Anmerkung der Redaktion: Mehr als ein Jahrzehnt nach dem berühmten "peruanischen Wunder" des Wirtschaftswachstums sieht sich das Land in diesem Jahr mit der schlimmsten Wirtschaftskrise Lateinamerikas konfrontiert. Ein hohes Ausmaß an Armut, Ungleichheit und informeller Arbeit hat die Schwächen des peruanischen Wirtschaftsmodells offenbart. Mitten in einer beispiellosen Wirtschafts- und Gesundheitskrise hat das Machtvakuum in den politischen Institutionen Perus die Bedingungen für den Ausbruch einer machtvollen Mobilisierung des peruanischen Volkes geschaffen.
Martín Vizcarras Amtsenthebung setzte die Zündschnur der Straßenproteste in Brand. Sein Nachfolger, Manuel Merino, wurde unter massiver Mobilisierung zum Rücktritt gezwungen und innerhalb einer Woche wurde vom Kongress ein zweiter Präsident gewählt. Diese Krise hat eine tiefe Kluft in der Gesellschaft offenbart, insbesondere zwischen den jüngeren Generationen und der politischen Führung.
Zum Zeitpunkt der Verfassung dieses Textes war Peru ein Land, in dem zwei der drei Gewalten des Staates von niemandem geleitet wurden. Eine Exekutive ohne einen Präsidenten oder Vizepräsidenten, ohne Leiter des Ministerrats und ohne amtierendes Kabinett. Eine Legislative ohne Präsident und ohne Exekutivrat. Am Sonntagabend scheiterte der Kongress daran, bei einer Abstimmung über eine einzige, angeblich einvernehmliche Liste einen neuen Rat zu bilden, an deren Spitze Rocío Silva Santisteban stand, einer der Anführer der Frente Amplio und Menschenrechtsaktivist.
Wie sind wir zu dieser chaotischen Situation gekommen? Am Montag, dem 9. November, gelang es dem im Januar dieses Jahres gewählten Kongress, das zu tun, was ihm vor einem Monat nicht gelang: Präsident Martin Vizcarra abzusetzen, der seinerseits im März 2018 die Nachfolge von Pedro Pablo Kuczynski übernahm. Sie machten Fortschritte dabei, dem Präsidenten seine Macht zu entziehen unter dem Vorwand von finanziellen Untersuchungen, die Anzeichen von Korruption durch Vizcarra während seiner Zeit in der Regionalregierung von Moquegua vor mehr als einem Jahrzehnt zeigten.
Vor einigen Jahren wurde der Begriff "Koalition der Unabhängigen" geprägt, um die Funktionsweise der peruanischen politischen Parteien zu erklären, deren Politiker*innen sich auf politische Projekte einigen, dann aber abspringen, sobald etwas nicht mehr in ihrem Interesse liegt. Es gibt keine Ideologien, Programme oder langfristige Projekte. Es existiert keine politische Elite, sondern eher eine Gruppe von Menschen, die sich mit der Macht abwechseln, ohne sich im Laufe der Zeit selbst zu etablieren.
Was vor einer Woche geschah, spiegelt die Vorgehensweise der peruanischen Wahlpolitik wider, eine bunt gemischte Interessenkoalition, deren einziges gemeinsames Ziel der Abgang von Vizcarra war.
Darunter Kongressabgeordnete, die Unternehmer*innen aus Universitäten vertreten, die wegen Nichterreichens von Mindestqualitätsstandards geschlossen wurden, Firmen, die natürliche Ressourcen in verbotenen Gebieten ausbeuten wollen, und andere Unternehmen aller Art vertreten. Und Kongressabgeordnete, die ihre politische Karriere entgegen der rechtlichen Verbindlichkeiten fortsetzen wollen. Und andere, die den zahlreichen Gerichtsverfahren entgehen wollen, denen sie sich stellen müssen. Tatsächlich ist eine mögliche Interpretation der Beseitigung von Vizcarra, dass einige Politiker*innen in diesen sui generis Parteien versucht haben, die zaghaft umgesetzten politischen Reformen rückgängig zu machen, die bei bescheidenen positiven Wahlergebnissen bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden April das Ende ihrer Organisationen und damit der Grundlage ihrer Lebensweise bedeuten würden.
Auf der Kehrseite dieser opportunistischen Koalition stand ein Präsident wie Vizcarra, der nicht verstand, dass er einen eigenen parlamentarischen Block brauchte, um sich gegen mögliche Angriffe des Kongresses zu verteidigen. Er legte nicht einmal eine eigene Liste vor und baute auch keine politischen Allianzen auf, die es ihm ermöglichen würden, dem Kongress schließlich entgegenzutreten. Es war klar, dass die Möglichkeiten zur Stabilisierung des letzten Abschnitts seiner Regierung darin lagen, einem präsidialen Koalitionsmodell mit einem Kabinett zu folgen, das eine Koalition zum Ausdruck bringt, die seiner Regierung Nachhaltigkeit verleihen würde.
Ende September 2019 löste Vizcarra den Kongress im Einklang mit seinen präsidialen Befugnissen auf, um die konspirativen Versuche des Fujimorismus zu entschärfen. Eingehüllt von einer Welle der Popularität nach der Auflösung beschloss der Präsident, keine Liste für die Kongresswahlen im Januar 2020 vorzulegen. Ohne Präsidentschaftskandidatur und mit einer ungewöhnlich hohen Zahl ungültiger Stimmen und Enthaltungen wurden diese Wahlen von einer Fragmentierung geprägt, wobei die Parteien mit dem meisten Stimmen nur knapp 10 Prozent der Stimmen erhielten. Gewählte Kongressabgeordnete ohne parlamentarische Erfahrung vervollständigten das Bild, das wir jetzt sehen.
Da es keine Regierung gab, zermürbte Vizcarra schnell seine Beziehungen zu den neuen Parlamentarier*innen. Als der Schutz durch die mögliche Auflösung des Kongresses im vergangenen Juli endete, weil die Verfassung eine solche Auflösung im letzten Regierungsjahr nicht zulässt, eskalierten die Spannungen bis zum Äußersten, und seit August sind die Angriffe der Kongressmitglieder nicht mehr aufzuhalten.
Die sich trennende Koalition war schwach strukturiert, und die Regierung von Manuel Merino - der Präsident der Abgeordnetenkammer, der Vizcarra ablöste - litt unter dem gleichen Problem. Das erste Warnzeichen war der Viehzüchter-Unternehmer aus dem Norden des Landes, der in seiner Antrittsrede, ideenlos und voller Klischees war - unfähig, den politischen Moment, den das Land durchlebte, zu erkennen. Das zweite Zeichen war, dass Merino prompt von der öffentlichen Bühne verschwand, sobald er die Schärpe des Präsidenten erhalten hatte.
Da er sein Versprechen eines "breiten" Kabinetts nicht halten konnte, beschloss er, sich im Regierungspalast zu verstecken. Die Ernennung von Antero Flores-Aráoz zu seinem Vorsitzenden des Ministerrats ("Premierminister") bestätigte die Unmöglichkeit, politisches Personal über die Grenzen der konservativsten - und sogar rassistischen - Rechten des Landes hinaus einzuberufen.
Die Mehrheit der Kabinettsmitglieder wurde aus zwei Quellen rekrutiert. Die erste war die Coordinadora Republicana, ein Raum, der um konservative Politiker*innen, Drahtzieher*innen und Journalist*innen rund um den Fujimorismus organisiert war, die nach der Schließung des Fujimorisischen Kongress und dem Fall seines Führers Keiko Fujimori von der politischen Bühne verbannt wurden. Vertreter*innen der wichtigsten Unternehmensverbände des Landes waren der andere - zwar minderheitlich, aber wichtige - Sektor, dessen Mitglieder dem Kabinett beitraten. Diesem Sektor waren drei Ministerien zugeordnet, wobei Patricia Teullet, General Manager of the National Confederation of Private Business Institutions (CONFIEP), der Verband, der die große peruanische Geschäftswelt vertritt, die sichtbarste Figur war. Dieselbe Institution gab eine Erklärung ab, in der sie die Präsidentschaft des Merino in ihren Anfängen unterstützte.
Nichtsdestotrotz sahen weder die De-facto-Regierung, noch diejenigen, die sich gegen die Absetzung von Vizcarra aussprachen, noch die verschiedensten Analyst*innen das Ausmaß voraus, welches die Mobilisierung unter Führung von Schülern*innen und Studenten*innen ab Montagabend nach der Abstimmung über die Entlassung erreichen würden.
Wenn Merino und diejenigen, die ihn auf diesem Abenteuer begleiteten, dachten, dass der Abgang von Vizcarra das Ende ihrer Probleme bedeutete, haben sie sich geirrt. Die Mobilisierungen vervielfachten sich rasch. Soziale Netzwerke fungierten als Hauptorganisationsmittel und viele Techniken wurden von Mobilisierungen anderswo übernommen. Die Lehren, die aus den Mobilisierungen in Chile, aber auch Hongkong gezogen wurden, waren für diejenigen, die in dieser Tage marschierten, von Nutzen. Taktiken wie der Einsatz von Laserpointern gegen die Polizei, Mechanismen zur Deaktivierung von Tränengasbomben und der Einsatz dezentralisierter Mobilisierung, um die Polizei zu zwingen, ihre Bemühungen zu zersplittern, waren Teil der übernommenen Strategien.
Es sollte darauf hingewiesen werden, dass zwar einige Gewerkschaften an den Protesten teilnahmen, die wichtigsten nationalen Gewerkschaften aber erst ab Donnerstag beschlossen, sich anzuschließen. In den letzten Tagen hat die Gewerkschaftskonföderation peruanischer Arbeiter*innen (CGTP), die Hauptgewerkschaft des Landes, zu einer ersten großen Mobilisierung für nächsten Mittwoch aufgerufen. Wenn die politische Krise bis dahin noch aktiv ist, könnte es zu einem ersten Treffen zwischen der Jugendbewegung, die Merino zum Austritt aus der Macht gezwungen hat, und den organisierten Volkssektoren kommen.
Die Unterdrückung am Donnerstag war exzessiv und hinterließ viele Verletzte, einige von ihnen schwer, aber die Niederschlagung am Samstag war einfach kriminell. Mit der Zeit und als die Öffentlichkeit Zeuge wurde, wie Merinos "Übergangsregierung" auseinanderbrach, wurden die Polizeikräfte immer aggressiver, da die politische Kontrolle nachließ. Sie setzten nicht nur Tränengas, sondern auch Schusswaffen mit Bleikugeln und anscheinend sogar Waffen größeren Kalibers ein. Am Samstagabend wurden zwei Studenten*innen im Alter von 22 und 24 Jahren getötet, anscheinend von Mitgliedern der nationalen Polizei. Mehr als 60 Personen wurden verletzt, und gleich viele verschwanden. Manche von ihnen wurden seither ausfindig gemacht, aber einige bleiben unauffindbar.
Vizcarras Untergang ähnelt dem von Paraguays ehemaligem Präsidenten Fernando Lugo, der 2012 überstürzt aus dem Amt entfernt wurde. Aber das Wochenende glich eher dem Argentinien des Jahres 2001, als enorme politische Instabilität und Straßenproteste dieses kritische Jahr prägten.
Das Ausmaß der Mobilisierungen und die wachsende Unzufriedenheit der Öffentlichkeit mit dem derzeitigen politischen Klima, verbunden mit einer bereits schwierigen Situation aufgrund der Pandemie, hat die Büchse der Pandora geöffnet. Ein Vorschlag für eine Verfassungsänderung breitet sich über Sektoren der Linken aus und schließt nun auch andere soziale und auch politische Sektoren ein. Die Suche nach einer neuen Verfassung beschränkt sich auch nicht auf eine Reform des peruanischen Wirtschaftsmodells. Die von Merino und dem Kabinett Flores-Aráoz ausgelöste Krise hat gezeigt, dass es unmöglich ist, das politische System zu reformieren. Alle Projekte, die der peruanische Kongress seit der Rückkehr zur Demokratie nach dem Sturz von Alberto Fujimori im Jahr 2000 gefördert hat, sind gescheitert. Die umgesetzten politischen Reformen sind bestenfalls unvollständig und schlimmstenfalls ein verworrener Versuch, alles beim Alten zu belassen.
Eine letzte Bemerkung zu den bisherigen Ereignissen: Die Krise zeigt den Verfall einer Generation von Politikerinnen, die, wie der kurzlebige Flores-Aráoz zugab, weder versteht, was auf der Straße passiert, noch was die Demonstrierenden wollen. Im Allgemeinen ist Peru ein Land, das von politischen Führungspersönlichkeiten regiert wird, die weit über dem Durchschnittsalter der Bevölkerung liegen, die sie zu vertreten vorgeben. Sie sind nicht in der Lage, sich mit den Wünschen der Wählerinnen zu verbinden und verstehen ihre Formen der politischen Repräsentation nicht. Die jungen Menschen, die zum Protest erschienen sind, sind die erste Generation, die ihr ganzes Leben unter demokratischen Regierungen gelebt hat. Es ist unmöglich, diese Tatsache von ihren politischen Erwartungen zu trennen.
Diese Kluft zwischen der Regierung und der Straße wurde durch ein extrem konservatives Kabinett mit einer hierarchischen und autoritären Vision von Politik und Machtübernahme noch vergrößert. Die Mobilisierungen sollten eine politische Generation in den Ruhestand versetzen, aber noch wichtiger ist, dass sie dazu dienen, die reaktionären Sektoren zu beseitigen - Sektoren, die seit einigen Jahren in der Gesellschaft an Gewicht verloren haben, aber am Rande der öffentlichen Meinung und des peruanischen Staates Unterschlupf gefunden haben.
Zum Abschluss dieses Artikels: In einer zweiten Abstimmung gelang es dem Kongress, einen neuen Exekutivrat zu bilden, dessen Präsident der neue Präsident des Landes wird. Der gewählte Abgeordnete ist Francisco Sagasti, der der Purple Party von Julio Guzmán angehört und ein bekannter Akademiker ist. Als Spezialist für Zukunftsforschung und treibende Kraft hinter verschiedenen Initiativen zum Umdenken in Peru im Vorfeld der Zweihundertjahrfeier wird Sagasti sicherlich in der Lage sein, ein großes Kabinett zu bilden, das es ihm erlaubt, bis Juli 2021 zu regieren. Was die Programme betrifft, wird das Land nach dem kurzen Ausbruch der De-facto-Regierung mit ultrakonservativen Tendenzen weiterhin von den gleichen Koordinaten geleitet werden wie in den letzten zwei Jahrzehnten.
Carlos Alberto Adrianzén hat einen Abschluss in Soziologie von der Pontificia Universidad Católica del Perú. Derzeit ist er Stipendiat des Nationalen Rates für wissenschaftliche und technische Forschung (Conicet) von Argentinien und Doktorand an der Nationalen Universität San Martín (UNSAM) in Buenos Aires.
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