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Intellektuelle aus mehreren Ländern fordern in einem offenen Brief Unterstützung für Brasilien gegen Musk

Ein offener Brief, der von über 50 internationalen Akademiker*innen mitunterzeichnet wurde, darunter die Ökonomen Thomas Piketty und Shoshana Zuboff, kritisiert Elon Musk und den Einfluss der Tech-Riesen auf die digitale Souveränität Brasiliens.
Über 50 internationale Wissenschaftler*innen fordern in einem offenen Brief Unterstützung für Brasiliens Streben nach digitaler Unabhängigkeit und warnen davor, dass die Tech-Giganten sich oft der Regulierung widersetzen und die demokratische Regierungsführung behindern. Sie rufen die Vereinten Nationen und Verbündete weltweit dazu auf, Brasiliens Bemühungen zum Aufbau einer autonomen digitalen Infrastruktur zu unterstützen, und unterstreichen die Notwendigkeit internationaler Regulierungen, um die zunehmende Kontrolle durch Big Tech einzudämmen.

Brasília

Mehr als 50 Wissenschaftler*innen und Intellektuelle aus Argentinien, Frankreich, den USA, Australien, Großbritannien, Spanien, der Schweiz und Italien haben einen offenen Brief unterzeichnet, in dem sie den Milliardär Elon Musk dafür kritisieren, dass er Brasilien unter Druck setzt. In dem Brief werden „alle, die demokratische Werte verteidigen“ zur Unterstützung Brasiliens aufgerufen.

Das Dokument, das dieser Kolumne vorliegt, wird an diesem Dienstag (den 17. September 2024) veröffentlicht. Federführend sind prominente Ökonom*innen und Autor*innen, die für ihre Arbeit und Forschung bezüglich Big Tech internationale Anerkennung genießen.

Die Unterzeichnenden äußern tiefe Besorgnis über die digitale Souveränität Brasiliens und betonen, dass große Technologieunternehmen oft „wie Machthaber agieren“ wenn es keine internationalen Regulierungsvereinbarungen gibt, die ihre Aktivitäten regeln. Sie unterstreichen außerdem, dass Brasilien in dem Kampf zwischen Tech-Giganten und denjenigen, die einen demokratischen digitalen Raum schaffen wollen, an vorderster Front stehe.

„Brasiliens Auseinandersetzung mit Elon Musk ist nur das jüngste Beispiel für breit angelegte Versuche, souveräne Nationen in ihrer Fähigkeit, unabhängig von US-amerikanischen Megakonzernen ihr eigenes Programm zur digitalen Entwicklung aufzustellen, einzuschränken“, heißt es in dem Brief.

„Ihre Handlungen sind nicht nur eine Warnung für Brasilien, sondern senden auch eine beunruhigende Botschaft an die ganze Welt: Demokratische Länder, die nach Unabhängigkeit von der Übermacht der Tech-Riesen streben, laufen Gefahr, dass ihre Demokratien destabilisiert werden, da einige Tech-Giganten rechtsextreme Bewegungen und Parteien unterstützen“, heißt es weiter.

Zu den Unterzeichnenden gehören insbesondere die französischen Ökonomen Gabriel Zucman, Julia Cagé und Thomas Piketty, die Philosophin und emeritierte Professorin der Harvard Business School Shoshana Zuboff, der ehemalige argentinische Wirtschaftsminister Martín Guzmán und MIT-Professor Daron Acemoglu.

Weitere Unterstützer*innen sind die italienische Ökonomin Francesca Bria, der nordamerikanische politische Ökonom und allgemeine Koordinator der Progressiven Internationale David Adler, die indische Ökonomin Jayati Ghosh, der belarussische Forscher und Schriftsteller Evgeny Morozov sowie der Anthropologe Jason Hickel.

In dem Text wird argumentiert, dass große Technologieunternehmen nicht nur die digitale Welt dominieren, sondern auch Lobbyarbeit betreiben und gegen unabhängige, von öffentlichen Behörden festgelegte Programme vorgehen. „Wenn ihre finanziellen Interessen auf dem Spiel stehen, arbeiten sie bereitwillig mit autoritären Regierungen zusammen“, heißt es in dem Dokument.

Die Unterzeichnenden ermutigen Brasilien, bei der Umsetzung seiner digitalen Agenda standhaft zu bleiben und jeglichen Druck gegen sie offenzulegen. Sie fordern auch die Vereinten Nationen auf, diese Bemühungen zu unterstützen. „Dies ist ein entscheidender Moment für die Weltgemeinschaft“, betonen sie.

Elon Musk wird in dem Brief namentlich genannt. Ihm gehört X (ehemals Twitter), das in Brasilien seit dem 31. August auf Anordnung des Ministers des Obersten Bundesgerichts (STF), Alexandre de Moraes, gesperrt ist. 

Die Plattform wurde vom Netz genommen, nachdem sie sich wiederholt gerichtlichen Anordnungen widersetzt hatte, wie dem Entfernen von Profilen und Posts, die nach Erachten des Gerichts kriminelle Angriffe auf Vertreter der Bundespolizei (PF) enthielten.

Lesen Sie hier den vollständigen Brief:

„Gegen den Angriff von Big Tech auf die digitale Souveränität“

Wir, die Unterzeichnenden, bringen unsere tiefe Besorgnis über die anhaltenden Angriffe von Tech-Giganten und ihren Verbündeten auf die digitale Souveränität Brasiliens zum Ausdruck. Brasiliens Auseinandersetzung mit Elon Musk ist nur ein Beispiel für breit angelegte Versuche, souveräne Nationen in ihrer Fähigkeit, unabhängig von US-amerikanischen Megakonzernen ihr eigenes Programm zur digitalen Entwicklung aufzustellen, einzuschränken.

Ende August verbannte der brasilianische Oberste Gerichtshof X aus dem brasilianischen Cyberspace, weil X sich der gerichtlichen Anordnung widersetzt hatte, Konten zu sperren, über die Rechtsextremisten zur Besetzung der Sitze von Legislative, Justiz und Exekutive am 8. Januar 2023 angestiftet worden waren. Anschließend erläuterte Präsident Lula da Silva das Ziel der brasilianischen Regierung, die digitale Unabhängigkeit zu erreichen: Die Abhängigkeit des Landes von ausländischen Unternehmen in Bezug auf Daten, KI-Fähigkeiten und digitale Infrastruktur solle verringert und gleichzeitig das Wachstum lokaler technologischer Ökosysteme gefördert werden. Im Einklang mit diesen Zielen strebt der brasilianische Staat auch danach, Tech-Riesen zur Verantwortung zu ziehen, indem er sicherstellt, dass sie gerechte Steuern zahlen, sich an lokale Gesetze halten und sich mit den sozialen Folgen ihrer Geschäftsmodelle auseinandersetzen, die oft Gewalt und Ungleichheit schüren.

Diese Initiativen stießen auf den Widerstand des Eigentümers von X und rechtsextremer Führungspersonen, die die demokratische Regierungsführung und Meinungsfreiheit kritisieren. In einem digitalen Raum, in dem es keinen international vereinbarten Rechtsrahmen gibt, agieren Tech-Riesen jedoch faktisch als Machthaber und bestimmen darüber, welche Inhalte auf ihren Plattformen moderiert oder gefördert werden.

Darüber hinaus haben X und andere Unternehmen begonnen, sich mit Verbündeten im In- und Ausland abzustimmen, um Brasiliens Bemühungen um technologische Autonomie zu untergraben. Ihre Handlungen sind nicht nur eine Warnung für Brasilien, sondern senden auch eine beunruhigende Botschaft an die ganze Welt: Demokratische Länder, die nach Unabhängigkeit von der Übermacht der Tech-Riesen streben, laufen Gefahr, dass ihre Demokratien destabilisiert werden, da einige Tech-Riesen rechtsextreme Bewegungen und Parteien unterstützen.

Brasilien steht nun in dem sich abzeichnenden globalen Kampf zwischen Big Tech und denjenigen, die einen demokratischen digitalen Raum schaffen wollen, in dem die Menschen und die soziale und wirtschaftliche Entwicklung oberste Priorität haben, an vorderster Front. Die Tech-Riesen kontrollieren nicht nur die digitale Welt, sondern betreiben auch Lobbyarbeit und verhindern, dass der öffentliche Sektor eine unabhängige digitale Agenda aufstellen kann, die sich an lokalen Werten, Bedürfnissen und Bestrebungen orientiert. Wenn ihre finanziellen Interessen auf dem Spiel stehen, arbeiten sie bereitwillig mit autoritären Regierungen zusammen. Was wir brauchen, ist ein digitaler Raum, in dem die Staaten die Möglichkeit haben, die Technologie zu lenken und dabei den Menschen und dem Planeten Vorrang vor privatem Profit oder einseitiger staatlicher Kontrolle einzuräumen.

Alle, die demokratische Werte verteidigen, sollten Brasilien in seinem Streben nach digitaler Souveränität beistehen. Wir fordern, dass die großen Technologieunternehmen ihre Versuche einstellen, die brasilianischen Initiativen zum Aufbau unabhängiger Kapazitäten in den Bereichen künstliche Intelligenz, digitale öffentliche Infrastruktur, Datenmanagement und Cloud-Technologie zu behindern. Diese Bemühungen untergraben nicht nur die Rechte der brasilianischen Bürger, sondern auch die umfassenderen Bestrebungen aller demokratischen Nationen nach technologischer Souveränität.

Wir ermutigen auch die brasilianische Regierung, bei der Umsetzung ihrer digitalen Agenda standhaft zu bleiben und offenzulegen, wenn sie unter Druck gesetzt wird. Die Vereinten Nationen und Regierungen weltweit müssen diese Bemühungen unterstützen. Dies ist ein entscheidender Moment für die Weltgemeinschaft. Ein unabhängiger Weg zur Wiedererlangung der digitalen Souveränität und Kontrolle über unseren öffentlichen digitalen Raum ist dringend erforderlich. Außerdem müssen im Rahmen der Vereinten Nationen unverzüglich Grundsätze für die länderübergreifende Regulierung digitaler Dienste festgelegt werden, welche digitale Ökosysteme fördern, die die Menschen und den Planeten über den Profit stellen, um zu verhindern, dass diese Übergriffe von Big Tech in anderen Regionen alltäglich werden.

Photo: Folha de S.Paulo

Available in
Portuguese (Brazil)EnglishSpanishFrenchGermanItalian (Standard)Arabic
Author
Mônica Bergamo
Translators
Judith Frank, Nathalie Guizilin and ProZ Pro Bono
Date
12.11.2024
TechnologiePolitik
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