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Bezos' dystopisches Erbe geht weit über Amazon hinaus

In 27 Jahren als Amazon-CEO hat sich Jeff Bezos für extrem invasive Taktiken eingesetzt, bei denen Beschäftigte unerbittlich überwacht, bewertet und zermürbenden Bedingungen unterworfen werden. Diese verbreiten sich nun rasant in den Fulfillment-Centern des E-Commerce, aber auch unter anderen Arbeitgebern und Branchen.
In dem neuen Bericht „The Amazon Panopticon“ katalogisiert UNI Global Union die verschiedenen Methoden, die Amazon einsetzt, um Arbeiter durch extreme Überwachung und Kontrolle unter Druck zu setzen.

Anfang diesen Monats ist Jeff Bezos, der Milliardär, der ein Firmenimperium auf dem Rücken von Beschäftigten aufgebaut hat, als CEO von Amazon zurückgetreten. Beim Aufbau seines expansiven Konglomerats in den Bereichen E-Commerce, Logistik, Cloud Computing, Unterhaltung, Lebensmittel und fast allem anderen verließ sich Bezos auf eine dystopische Vision, in der Beschäftigte unerbittlich überwacht, bewertet und unter hohem Druck und zermürbenden Bedingungen eingesetzt werden. Dieses Modell ist so unmenschlich, dass, wie die New York Times kürzlich berichtete, „Amazon seine Mitarbeiter so schnell verheizt, dass die Führungskräfte besorgt sind, dass ihnen die Leute ausgehen, die sie einstellen können.“ Bloomberg News berichtete auch, dass Amazon-Fahrer*innen wegen kleinerer Missgeschicke, die ein echter Manager ignoriert hätte, „von der App gefeuert“ wurden.

Als Reaktion auf den Rücktritt von Bezos veröffentlichte UNI Global Union „Das Amazon-Panoptikum“, das die verschiedenen Methoden katalogisiert, die Amazon einsetzt, um durch extreme Überwachung und Kontrolle Druck auf Arbeiter auszuüben. Einzeln betrachtet ist keine dieser Überwachungsmethoden gänzlich neu, aber die Kulmination aller Amazon-Arbeitsplatztechnologien schafft ein Umfeld der Kontrolle, das in der jüngsten Vergangenheit einzigartig ist.

Die invasiven Taktiken des Unternehmens verbreiten sich schnell in den Fulfillment-Centern des E-Commerce und auch bei anderen Arbeitgebern und Branchen, und zwar in einem bisher unbekannten Tempo und Ausmaß.

In der Callcenter-Branche beispielsweise setzen Unternehmen neben der raschen Einführung von Telearbeit ausgeklügelte Überwachungsprogramme in den Wohnungen ihrer Beschäftigten ein – im Grunde genommen wird das Panoptikum aus dem Warenlager in die Schlafzimmer, Küchen und, im besten Fall, Home Offices der Arbeitenden gebracht.

Der Haken dabei? Die Beschäftigten müssen sich rund um die Uhr überwachen lassen, einige mit eingeschalteten Kameras während der gesamten Arbeitszeit, was zwangsläufig in die Privatsphäre ihrer Wohnungen eindringt.

Und die nächste Frage ist – nun, angenommen, wir wollen nicht, dass Arbeiter*innen 40 Stunden pro Woche oder mehr damit verbringen, ihren Körper einem Aufpasser oder Kameras in ihren Schlafzimmern auszuliefern, was können wir dann tun?

Die Beschäftigten stimmen mit den Füßen ab. Der Personalwechsel ist sowohl bei Teleperformance, dem größten Callcenter-Arbeitgeber (mit rund 80 Prozent jährlich), als auch bei Amazon (150 Prozent) hoch. Und doch ist die Flucht aus dem Job keine langfristige Lösung, da diese entmenschlichende Technologie zunehmend überall zur Norm wird.

Die Regulierungsbehörden beklagen, dass die Technologie zu kompliziert ist, um sie zu kontrollieren, und dass die Tech-Unternehmen für jede Regel eine Umgehung finden werden. „Ist es okay solange die Beschäftigten ihr Einverständnis geben?“, fragen die Arbeitgeber.  Aber bei der ungleichen Verhandlungsmacht einer einzelnen Arbeiterin steht die freie Wahl nicht auf der Speisekarte.

Gewerkschaften in ganz Europa haben die EU aufgefordert, die Gefahr des Missbrauchs beim Einsatz von künstlicher Intelligenz am Arbeitsplatz im Rahmen der kommenden Richtlinien zur Digitalisierung zu regeln. Die politischen Eliten rufen überall nach dem „ethischen“ Einsatz von KI.

Aber während wir herausfinden, was genau „ethisch“ bedeutet, gibt es einige bewährte Möglichkeiten, die missbräuchliche Überwachung im Zusammenhang mit algorithmischen Management in der Arbeitswelt zu regulieren.

Erstens müssen Gewerkschaften in die Lage versetzt werden, die Bedingungen der Überwachung auszuhandeln, einschließlich der Frage, wie viel Information über die Beschäftigten gesammelt wird, wie dies geschieht, und wie die Daten gespeichert werden. Die Gewerkschaften sollten auch Einfluss auf die Gestaltung der verwendeten Algorithmen nehmen, sowie auf die Produktionsziele und Disziplinarmaßnahmen, die sich daraus ergeben können.

Gewerkschaften verhandeln traditionell über die Einführung neuer Technologien und deren Auswirkungen auf die Arbeitenden, einschließlich der Möglichkeit der Überwachung. In US-amerikanischen Callcentern hat die Gewerkschaft CWA erfolgreich eine Beschränkung der Überwachung ausverhandelt. Vorratsspeicherung der Daten oder Disziplinarmaßnahmen aufgrund von Überwachungsdaten sind verboten. Spanische Gewerkschaften haben kürzlich das Recht errungen, über den Algorithmus in der App-basierten Taxibranche zu verhandeln.

Zweitens, und insbesondere dort, wo es keinen Kollektivvertrag gibt, der die Praxis einschränkt, sollten Aufsichtsbehörden Kameras und andere Formen der Dauerüberwachung am Arbeitsplatz verbieten.

Beschäftigte im Kohlebergbau, die in der Regel gut von Gewerkschaften vertreten werden, haben schon vor langer Zeit Kameras in den Kohleflözen als eine Form des Schutzes akzeptiert – für den Fall, dass es zu einem Einsturz oder einem anderen unvorhergesehenen Ereignis kommt, das die Sicherheit aller unter Tage beeinträchtigt. Und ja, es gibt in der Tat Raum für Kameras, wenn es ein echtes Gesundheits- und Sicherheitsbedürfnis gibt.  Aber solange keine solchen Bedenken bestehen, sollten Kameras, Abhör- und Beobachtungsgeräte niemals ununterbrochen an einem Arbeitsplatz erlaubt sein.

Drittens sollten Aufsichtsbehörden und Regulierungsbehörden für Gesundheit und Sicherheit die psychischen und physischen Auswirkungen dieser neuen Technologie erkennen. Sie sollten Instrumente und Regeln entwickeln, die sicherstellen, dass der Arbeitsplatz frei von zermürbenden Zielen und psychischem Terrorismus bleibt, der die Beschäftigten in Körper und Geist degradiert. Alle Arbeitenden sollten demokratisch gewählte Gesundheits- und Sicherheitsausschüsse am Arbeitsplatz haben.

Und schließlich muss der Mensch die Kontrolle über die Folgen des algorithmischen Managements behalten. Alle Disziplinar- und Entlassungsentscheidungen müssen von einem Menschen getroffen werden, nicht von einem Algorithmus. Gerichtsbarkeiten, die bereits jetzt ungerechtfertigte Entlassungen verbieten, sollten diesen Punkt in den gesetzlichen Rahmen einbetten. Für diejenigen, die noch keine Regelungen zu diesem Thema haben, ist es jetzt an der Zeit, einen Kurswechsel vorzunehmen.

Es gab viel Händeringen und Schock unter den politischen Entscheidungsträgern, die das Amazon-Modell in Frage stellen und sich fragen: Ist das wirklich die Zukunft der Arbeit, die wir wollen? Wo die Körper der Arbeiter*innen als Roboterarme für Befehle fungieren, die von algorithmischen Managementprogrammen über Wearables und Handscanner geliefert werden, die jede Bewegung diktieren und keinen Raum für Fehler oder Ermessen lassen. Die Antwort sollte ein klares “Nein” sein.

Christy Hoffmann ist die Generalsekretärin der GNI Global Union.

Foto: Daniel Oberhaus, 2019, Flickr

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Author
Christy Hoffman
Translators
Stefan Maier and Nicole Millow
Date
09.07.2021
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