Mediapart: 2016 hast du einen ersten Bericht mit dem Titel Borders Wars veröffentlicht, in dem es um die Grenzüberwachung in Europa geht. In welchem Kontext hast du mit dieser Arbeit begonnen?
Mark Akkerman: Wir müssen im Kopf behalten, dass Europa eine lange Geschichte in Bezug auf die “Abwehr” von Migrant*innen und die Sicherung seiner Außengrenzen hat. Wie die niederländische Investigativjournalistin Linda Polman aufgezeigt hat, reicht das bis in den Zweiten Weltkrieg zurück. Damals weigerten sich diverse Staaten, jüdische Geflüchtete aus Deutschland zu unterstützen und aufzunehmen. Mit der Schaffung des Schengenraums Anfang der 1990er Jahre fiel die Öffnung der Grenzen innerhalb dieses Raums eng mit der Verstärkung der Kontrolle und Sicherung der Außengrenzen zusammen. Seitdem war es ein kontinuierlicher Prozess, der sich in mehreren Phasen deutlich beschleunigt und verschärft hat.
Unser erster Bericht ist während einer dieser Phasen entstanden. Ich habe mit dieser Arbeit 2015 begonnen, als der Begriff “Flüchtlingskrise” aufkam, für eine Situation die ich eher als Exiltragödie bezeichnen würde. Viele Menschen, die vor allem vor dem Krieg in Syrien flohen, versuchten, in Europa eine sichere Zukunft aufzubauen. Als Reaktion darauf konzentrierten die EU und ihre Mitgliedstaaten ihre Bemühungen auf die Sicherung der Grenzen und die Rückführung von Menschen im Exil aus dem EU-Gebiet.
Wesentliche Aspekte sind die Militarisierung der Grenzen, die Stärkung der Befugnisse der EU-Grenzschutzagentur Frontex und die Aufstockung ihrer Mittel. Geflüchtete werden als Bedrohung für die Sicherheit Europas und Migration als “Sicherheitsproblem” dargestellt. Diese Darstellung wird vor allem von der Lobby der Militär- und Sicherheitsindustrie vorangetrieben. Diese Industrien sind schließlich die Hauptnutznießer dieser Politik: Sie verzeichnen wachsende Budgets und immer mehr Vertragsabschlüsse in diesem Zusammenhang.
Wie würdest du heute die europäische Grenzsicherungspolitik beschreiben? Hatte die Pandemie Auswirkungen?
Europa hat seinen Weg seit 2016 beibehalten. Stärkung, Militarisierung und Auslagerung der Grenzsicherung waren und bleiben die einzigen Antworten auf Migration. Es wurden mehr Mauern und Zäune errichtet, neue Überwachungs-, Ortungs- und Kontrollanlagen installiert, neue Abkommen mit Drittstaaten geschlossen und neue Datenbanken entwickelt, um Menschen im Exil zu verfolgen. In dieser Hinsicht wurden die Maßnahmen von 2016 fortgesetzt, intensiviert und ausgeweitet.
Die Covid-Pandemie hat dabei sicherlich auch eine Rolle gespielt. Viele Länder führten neue Sicherheits- und Grenzkontrollmaßnahmen ein, um das Virus einzudämmen. Das diente auch als Vorwand, um Geflüchtete erneut ins Visier zu nehmen und diese Menschen als Bedrohung darzustellen, da sie angeblich für die Ausbreitung des Virus verantwortlich seien.
Wie immer werden einige offiziell temporäre Maßnahmen zu dauerhaften Maßnahmen werden. Wir sehen zum Beispiel schon jetzt, wie sich die Grenzkontrollen in Richtung Einsatz kontaktloser biometrischer Technologien entwickeln.
Im Jahr 2020 hat die EU die beiden französischen Unternehmen Idemia und Sopra Steria beauftragt, ein biometrisches Kontrollsystem für die Regulierung der Ein- und Ausreise aus dem Schengenraum zu entwickeln. Was hältst du von derartigen Datenbanken und Systemen?
Es gibt viele Datenbanken mit biometrischen Daten, die für die Grenzsicherung genutzt werden. Die Europäische Union fördert deren Weiterentwicklung seit mehreren Jahren. In jüngster Zeit hat sie vor allem auf die interne Vernetzung, die sogenannte Interoperabilität, gedrängt. Ziel ist es, ein globales System zur Ortung, Überwachung und Verfolgung von Geflüchteten auf europäischer Ebene zu schaffen, um die Inhaftierung und Abschiebung dieser Menschen zu vereinfachen.
Dies trägt dazu bei, eine neue Form der “Apartheid” zu schaffen. Diese Dateien sollen die Grenzkontrollverfahren für nationale Staatsbürger*innen und andere “akzeptable” Reisende beschleunigen, und im Gegenzug vor allem unerwünschte Migrant*innen mit Hilfe immer ausgefeilterer Computer- und biometrischer Systeme festsetzen oder ausweisen.
Wie wirkt sich diese neue Überwachungspolitik konkret aus?
Es wird immer schwieriger und gefährlicher, nach Europa zu migrieren. Weil sie an den Grenzen mit Gewalt konfrontiert und abgewiesen werden, sind diese Menschen gezwungen, andere – oft gefährlichere – Migrationsrouten zu suchen. Das schafft einen noch größeren Markt für Schmuggler. Für Geflüchtete, denen es gelingt, EU-Territorium zu erreichen, ist die Situation nicht besser. Sie landen regelmäßig in Haft, werden abgeschoben oder sind gezwungen, unter katastrophalen Bedingungen in der EU oder in angrenzenden Ländern zu leben.
Diese Praxis betrifft aber nicht nur Geflüchtete. Sie stellt eine Gefahr für die Grundfreiheiten aller Europäer*innen dar. Denn neben der rassistischen Migrationspolitik werden neue Überwachungstechnologien auch an Migrant*innen “getestet”, die oftmals Probleme haben, ihre Rechte geltend zu machen. Später werden sie dann in der breiten Öffentlichkeit eingeführt. Geflüchtete sind damit Versuchskaninchen für die zukünftige Überwachungspolitik und Überwachungstechniken in Europa.
Du weist auch darauf hin, dass Waffenhersteller, die Waffen an kriegführende Parteien in nicht-europäischen Konflikten liefern – welche wiederum oft Treiber von Migrationsbewegungen sind – diejenige Industrie sind, die vom Grenzgeschäft profitieren.
Korrekt. Das tun der französische Konzern Thales, Leonardo in Italien oder Airbus. Diese europäischen Sicherheits- und Militärunternehmen exportieren Waffen und Überwachungstechnologien in die ganze Welt, vor allem in Länder, die sich im Krieg befinden, oder an autoritäre Regime. In den vergangenen zehn Jahren hat Europa zum Beispiel Technologie im Wert von 92 Milliarden Euro in den Nahen Osten und nach Nordafrika exportiert. An diesen Deals waren kontroverse Partner wie Saudi-Arabien, Ägypten und die Türkei beteiligt.
Das heißt: Wenn die Zivilbevölkerung aus Kriegsländern flieht, ist sie beim Überqueren der EU-Grenzen mit ziemlicher Sicherheit mit Technologien konfrontiert, die von genau denselben Herstellern produziert wurden. Das ist eine unglaublich zynische Art und Weise, zweimal vom Elend dieser Menschen zu profitieren.
Welche Unternehmen profitieren am meisten von der Grenzschutzpolitik der EU – und wie? Ich denke da insbesondere an Forschungsprogramme wie Horizon 2020 und Horizon Europe…
Ich beobachte zwei Arten von Unternehmen, die von der Militarisierung der europäischen Außengrenzen profitieren. Erstens die großen europäischen Militär- und Sicherheitsunternehmen wie Airbus, Leonardo und Thales, die alle eine breite Palette an Waffen und Überwachungstechnologien bieten. Für sie ist der “Grenzmarkt” einer von vielen. Zweitens profitieren aber auch spezialisierte Unternehmen in Nischenmärkten direkt von dieser europäischen Politik. Das ist beispielsweise der Fall bei European Security Fencing, einem spanischen Unternehmen, das Stacheldraht herstellt. Es wird durch solche Aufträge reich – Aufträge, die es nicht nur auf europäischer, sondern auch auf nationaler und lokaler Ebene erhält.
Eine weitere Finanzierungsquelle ist das Europäische Rahmenprogramm für Forschung und Innovation. Es finanziert Projekte über einen Zeitraum von sieben Jahren und enthält eine Komponente zur Grenzsicherung. Außerdem gibt es Programme im Rahmen des Europäischen Verteidigungsfonds.
Eines deiner Forschungsprojekte mit dem Titel Expanding the Fortress untersucht die Partnerschaften zwischen der EU und Drittstaaten. Welche Länder sind dabei involviert und wie funktionieren diese Partnerschaften in der Praxis?
Die EU und ihre Mitgliedstaaten versuchen, mit vielen Ländern der Welt eine Zusammenarbeit im Bereich Migration aufzubauen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Staaten, die als “Transitländer” für Menschen gelten, die in die Europäische Union kommen wollen. So wurden diverse Abkommen mit Libyen geschlossen, darunter auch über die Bereitstellung von militärischer Ausrüstung. Zur Erinnerung: Dies ist ein Land, in dem die Folterung und Tötung von Geflüchteten umfassend dokumentiert wurde.
Abkommen gibt es auch mit Ägypten, Tunesien, Marokko, Jordanien, dem Libanon und der Ukraine. Die EU hat den Bau von Internierungszentren in diesen Ländern finanziert.
Werden diese nicht-europäischen Staaten somit zu Versuchslaboren der europäischen Überwachungsunternehmen?
Nein, es sind eher die direkten europäischen Außengrenzen, wie die Grenze von Evros zwischen Griechenland und der Türkei, die als solche Versuchsfelder dienen. Dennoch ist der Transfer von Ausrüstung, Technologie und Wissen zur Grenzsicherung und -kontrolle ein wichtiger Teil der Zusammenarbeit [mit Drittstaaten]. Das bedeutet, dass europäische Staaten die Sicherheitskräfte autoritärer Regime ausbilden, Informationen weitergeben oder neue Ausrüstung liefern.
Diese Regime können dank der EU-Unterstützung ihre Kapazitäten für Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen stärken und ausbauen. Die Folgen sind verheerend für ihre Bevölkerung – und werden wiederum zu Auslösern und Beschleunigern für neue Migrationsbewegungen.
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