Social Justice

Zur Verteidigung der “Westminster Three”

Man kann Aktivist*innen verhaften, aber nicht die Wahrheit.
Im Juni 2021 wurden drei Aktivist*innen – Rob Callender, Daisy Pearson und Ben Wheeler, auch bekannt als die “Westminster Three” – vor einem Londoner Gericht wegen Hausfriedensbruchs gemäß Abschnitt 128 des Serious Organised Crime and Policing Act (2005) angeklagt. Sieben Monate zuvor, an einem kalten Novembermorgen, waren sie friedlich auf das Gerüst an der Ecke des britischen Parlamentsgebäudes geklettert, um einen zehn Meter hohen Brief von Afrikaner*innen an die Bevölkerung des Vereinigten Königreichs aufzuhängen. Es war ein mutiger Versuch, Stimmen aus dem globalen Süden zu verstärken.

“Africans Rising”, eine panafrikanische Bewegung von Menschen, die sich für Gerechtigkeit, Frieden und Würde einsetzen, hat den Brief für ihre #ReRightHistory-Kampagne erstellt, die eine ehrliche Anerkennung des Schadens und der menschlichen Kosten von Sklaverei und Kolonialismus fordert, deren Vermächtnis weiterhin besteht und negativen Einfluss auf die wirtschaftliche und politische Entwicklung von Ländern in ganz Afrika ausübt, während desen ökologische Souveränität untergraben wird. Der Text forderte auch Wiedergutmachungen für die Opfer von Sklaverei und Kolonialismus und die Einrichtung von Wahrheits- und Heilungskommissionen, um eine vollständige Anerkennung der Hinterlassenschaften der Sklaverei, des Kolonialismus und des anhaltenden systemischen Rassismus zu ermöglichen.

Die Aktion von Rob, Daisy und Ben erinnerte die britische Regierung – den größten ehemaligen Kolonisator in Afrika und auf der ganzen Welt und ein zentraler Profiteur der Versklavung von Menschen – an ihre Verantwortung im Prozess der restaurativen Gerechtigkeit. Am 6. Oktober werden sie in einem erneuten Versuch, Großbritannien für die Wahrheit zur Rechenschaft zu ziehen, freigesprochen oder ihrerseits verurteilt.

Erbe des Kolonialismus und der Sklaverei.

Heute sind wir uns alle einig, dass das dunkle Kapitel der Menschheitsgeschichte, das von der Sklaverei geprägt war, brutal war. Versklavte Menschen wurden als Eigentum anderer Menschen angesehen, waren unfähig, Würde und Rechte zu begreifen, und verdienten somit beides nicht und waren unzähligen Entbehrungen und Leiden ausgesetzt. Es wird geschätzt, dass zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert mindestens 12 Millionen Afrikaner*innen über den Atlantik und in die Sklaverei in Amerika und der Karibik verschifft wurden – eine der größten erzwungenen Menschenbewegungen in der Geschichte.

Konservative Schätzungen beziffern die Zahl der Afrikaner*innen, die während der Transatlantiküberquerung ihr Leben verloren haben, auf 1,5 Millionen. Viele starben an schrecklichen Bedingungen auf Sklavenschiffen, andere warfen sich ins Meer und ertranken in verzweifelten Versuchen, der Unterwerfung zu entgehen. Auch Schiffe kenterten während der Fahrten und der Meeresboden ist noch immer mit Knochen übersät, die Geschichten von Schmerz, Angst und unvorstellbarem Leid Lügen strafen. Unzählige Skelette wurden bereits vom Meer erodiert und sind aus der Reichweite der Geschichte verschwunden. Aber jeden zweiten Tag werden neue Aufzeichnungen und Narben der Sklaverei ausgegraben, wie das älteste bekannte Wrack eines Sklavenschiffs, das 2005 auf dem Boden des Ärmelkanals entdeckt wurde.

Die Abschaffung der Sklaverei führte dazu, dass das extraktive kapitalistische System die Pläne zur Kolonisierung des afrikanischen Kontinents erneuerte, beginnend um 1895, als europäische Länder die Berliner Konferenz einberufen. Dieser selbstgerechtfertigte Kolonialismus baute die wirtschaftliche Basis Europas weiter aus, indem er Ländern wie Großbritannien Zugang zu Rohstoffen, billigen oder Zwangsarbeitskräften und Überseemärkten für verarbeitete Rohstoffe ermöglichte. Die Handels-, Schifffahrts- und Bankenimperien Europas und Amerikas verdanken einen großen Teil ihrer Entwicklung den historischen Epochen der Sklaverei und des Kolonialismus, Zeiten schnellen und anhaltenden Wirtschaftswachstums in der europäischen Geschichte.

Der Brief, aufgrunddessen Rob, Daisy und Ben jetzt bis zu sechs Monate Haft drohen, weil sie ihn am Palace of Westminster anbrachten, wurde im Lichte der brutalen Ermordung von George Floyd in Minneapolis, Minnesota, USA, am 25. Mai 2020 geschrieben – ein Mord der auf einen tief verwurzelten systemischen Rassismus zurückzuführen ist, mit dem afrikanische Menschen (und People of Color) in der Diaspora täglich konfrontiert sind. Seine letzten Worte ‘’I can’t breathe’’ gaben Protesten und Märschen eine Stimme gegen gegenwärtige und historische Ungerechtigkeit. In diesem Moment hallten die Forderungen von #BlackLivesMatter und verbündeten Bewegungen, die Rassen-, Klima- und Geschlechtergerechtigkeit sowie wirtschaftliche Gleichheit forderten, auf der ganzen Welt wider.

Heute schätzt die Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Afrika (UNECA), dass Afrika jährlich 50-80 Milliarden Dollar durch illegale Finanzströme verliert (die tatsächlichen Zahlen sind viel höher). Multinationale Unternehmen, von denen viele in Großbritannien, Europa oder Amerika gegründet wurden, melden sich in Steueroasen an, oft unter Verwendung britischer oder amerikanischer Rechtsinstrumente, um Gewinne zu verlagern und zu verschleiern, wo Steuern anfallen. In geschwächter Finanzlage zurückgelassen, haben afrikanische Länder über Jahrzehnte riesige Geldsummen im Rahmen bilateraler und multilateraler Vereinbarungen geliehen, die überproportional den Interessen der Reichen dienen. In jüngerer Zeit haben afrikanische Länder Kredite von privaten Finanzinstituten aufgenommen. Die langfristigen Auswirkungen dieses Verhaltens werden nun wieder deutlich.

Zwei Wochen, nachdem die “Westminster Three” das britische Parlament bestiegen hatten, geriet Sambia mit den Schuldendienstzahlungen in Verzug. In der Vergangenheit haben Schocks wie dieser Regime destabilisiert und Millionen von Menschen in Armut gestürzt. Es erinnert daran, dass Armut in den neokolonialen Ökonomien fabriziert wird – sie fällt nicht vom Himmel.

Das anhaltende Erbe des Kolonialismus und des “Empire” wird heute noch sichtbarer durch das WTO-Trips-Abkommen, das verarmten Ländern im Globalen Süden unnötig und empathielos den Verzicht auf geistige Eigentumsrechte verweigert, die es ihnen ermöglichen würden, Impfstoffe zur Bekämpfung der Covid-Infektion zu entwickeln, um die COVID-19 Pandemie zu bekämpfen.

Menschheit, Territorium, Ressourcen und Bewegung.

Im Laufe der Geschichte hat sich unsere Spezies auf Ressourcen zubewegt und sich dort angesiedelt. Frühe Menschen siedelten auf Land, das in der Lage war, Leben zu produzieren und zu erhalten. Später trieben sich ändernde Muster des Landbesitzes, der wirtschaftlichen Bedingungen und die Suche nach Nahrung viele von uns in Städte mit einer höheren Konzentration von Industrie und Finanzmitteln und mehr Arbeitsmöglichkeiten.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass mehr als ein Jahrhundert nach der Abschaffung der Sklaverei immer noch Tausende afrikanischer Menschenleben auf See verloren gehen. Jeden Tag riskieren afrikanische Jugendliche ihr Leben, wenn sie versuchen, das Mittelmeer zu überqueren und in Europa nach besseren Perspektiven zu suchen, Opfer von Kräften innerhalb und außerhalb Afrikas.

Unzählige mehr fliehen nun vor Not und Entbehrung, die durch den Klimawandel verursacht wurden, der reiches Ackerland in trockenen und unproduktiven Boden verwandelt hat. In bestimmten Teilen Afrikas haben Umweltveränderungen ganze Dörfer gezwungen, in Städte umzusiedeln, in denen die Bedingungen noch schlimmer sind.

Die jungen Afrikaner*innen, die beim Überqueren des Mittelmeers ihr Leben riskieren oder verlieren, fliehen buchstäblich vor den Hinterlassenschaften des Kolonialismus und Imperialismus, die ihre erbärmlichen Bedingungen prägen, in der Hoffnung, Zugang zu Europas Konzentration an Reichtum und Möglichkeiten zu erhalten. Wie viele Menschenleben muss Afrika noch verlieren? Ist der Meeresboden nicht müde von afrikanischen Skeletten?

Man kann Aktivist*innen verhaften, aber nicht die Wahrheit.

Ein paar Wochen nach der Festnahme der “Westminster Three” debattierte das britische Parlament in einem Saal unweit des Briefes von Africans Rising über das Gesetz zu Polizei, Verbrechen, Verurteilung und Gerichten. Wenn dieses Gesetz verabschiedet wird, wird es die Meinungs- und Protestfreiheit sowie andere Rechte einschränken und ist so drakonisch, dass Premierminister Boris Johnson kürzlich die abscheuliche Bemerkung machte, sein konservativer Innenminister, Priti Patel, mache Großbritannien zum „Saudi-Arabien der Strafpolitik“. Die Empörung über das Gesetz löste sofort eine Kampagne aus, um es zu stoppen: #KillTheBill.

Die “Westminster Three” setzten ihr Leben und ihre Freiheit in einem trotzigen Zeichen der Solidarität mit den unterdrückten Menschen Afrikas aufs Spiel. Sie stellten keine Gefahr dar und schadeten niemandem. Sie haben der Macht einfach die Wahrheit gesagt. Sie stehen auf der richtigen Seite der Geschichte. Dass sie überhaupt vor Gericht gestellt werden, erinnert uns daran, dass Legalität und Recht nicht immer gleich sind.

Wir begrüßen ihren Mut und ihre Kameradschaft in unserem gemeinsamen Streben nach Gerechtigkeit, Frieden und Würde.

A luta continua!

Foto: Africans Rising

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Translator
Stefan Maier
Date
05.10.2021
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