Obwohl der Fall zunächst abgewiesen wurde, wird er nun vor dem Oberlandesgericht Essen verhandelt.

Auf den Philippinen hat die Menschenrechtskommission des Landes mit ihrer Untersuchung darüber, welche Konsequenzen die 50 öffentlich gehandelten “Carbon Majors” für die Menschenrechte der Filipinos haben, einen weltweiten Präzedenzfall geschaffen. Die Kommission erklärt, dass sie “versucht, die Haftungsfrage gegen Unternehmen, die nicht auf den Philippinen ansässig sind, auf der Grundlage der grenzüberschreitenden Auswirkungen ihrer Geschäftstätigkeit zu klären”.

Die philippinische Menschenrechtskommission schätzt, dass Eni für 0,41 Prozent der gesamten CO2-Emissionen seit 1751 verantwortlich ist. Was sind 0,41 Prozenz der Kosten für die zum Schutz von Alexandria erforderlichen Küstenbarrieren? Was sind 0,41 Prozent der Kosten für die landwirtschaftliche Nutzfläche, die wir durch jene Versalzung verlieren, die nicht mit einer Mauer zurückgehalten werden kann? Wie hoch sind 0,41 Prozenz der Kosten für die Korallenbleiche im Naturwunder des Sinai-Korallenriffs?

Welche neuen Klagen können in supranationaler Koordination zwischen denjenigen in den Städten des Klimastreiks und denjenigen, die in Ressourcen-Kolonien eingesperrt sind, vorgebracht werden?

Die Bewegung “Boycott, Divestment and Sanctions” (BDS) für die Rechte der Palästinenser*innen liefert das beste Beispiel. Ein zentrales Palästinensisches Komitee, das BNC, gibt Richtlinien und Vorschläge für Handlungsprinzipien und legitime Ziele vor: multinationale Unternehmen, deren Infrastrukturarbeiten gegen internationales Recht verstoßen, Banken mit Beteiligungen an Waffenunternehmen, Marken, die mit israelischen staatlichen Institutionen Gewinne erzielen, kulturelle Veranstaltungen, die von israelischen Ministerien finanziert werden, und so weiter. Dieser offene Rahmen, innerhalb dessen Richtlinien herausgegeben werden, die es jedem ermöglichen, sich zu engagieren, hat es der BDS-Bewegung fünfzehn Jahre lang geschafft, Jahr für Jahr an Schwung zu gewinnen, ein globales politisches und wirtschaftliches Bewusstsein über Konsumentscheidungen zu schaffen und einen leichten Einstieg in politisches Engagement für Menschen auf der ganzen Welt zu ermöglichen, während sie bedeutende wirtschaftliche und kulturelle Siege verbuchen kann.

Auf diesem Modell sollte aufgebaut werden. Und vielleicht ist eine Initiative wie die Progressive Internationale der richtige Rahmen dafür. Es könnte ein supranationales Komitee für CO2-Boykotte mit einem rotierenden Gremium von Mitgliedern aus Ländern des Südens schaffen, das Unternehmen mit Hauptsitz im Norden auf eine schwarze Liste setzt. Jedes Jahr könnten zwanzig Unternehmen in die Liste aufgenommen werden, zusammen mit Leitlinien und Richtlinien, wie man sich gegen sie engagieren könnte. Auf der Liste würden natürlich auch Energieunternehmen stehen, sie sollte aber auch auf Unternehmen ausgedehnt werden, die obskure, strategische Positionen in der CO2-Kette einnehmen.

Ein solches Komitee könnte dann, sollte es gut ausgestattet sein, ein Portfolio von Informationen — einschließlich einer Analyse der 20 Unternehmen — entwickeln, das der Öffentlichkeit einmal pro Jahr zugänglich gemacht würde:

  • Rechtlicher Rahmen: Wie oben in den Fällen von Eni und RWE diskutiert, könnte das Komitee rechtliche und gerichtliche Möglichkeiten untersuchen, Kläger*innen mit Anwält*innen zusammenbringen, um bei der Zusammenstellung von Sammelklagen helfen. Das Komitee würde einen technischen und logistischen Mechanismus für die Kombination von Süden und Norden bereitstellen, die erforderlich ist, um solche Fälle vor Gericht zu bringen. Von den 50 “Carbon Majors” haben nur zwei ihren Sitz in einem Gerichtsbezirk, in dem man realistischerweise kein Verfahren gegen sie einleiten könnte: Die russischen Lukoil und Yukos. Die übrigen befinden sich alle in Nordamerika, Europa, Australien, Japan und Südafrika.
  • Wirtschaftliche Zusammensetzung: Das Komitee könnte Desinvestitionsstrategien, Informationen über Aktionäre, über Investment- und Pensionsfonds, die Anteile an diesen Unternehmen halten, veröffentlichen. Im Jahr 2020 hat sich die Sprache der Vermögensverwalter bereits deutlich gewandelt — vor allem BlackRock, der weltweit größten Vermögensverwalter, hat ankündigt, Investitionen mit einem “hohen Nachhaltigkeitsrisiko” fallen zu lassen. Dieses Konzept muss über den einfachen Verkauf von nicht-nachhaltigen Vermögenswerten weitergedacht werden.
  • Öffentliche Präsenz: Für den Durchschnittsverbraucher ist es einfacher, einige bestimmte Unternehmen zu boykottieren. Das Komitee sollte daher Pläne von Wertschöpfungsketten, Informationen über verbrauchernahe Tochtergesellschaften und, im Falle von Energieversorgern, lokale erneuerbare Alternativen veröffentlichen. Das sind Instrumente, die den Menschen helfen sollen, die sie umgebende wirtschaftliche Landschaft zu lesen. Neben dem wirtschaftlichen Druck sollte die jährlich veröffentlichte Schwarze Liste eine Quelle kulturellen Drucks sein, die Kritik in den sozialen Medien, Medienkritik und populäre Verbraucherkampagnen auslöst. Sie sollte Vorschläge für direkte Aktionen mit sich bringen, indem sie öffentlich zugängliche Bestände abbildet.

Ein solches Komitee könnte zu einem wichtigen Forum für das nächste Kapitel der supranationalen Koordination werden. Diese ist notwendig, um der supranationalen Profitgier der großen Unternehmen an der Spitze der CO2-Kette und ihrer Nutznießer in der Mitte entgegenzutreten. Es könnte auch eine nützliche Arena für Süd-Süd-Koordination sein: Wir in Ägypten haben zum Beispiel viel von Nigeria und den zahlreichen Klagen zu lernen, die in den letzten Jahren gegen “Supermajors” – einschließlich Eni – eingereicht wurden.

Zu guter Letzt könnte es die Koordination erleichtern, die für die Durchführung mehrjähriger, länderübergreifender Kampagnen erforderlich ist. Nehmen wir beispielsweise Siemens. Wie bereits erwähnt, hat das Unternehmen kürzlich den größten Auftrag in seiner Geschichte zum Bau von drei Kombikraftwerken in Ägypten erhalten. Diese Tatsache stellt für sich genommen kein realistisches Ziel für eine Boykottkampagne dar. Aber bedenken wir, dass Siemens 2019 sein Angebot für den Bau einer Erweiterung der Jerusalem Light Rail zurückgezogen hat: ein umstrittenes Infrastrukturprojekt, das die Kolonisierung Jerusalems durch Israel weiter zementieren soll. Der Rückzug von Siemens war das Ergebnis einer mehrjährigen Kampagne von BDS-Aktivist*innen. Siemens war jedoch maßgeblich am Aufbau der Kohlenwasserstoff-Infrastruktur in Ägypten beteiligt, die es Israel ermöglicht hat, das Gas des Leviathans zu exportieren. Es gab dort eine Gelegenheit für eine supranationale Kampagne, die wir in Zukunft nicht verpassen dürfen.

DIE CO2-KETTE 3: ARAMCO UND DAS ENDE DES ÖLS

Das Ende des industriellen Kapitalismus wird das saudische Regime zum Einsturz bringen und das regionale Netzwerk reaktionärer Vertreter verdampfen lassen, die sich auf ihre bisher unendlichen Petrodollars stützen.

Saudi Aramco – das “wertvollste” Unternehmen der Welt, der zentrale Aktivposten des saudischen Regimes und die Quelle der größten Umweltverschmutzung in der Geschichte – steht zum Verkauf. Warum? Warum das Rückgrat Ihres Landes an Investoren verkaufen, die sich nur von der Profitmaximierung leiten lassen? Weil die Zeit knapp wird.

Der Preis für erneuerbare Energien sinkt Jahr für Jahr. Wir sind jetzt kurz davor, dass es billiger ist, neue Wind- und Solaranlagen zu bauen, als bestehende thermische Anlagen zu warten. 79 Prozent der europäischen Kohlekraftwerke – von der Konkurrenz der erneuerbaren Energien unterboten – arbeiten bereits mit Verlust. Erneuerbare Energien werden selbst nach konservativen Schätzungen der Internationalen Energieagentur (IEA) innerhalb von fünf Jahren mit der Kohleproduktion gleichziehen. Indiens Emissionen stiegen letztes Jahr noch um 2 Prozent, das war aber der niedrigste Anstieg seit 20 Jahren, da Wind- und Solarenergie stark gewachsen sind. Jeden Monat wird ein neuer Rekord für kostengünstigen photovoltaischen Strom aufgestellt. In einem bahnbrechenden neuen Bericht (wiederum von der konservativen IEA) wurde erklärt, dass die Offshore-Windenergie die Kapazität hat, den gesamten Energiebedarf der Welt 11 Mal zu decken.

Und das war vor der höheren Gewalt des Coronavirus. Der von Mohammed Bin Salman im März ausgelöste Preiskrieg und weltweite Nachfrageeinbruch führten dazu, dass die Ölpreise kurzzeitig in den negativen Bereich abstürzten, als sich die US-Lagerbestände füllten; die Ozeane sind derzeit mit großen Rohöltankern übersät, die als schwimmende Lagerstätten für Öl fungieren und nirgendwo hinfahren können; Warren Buffett veräußerte alle seine Anteile an US-Fluggesellschaften mit der Begründung, dass sich die Branche wahrscheinlich nie vollständig erholen werde; Arbeiter*innen in der Schwerindustrie haben gefordert, dass ihre Anlagen für medizinische Geräte umgerüstet werden; die Bürgermeister*innen von 40 Großstädten haben eine gemeinsame Erklärung veröffentlicht, in der sie sich in ihren Sanierungsplänen zu größerer Gleichberechtigung und Klimaresilienz verpflichten und sich schnell dafür einsetzen, das Radfahren zu fördern und den öffentlichen Raum zu vergrößern; ein wichtiges Strategiepapier, in dem 200 Zentralbanker und Finanzminister aus der ganzen Welt befragt wurden, erklärte, dass die Maßnahmen zur wirtschaftlichen Erholung die CO2-Emissionen reduzieren müssen.

Es besteht die Chance, 2019 zum Jahr von “Peak Oil” (Höhepunkt der Ölförderung) zu machen.

Auf der anderen Seite haben allerdings sowohl China als auch die USA beim Umweltschutz eine Pause eingelegt, Umweltverschmutzern aus der Patsche geholfen und Fluggesellschaften Steuererleichterungen eingeräumt; Großkonzerne sind bereit, zahllose kleinere Konkurrenten zu schlucken; billiges Öl wird den Verbrauch ankurbeln, Gesundheitsbedenken werden den Autoverkehr ankurbeln; die Kohleimporte in China sind um 35 Prozent gestiegen; eine strengere Überwachung und Grenzkontrollen werden von einigen Teilen der Gesellschaft enthusiastisch begrüßt, und in jedem Land sind es unweigerlich die Ärmsten, die am meisten leiden.

Dieser Moment birgt sowohl Gefahren als auch Möglichkeiten in sich.

Das Ende des Erdölzeitalters wird den politischen Status quo in der ganzen Welt radikal verändern, insbesondere in Nordafrika und Westasien, wo die Kontrolle über Kohlenwasserstoff-Ressourcen ein bestimmendes Merkmal des algerischen Militärregimes ist; der libyschen Fragmentierung; der inner-sudanesischen Feindschaft; des türkischen Kriegs im Mittelmeerraum, der kurdischen territorialen Unterdrückung, des saudi-iranischen Kalten Kriegs, der “take the oil”-Syrienpolitik von Trump, des Protoimperialismus der Emirate und von Katar, der Zerstörung des Irak sowie der Diktaturen Aserbaidschans, Kasachstans, Turkmenistans und Usbekistans.

Überall auf der Welt hat sich eine politische und technologische Dynamik entwickelt, die jetzt durch COVID-19 beschleunigt wird. Indem wir daran arbeiten, das Erdölzeitalter zu beenden, arbeiten wir auch daran, die Regierungspolitik dieses Zeitalters zu beenden.

Dekarbonisierung und Dekolonisierung sind keine getrennten politischen Projekte, sie sind beschleunigen sich gegenseitig.

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Sowohl Bernie Sanders als auch Jeremy Corbyn machten den Green New Deal zum Mittelpunkt ihres Wahlprogramms, und beide wurden besiegt–zum großen Teil durch die inneren Machenschaften ihrer eigenen Parteien. Heute werden “Green Stimuli” und grüne Wiederaufbauprogramme von der radikalen Linken bis zum neoliberalen Zentrum angeboten. Das Verständnis von “grün” ist an sich schon umstritten.

Wäre es umweltfreundlich, die Einführung von Elektroautos für den individuellen Besitz zu subventionieren? Technisch gesehen, ja: weniger Verbrennungsmotoren bedeuten weniger CO2-Emissionen. Aber die Batterie für jedes Elektroauto benötigt eine beträchtliche Menge an Kobalt, das zu 75 Prozent in der Demokratischen Republik Kongo abgebaut wird, meist unter schrecklichen, “handwerklichen” Bedingungen. Unternehmen, bei denen Batterien im Mittelpunkt ihrer Produkte stehen, wie Apple und Tesla, haben im Laufe der Jahre versprochen, “die Sichtbarkeit der Lieferkette zu verbessern” oder Kobalt ganz aus ihren Batterien zu entfernen. Aber das ist nie passiert.

Kobalt ist eines von Dutzenden Beispielen für die Komplexität der Dekarbonisierung. Eine kürzlich von der Europäischen Kommission durchgeführte Studie kam zu dem Schluss, dass für eine vollständige Dekarbonisierung Europas bis 2050 eine massive Erhöhung der derzeitigen weltweiten Rohstofflieferungen erforderlich ist. Für den Aufbau der Wind- und Solarinfrastruktur, die für die Energieversorgung der Europäischen Union erforderlich ist, werden 300 Prozent der gesamten Germaniumproduktion der Welt benötigt; das 40-fache der derzeitigen Lieferungen an Indium, Gallium, Tellur, Kadmium und Selen; die globale Produktion von Kupfer, Glas, Stahl, Beton, Aluminium und Kunststoff muss um das 20-fache gesteigert werden. Und das nur, um die EU zu dekarbonisieren.

Der Ressourcen-Rausch, der die Kolonialisierung Amerikas und Afrikas vorangetrieben hat, ist noch nicht vorbei. Der grünen Wiederaufbau im Norden könnte sich für die Bewohner*innen der Ressourcen-Kolonien sehr nachteilig auswirken. Wenn sie nicht mit einer ernsthaften Politik der Entkolonialisierung einhergeht, ist es leicht zu erkennen, wie die Diktatoren des Südens dauerhaft unterstützt werden, solange sie die Versorgung mit den wichtigsten Mineralien sicherstellen; so werden selbst halbfunktionierende Staaten in “Tantal-Republiken” kleiner Steinbrüche zerfallen, die von kleineren Warlords regiert werden; und so werden die alten “Savage Nations”, sobald die EU Netto-Null-Emissionen erreicht hat, wieder zu primitiven Umweltverschmutzern gemacht und die massiven CO2- und Kolonialschulden einfach vergessen.

Weite Teile Afrikas, Asiens und Lateinamerikas werden geopfert werden, um den Planeten zu “retten”. Mit anderen Worten: eine Zukunft, die unserer Gegenwart nicht unähnlich ist.

Womit wir wieder bei der Gegenwart wären und der lebenswichtigen Notwendigkeit eines GlobalenGreen New Deal.

Es ist unmöglich vorherzusagen, was die kommenden Monate bringen werden. Eine tiefgreifende Neuordnung unserer Welt ist bereits im Gange: Eine beispiellose Depression hat begonnen, das Öl steckt in der Krise, wiedererstarkende Nationalstaaten erhalten außerordentliche Polizeibefugnisse, beispiellose Überwachungsmaßnahmen werden ergriffen und mit jedem Tag rückt die Möglichkeit eines kaskadenartigen Zusammenbruchs der finanziellen und politischen Systeme näher.

Wer weiss, wo wir in einem Jahr sein werden?

Das “Overton Window” — das sich wandelnde Spektrum von Ideen, die als politisch möglich gelten — wurde in den letzten Wochen so völlig offen geworfen, dass fast jede Zukunft möglich geworden ist. Wer wäre überrascht, wenn wir uns in drei Jahren in einem globalen System ständiger biometrischer Überwachung wiederfinden, angeführt von der nun dominierenden chinesischen Supermacht, die die Welt in einer Gesundheitshierarchie reorganisiert, um sicherzustellen, dass das Marktwachstum in Zukunft nicht gestört wird.

Ebenso möglich wäre ein massiver gesellschaftlicher Umbau rund um die öffentliche Gesundheit, wenn Bevölkerungen auf der ganzen Welt — für einen Moment aus dem vermeintlich unaufhaltsamen Rhythmus des Kapitalismus rausgeworfen — aus ihren Lockdowns auftauchen, mit einer zusammengebrochenen Wirtschaftsordnung konfrontiert sind und fordern, dass diese auf den Prinzipien der Nachhaltigkeit, Transparenz und Gemeinschaft wieder aufgebaut wird, wobei das menschliche und ökologische Leben weiterhin Vorrang vor den Anforderungen des Marktes hat.

Durch die Krisenzyklen der Geschichte entstehen im Moment des Wiederaufbaus neue Möglichkeiten.

Wir nähern uns jetzt einem solchen.

Eine Version dieses Essays erschien ursprünglich in Mada Masr als Carbon Colonies & A Green New Deal im Januar 2020. Es wurde für die Veröffentlichung hier aktualisiert.

Foto: Pikist

Available in
EnglishGermanSpanishFrenchPortuguese (Brazil)Portuguese (Portugal)
Author
Omar Robert Hamilton
Translator
Izabela Anna Moren
Date
24.06.2020
Source
Original article🔗
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