Entrevistas

Der Kampf in Madagaskar – ein Interview mit Micheline Ravololonarisoa

Micheline Ravololonarisoa über ihre Erlangung politischen Bewusstseins durch Madagaskars Studentenbewegungen.
Micheline Ravololonarisoa spricht über die Geschichte Madagaskars, den französischen Kolonialismus sowie die bedeutende Studentenbewegung im Jahr 1972, die sie als Mitglied des Streikkomitees mitangeführt hat. Micheline stammte aus einer unpolitischen Familie, wurde jedoch zunächst zu einer Studentenführerin und dann zu einer panafrikanischen Aktivistin mit Sitz in Kenia. Schließlich war sie gezwungen, den Kontinent zu verlassen und ins Exil zu gehen. Sie erzählt über ein Leben voller Aktivismus und über Madagaskars Platz in Afrika.

Können Sie den Lesern vor Beginn eine kurze Einführung in Ihre politische Geschichte und Arbeit geben?

Micheline Ravololonarisoa: Ich stamme aus einer kleinbürgerlichen Familie, die nicht viel von Frauen in der Politik hielt.  Ich bin niemals einer politischen Partei beigetreten. Politik war Männersache und galt als unredlich, sodass eine gute Ausbildung in Französisch und vorzugsweise in Frankreich als ausreichend galt.

So viel zur Entfremdung und zum kolonisierten Denken!

Nur sehr wenige Frauen traten politischen Parteien bei, aber es gab eine wachsende Gruppe sozialer Bewegungen in verschiedenen Gebieten.

Also im letzten Jahr meiner Sekundarschule, vor dem Studium, las ich einige Veröffentlichungen über den Christlichen Studenten-Weltverband (World Student Christian Federation, WSCF) und hörte von ihren Aktivitäten und Ansichten. Daraufhin schloss ich mich der Christlichen Studentenbewegung in Madagaskar (SCM-MPIKRIMA) an, einer progressiven, linksgerichteten, protestantischen Studentenbewegung, die Teil der World Student Christian Federation (WSCF) und des Ökumenischen Rates der Kirchen ist.  Es handelte sich um eine globale Gemeinschaft Christlicher Studentenbewegungen, die sich für Dialog, Ökomene, soziale Gerechtigkeit und Frieden einsetzten.

Durch diese Organisation trat ich in Kontakt mit der sozialistischen Ideologie und wurde in Fragen der Gerechtigkeit, Gleichheit, Beteiligung und Rechte von Frauen „politisiert“.

Ich gehörte einer Gruppe an, die nach Tansania zu einer vom WSCF organisierten Ausbildung zum Sozialismus reiste. Später, nach meinem Universitätsabschluss, verließ ich Madagaskar und übernam in Nairobi (Kenya) im WSCF-Regionalbüro für Afrika als Projekt-Mitarbeiterin ein Projekt namens „Befreiung“. Aber dies geschah erst nach einer Phase des Aktivismus auf Madagaskar zu den aktivsten Zeiten der Studentenbewegung.

Können Sie uns etwas über Madagaskars antiimperialistische politische Geschichte und politische Bewegungen erzählen?

Die Menschen in Madagaskar, die Malagasy, haben wie alle Menschen aus früheren französischen Kolonien, dem Kolonialismus widerstanden. Sie führten antikolonialistische und antiimperialistische Kämpfe, widersetzten sich der französischen Besatzung, der Kolonialpolitik und kolonialen Strategien, um die französischen Kolonisatoren aus ihrem Land zu vertreiben, das diese seit 1882 besetzt hatten.

Also hat das zentrale Thema der politischen Geschichte Madagaskars sich immer um den Befreiungskampf gedreht, zunächst vom Joch der kolonialen Besatzung und dann von der kapitalistischen Ausbeutung. 

In diesen beiden Phasen entstanden organisierte Volksbewegungen.

Bereits 1895, als Madagaskar noch ein französisches Protektorat war, und während der gesamten Kolonialzeit bis Anfang 1905, war die Menalamba-Bewegung [wortwörtlich, die mit roten Kleidern - mena(rot), lamba ist der von den Kämpfern im Widerstand getragene Schal] die wichtigste antikoloniale Bewegung, die einen Aufstand gegen die französische Besatzung auf der ganzen Insel organisierte und führte. Ihre Aktionen richteten sich nicht nur gegen die Wirtschaftspolitik der Kolonisatoren, insbesondere das Steuersystem, aber auch gegen die Anhäufung des Kapitals bei denjenigen, die dem herrschenden Monarchen nahestanden.

Die Bildung der VVS (Vy, Vato, Sakelika – Eisen, Stein, Verzweigung) Bewegung im Jahr 1913 wurde von einer Gruppe von madagassischen Intellektuellen, vor allem Ärzten, gegründet. Das Hauptziel dieser Bewegung war die intellektuelle und geistliche Vorbereitung des madagassischen Volkes, „unermüdlich für Madagaskar zu arbeiten, um die Nation zu befreien und ihre Unabhängigkeit wiederherzustellen“. Die VVS hatte das Ziel, eine politische Partei zu schaffen, deren Ziel es gewesen wäre, sich für Madagaskars vollständige Befreiung einzusetzen. Organisiert in Zellen mit jeweils höchstens 10 Personen, lehnte die Bewegung die Politik der französischen Besatzungsmacht zu Beherrschung Madagaskars ab und forderte Solidarität im Kampf gegen die Kolonialisten - für gleiche Rechte und Würde. Die Mobilisierung und die Aktionen der VVS waren für die Franzosen eine Todesdrohung, so dass sie alle repressiven Instrumente, die in ihrer Macht standen, einsetzten, um die Bewegung zu vernichten. Obwohl mehrere Widerstandsbewegungen in verschiedenen Regionen des Südens, Nordens und Ostens von Madagaskar entstanden, sind alle VVS-Mitglieder beschuldigt worden eine illegale Vereinigung zu gründen. Sie wurden danach verhaftet, inhaftiert und mussten bis zum Ende des Ersten Weltkriegs warten, bis sie 1921 nach dem Eingreifen der protestantischen Kirchen und der französischen kommunistischen Abgeordneten freigelassen wurden.

Seit dem Niedergang der VVS und aufgrund politischer Ereignisse in der Welt, insbesondere des Zweiten Weltkriegs, war die Arbeit militanter politischer Bewegungen sehr begrenzt, da die Kolonialmacht den madagassischen Bürgern die Gründung von Vereinigungen verbot. Nur die Interessenvertretung durch reformfreundlieh Kräfte, die unterstützten, dass alle madagassischen Menschen die französische Staatsbürgerschaft haben und den gleichen Status und die gleichen Privilegien wie die Franzosen genießen, war sichtbar und „toleriert“.  

Die politischen Bestrebungen der VVS hinterließen ein ideologisches Erbe, das die nationalistische Stimmung vieler fortschrittlicher madagassischen Menschensteigerte, die die völlige Unabhängigkeit wollten.

Am Ende des Zweiten Weltkriegs und nach der Rückkehr der madagassischen Männer, die auf der Seite Frankreichs gekämpft hatten, wurde das Verbot der Vereinigungsfreiheit aufgehoben und mehrere Vereinigungen und politische Parteien wurden gegründet, die alle für Madagaskars Autonomie eintraten – wenn auch an diesem Punkt nicht für Unabhängigkeit.  Die bemerkenswerteste von diesen war die kommunistische Studiengruppe und politische Parteien wie z. B. PANAMA (Partie Nationaliste Malagasy), die eindeutig erklärten, dass Unabhängigkeit nur durch bewaffneten Kampf erreicht werden kann. Ihr Standpunkt war, die nationale Einheit zu schützen, die nationale Souveränität wiederherzustellen sowie die Unabhängigkeit mit allen Mitteln zurückzugewinnen. Als eine überaus gut organisierte Partei, pflegte sie Beziehungen zu mehreren anderen Parteien und Vereinigungen außerhalb Madagaskars.  

Die MDRM (Mouvement démocratique pour le renouveau de Madagascar – Demokratische Bewegung für den Wiederaufbau Madagaskars) wurde im Februar 1946 in Paris und Madagaskar gegründet. Die MDRM wurde im Juni 1946 zu einer politischen Partei. Am 29. März 1947 startete die MDRM eine bewaffnete Offensive gegen die französische Besatzung in allen Regionen Madagaskars - von Ost nach West, von Norden nach Süden und einschließlich Antananarivo, der Hauptstadt. Gleichzeitig bereitete die MDRM ihren ersten Kongress vor, der für April 1947 geplant war. Obwohl sie aufgrund von der überlegenen französischen Armee besiegt und die meisten ihrer Anführer verhaftet, inhaftiert und getötet wurden, blieb die Hoffnung auf die Unabhängigkeit Madagaskars am Leben.

Frankreich gewährte Madagaskar die Unabhängigkeit im Jahr 1960.

Können Sie uns etwas über den Bauernaufstand im Süden Madagaskars im Jahr 1971 erzählen?

Diese Bewegung unter der Führung der politischen Partei MONIMA (Mouvement nationaliste et independant de Madagasacar), war ein Aufstand gegen die Lebensmittelkosten und eine Weigerung der Kleinbauern, Steuern zu zahlen. Die Bewegung MONIMA wurde mit Gewalt durch das Regime unterdrückt, das sie beschuldigte, mit Kommunisten zu kooperieren, auf Befehl der Regierung aufgelöst und mehrere ihrer Führer wurden auf Nosy Lava, der Gefängnisinsel hauptsächlich für politische Gefangene, inhaftiert. Dort starben viele an Durst und Hunger. Diejenigen, die die Haft überlebten, wurden 1971 freigelassen.  

Sie waren Aktivistin in der Studentenbewegung vom Mai 1972, die zum Ende der ersten postkolonialen Regierung in Madagaskar führte. Können Sie uns etwas über diese Bewegung und Ihre Beteiligung erzählen?

Der Auslöser der Studentenbewegung im Mai 1972 und der darauffolgenden Volksbewegung, die die erste postkoloniale Regierung in Madagaskar stürzte, war der Zustand der Bildung. Das Bildungssystem Madagaskars war Ausdruck der Fortsetzung der französischen Kolonialpräsenz und war die Grundlage der sozialen Ungleichheit im Land. Es basierte auf Unterschieden und Spaltung entlang ethnischer und klassenspezifischer Linien.

Die Uneinigkeit schaffende Politik in Bezug auf Inhalt und Qualität der Bildung war ein Kennzeichen der ungebrochenen französischen Politik des Teilens und Herrschens, um die Ausbildung der Eliten des Landes fest im Griff zu halten und sie zu den unterwürfigen Ausführenden des neokolonialen Ambitionen Frankreichs zu machen. 

Verschiedene fortschrittliche soziale Kräfte, darunter sozialistische politische Parteien wie die AKFM (Kongresspartei für die Unabhängigkeit Madagaskars, pro-sowjetisch) und die MONIMA argumentierten, dass die von Frankreich 1960 gewährte politische Unabhängigkeit nur die erste Phase auf dem langen Weg zur Entkolonialisierung sei. Die Unabhängigkeit bestand nur auf dem Papier. Wir hatten Unabhängigkeit (auf dem Papier) aber wir waren nicht unabhängig.

Im März 1971, elf Jahre nachdem Frankreich Madagaskar offiziell die Unabhängigkeit gewährt hatte, streikten Studenten am College of Medicine in Antananarivo, um gegen ihre materiellen Bedingungen zu protestieren und um die Ungleichheit in Bezug auf Inhalt und Ergebnis ihres Studiums im Vergleich zu dem der Fakultät für Medizin an der Universität Madagaskar. Dieser Protest läutete den Beginn einer Periode intensiver politischer und wirtschaftlicher Auseinandersetzungen ein, in der ideologische Spannungen zwischen Liberalen und Sozialisten ihren Höhepunkt erreichten.

Können Sie direkt über Ihr eigenes Engagement während dieser intensiven Phase des Kampfes erzählen?

1972 war ich im dritten Jahr meines Studiums der Madagassischen Literatur und Sprache an der „Faculte des lettres et Sciences humaines de Madagascar“.  Am 24. April solidarisierten sich die Studierenden aller Fakultäten der Universität mit den Forderungen der Medizinstudenten nach einer Überarbeitung des Lehrplans aus der Kolonialzeit, sowie die Entlassung der französischen Dozenten an der Universität. Die Studierenden aller Fakultäten erhoben sich und riefen bald eine große landesweite Bewegung ins Leben, der sich auch Schüler*innen der Sekundarstufe anschlossen.  Unter der Leitung des Studentenverbands Federation des Associations d’etudiants de Madagaskar (FAEM), dessen Generalsekretärin ich war, wurden Informations- und Bewusstseinsbildungskampagnen durchgeführt, deren Ziel es war, den Forderungen der Bewegung die richtige Analyse und den ideologischen Rahmen zu geben. Zusätzlich zu den Aufgaben der Bewusstseinsbildung, wurden in ganz Madagaskar ernsthafte und systematische Bemühungen um den Aufbau von Allianzen mit verschiedenen Berufs - und Basisorganisationen unternommen.  

Für uns war dieser Weg zweierlei: erstens, die völlige Entkolonialisierung Madagaskars in Form des vollwertigen Eigentums des madagassischen Volkes an den intellektuellen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Produktionsmitteln durch die Abschaffung des Kooperationsabkommens von 1960 mit Frankreich, das die laufende institutionelle und ideologische Dominanz der ehemaligen Kolonialmacht zementierte.  Zweitens, die Schaffung eines neuen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Rahmens, der den Menschen zugutekommt und in madagassischem Besitz ist, durchgeführt und verwaltet in Anwendung der madagassischen Philosophie und Sprache, was der Grundsatz und das Ziel der „Malgachisierung“ ist, wie später in der „Charta der madagassischen sozialistischen Revolution“ (1975) des „Roten Admirals“ Didier Ratsiraka (1936-2021) zum Ausdruck gebracht wurde. [1]

Die Versammlungen während des Streiks waren also Momente intensiver politischer Arbeit, Bildung und Bewusstseinsbildung, die Universitäts- und Hochschulstudenten*innen die Möglichkeit gaben, zu analysieren, zu diskutieren sowie Vorschläge und Pläne für die Zukunft zu machen.

Obwohl einige der führenden Köpfe der Bewegung Mitglieder politischer Parteien waren, war die Bewegung von politischen Parteien unabhängig. Ihr Hauptziel bestand darin, die tieferen strukturellen Gründe für die Ungleichheiten nicht nur im Bildungswesen, sondern in der madagassischen Gesellschaft insgesamt zu analysieren und zu verstehen und nach einer Alternative zu suchen, die den Zustand der Ungleichheit, Ausgrenzung und Ungerechtigkeit verändern könnte.

Wir planten die Organisation des Streiks und richteten den Rahmen ein, der Analyse, Lernen und Planung für den sozialen und politischen Wandel durch alle ermöglichen wird.

Als einer der beiden Studierendenvertreter der Faculte des Lettres et des Sciences Humaines und Sekretärin der FAEM, stand ich an vorderster Front bei der Planung und der Suche nach Klarheit über den Zweck der Bewegung. Wir trugen dazu bei, die Teilnahme zu sichern und trotz der schweren Unterdrückung durch das herrschende Regime und mit der “ unerschütterlichen Entschlossenheit, uns von dem zu befreien“, was Lenin als „vorherrschenden Dilettantismus im Kampf“ kritisierte, begannen wir, sorgfältig „eine Organisation von Revolutionären aufzubauen, die in der Lage ist, dem politischen Kampf Energie, Stabilität und Kontinuität zu verleihen“, und so die sozialistische Alternative für Madagaskar zu schaffen.

Wir ließen uns von der Erfahrung von Studenten anderswo inspirieren und den Kämpfen der Menschen in verschiedenen Teilen der Welt, insbesondere in Lateinamerika, die wir während unserer Sitzungen diskutiert haben.

Es wurden Broschüren von der Kommission für Studien entworfen und im ganzen Land verteilt, dank der Solidarität der Busunternehmen, die sie kostenlos in verschiedene Provinzen transportierten. Darüber hinaus leiteten wir Mitglieder des Leitungskomitees tägliche Diskussionen in Schulen und während der Generalversammlungen. Es waren oft Studentenvertreter, die der Bewegung eine Richtung gaben.

Können Sie uns schildern, was genau passiert ist und was Sie erreicht haben?

Einer der entscheidenden Erfolge der Bewegung war, dass die Schüler die Freiheit erlangten, auf unkonventionelle Weise und mit neuen Worten zu sprechen und sich auszudrücken, ganz im Gegensatz zur erlernten und konventionellen madagassischen Kultur, also ohne elterliche Zensur. Eine echte Emanzipation, wenn nicht sogar eine völlige Befreiung.   

Dann, am Abend des 12. Mai 1972 - als wir die übliche Versammlung in der Aula der Universität abhielten, Bilanz der Diskussionen des Tages in den Seminaren zogen und darüber debattierten wie wir Bündnisse mit verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen wie Arbeitergewerkschaften, Lehrer*innen, Fachleute, Eltern, arbeitslose Jugendliche und Kleinbauernorganisationen Allianzen schmieden würden und auch eine gemeinsame Position zu unserer Reaktion auf den Vorschlag der Regierung erarbeiten wollten, den Unterricht wieder aufzunehmen und in Gespräche mit der Regierung einzutreten - wurde hart gegen uns durchgegriffen.

Das Streikkomitee, dem ich angehörte, traf sich im Büro der FAEM, um die für den nächsten Morgen geplante Demonstration vorzubereiten; in der Aula der Universität fand die übliche Sitzung des ständigen Streikkomitees (Comité Permanent) statt, das aus zwei Delegierten pro Schule bestand. Alle Teilnehmer im Raum wurden von den FRS – Forces républicaines de sécurité – eingekreist. Minderjährige unter 18 Jahren wurden getrennt und alle anderen von uns wurden verhaftet und zur Inhaftierung nach Nosy Lava, der berüchtigten Gefängnisinsel, gebracht. Ich wurde, wie alle anderen, die festgenommen wurden, in die Haftanstalt gebracht. 

Als Reaktion auf diese Verhaftung kam es in der Hauptstadt Antananarivo zu Protesten, während die FRS scharfe Munition einsetzte, um die Demonstranten zu vertreiben. Während dieses Protests wurde die ZOAM (Arbeitslosenjugend von Madagaskar), deren Mitglieder aus den armen, „schwarzen“ Vierteln der Hauptstadt stammten, als ernstzunehmende Kraft anerkannt, da sie den unbewaffneten Demonstranten Schutz boten. Nach dem Volksprotest schlug das Regime zunächst die Einrichtung einer Militärjunta vor, die die Macht übernehmen sollte. Dieser Vorschlag spaltete die Gesellschaft, da einige Menschen ihm zustimmten, während andere, darunter auch die Studentenbewegung, ihn entschieden ablehnten.

Diese Anerkennung der ZOAM als politische Kraft, die nun als Vertretung der arbeitslosen, städtischen Unterschicht in der Lage ist, ihre eigenen Belange zu artikulieren und ihre eigenen Lösungen vorzuschlagen, indem sie bei der Entscheidungsfindung in der Bewegung vertreten ist, ist eine der entscheidenden Veränderungen, die sich aus der Volksbewegung ergeben und die madagassische politische Landschaft verändert haben. 

Feste Organisierung und ein höheres politisches Bewusstsein der verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte führten zur Entstehung eines klaren theoretischen und ideologischen Rahmens für eine „zweite Unabhängigkeit“, aber die Umsetzung dieser Vorschläge wurde durch die Wahl einer militärischen Übergangsjunta (1972–1975) durch ein Referendum behindert, worauf Präsident Tsiranana zurücktrat.

Dennoch wurde der Rahmen und die Wege zur Implementierung weiterhin während des „Zaikabe“, des Volkskongresses, Anfang September 1972 diskutiert.

Vor dem Kongress fand ein Nationales Seminar zur Vorbereitung des Kongresses statt, bei dem Vorschläge der verschiedenen Akteursgruppen berücksichtigt wurden.

Während des Kongresses wurden Vorschläge zu den zu schaffenden sozialen, wirtschaftlichen und politischen Systemen gemacht, während Kleinbauernorganisationen, die etwa 15 % der Teilnehmer ausmachten, die Rückgabe ihres von großen französischen kapitalistischen Unternehmen beschlagnahmten Landes forderten.

Nach der Bewegung von 1972 und der Abhaltung des Nationalkongresses wurde die Umsetzung der Resolution den Behörden überlassen, also der Militärregierung. Da das Ziel der Studenten- und Volksbewegung nicht darin bestand, die Macht zu übernehmen, sondern Vorschläge zum Profil der Regierungsführung zu unterbreiten, erkannte die Militärjunta diese Schwäche und verfolgte die gleiche Politik wie das erste Regime.

Können Sie uns erzählen, was Sie nach der Bewegung in Madagaskar getan haben?

Nach der Zerschlagung der Bewegung und der Entscheidung der Militärjunta, ein Referendum über die zukünftige Form der politischen Führung Madagaskars abzuhalten, erkannte ich, dass wir einen Umkehrpunkt erreicht hatten, und verließ Madagaskar.

Nachdem der WSCF (World Student Christian Federation) von meiner Rolle in der Studentenbewegung in Madagaskar erfahren hatte, beauftragte sie mich mit der Leitung eines Programms namens „Liberation programme“. Dieses Programm hatte zum Ziel, Studenten an afrikanischen Universitäten zu informieren, zu sensibilisieren und zu mobilisieren, um die Solidarität mit den Menschen in den ehemaligen portugiesischen Kolonien, Simbabwe und Südafrika zu fördern, die noch unter der Apartheid litten. Der WSCF wollte Studenten in Afrika unter der Apartheid informieren, sensibilisieren und mobilisieren.

Aufgrund meiner Erfahrungen in Madagaskar, dass Informationen der Schlüssel zum Verständnis politischer Dynamiken und der Suche nach Lösungen sind, entwickelte ich ein Informationsblatt mit dem einfachen Titel „Befreiung“ in jedem Land einschließlich der Fragen, die ich mit den Studenten*innen während meiner Gespräche an den Universitäten, die ich besuchte, besprechen wollte. Ich habe mich auch mit Vertretern von Befreiungsbewegungen in verschiedenen Teilen Afrikas getroffen, hauptsächlich mit denen aus Tansania und Sambia.

Ich hatte die Gelegenheit, Studiengruppen zu den Themen Sozialismus, Klassenkämpfe und antiimperialistische Kämpfe, die von verschiedenen afrikanischen sozialen Bewegungen organisiert wurden, zu treffen und mich ihnen anzuschließen und mit heute bekannten sozialistischen Denkern, hauptsächlich aus Ostafrika, wie dem verstorbenen Babu, Issa Shivji, Mahmood Mamdani und Yash Tandon unter anderem, zu diskutieren. Jeder von ihnen hat mein Wissen erheblich erweitert, aber auch meinen Entschluss gestärkt, mich als afrikanische Frau für Wandel, Befreiung, Gleichheit und Gerechtigkeit einzusetzen.  

Können Sie uns abschließend sagen, was Sie lasen und zu welchen Schlussfolgerungen Sie später in Ihrem Leben aufgrund Ihres früheren Aktivismus in Madagaskar gekommen sind?

Da ich in Nairobi lebte, hatte ich Zugang zu Büchern in englischer Sprache, sodass ich eifrig die Klassiker über die Theorie des Kampfes der afrikanischen Völker las, da es in Madagaskar nicht viel über Afrika gab.   

Das Buch, das am erhellendsten für mich war und bis heute noch ist, ist Rodneys „How Europe Underdeveloped Africa“ (1972).  So sehr, dass wir, im Rahmen meines Programms zusammen mit anderen fortschrittlichen Organisationen in Nairobi und mit dem Nationalen Kirchenrat von Kenia, Walter Rodney einluden, nach Kenia zu kommen und zu Studierenden der Universität Nairobi sowie Mitglieder verschiedener sozialer Bewegungen zu sprechen. Dadurch konnten wir unser Verständnis von kapitalistischer Ausbeutung vertiefen und herausfinden, wie wir uns organisieren und zum Abbau dieser Ausbeutung beitragen können. 

Später, als ich eine der Beauftragten des Programms zur Bekämpfung von Rassismus des Ökumenischen Rates der Kirchen war, half mir mein Verständnis von Rodneys Thesen durch die Forderung einen Investitionsabbau von Südafrika zur Bewegung beizutragen und Studenten für die Solidarität mit den australischen Aborigines und den Tamilen Sri Lankas zu mobilisieren.

1975 kam ich aus familiären Gründen zunächst nach Europa, nach Genf. 1978 kehrte ich nach Nairobi zurück, wo ich feststellte, dass Menschen, die ich aus der sozialen Bewegung kannte, in Kenia untergetaucht waren und den PAMBANA-Newsletter herausgaben, der von der Moi-Regierung verboten wurde. Mehrere der Genossen, die ich damals kannte, waren aus diesem Grund inhaftiert. Meine politische Arbeit bestand darin, ihre Familien nach besten Kräften solidarisch zu unterstützen.  Bis mein Mann aufgrund einer erfundenen Anklage verhaftet wurde und wir nach seiner Entlassung aus der Haft Kenia erneut verlassen mussten, diesmal in Richtung Kanada.

In Kanada schrieb ich mich für einen Aufbaustudiengang in Frauenforschung an der Universität von Waterloo ein und unterrichtete gleichzeitig Französisch an der Universität von Waterloo und der Wilfred-Laurier-Universität, bis wir 1991 nach Großbritannien zogen, wo mein Mann einen Job bekam. 

Ich hatte zunächst eine Stelle im Africa Centre und gründete schließlich die Agency for Cooperation and Research for Development. Ich war für das Westafrika-Portfolio verantwortlich, das sich auf Mali, Niger, Burkina Faso, Tschad und Mauretanien konzentrierte und neue Programme in Guinea, Liberia und Sierra Leone entwickelte.

Was ich als afrikanische Frau aus meinem politischen Engagement lernte, ist, würde ich sagen, dass mir die Debatten, die Diskussionen und das Lernen während der Studierendenseminare im Jahr 1972 Wissen vermittelten, das mir später in meinem Leben nützlich war. Die Studentenbewegung an sich führte zu einer radikalen Veränderung des Bewusstseins, was falsch war, was geändert werden musste, wie diese Änderung stattfinden könnte und welche Rolle ich dabei spielen könnte.

Diese Debatten prägten auch den Begriff des „Unabhängigseins“ , im Gegensatz zum Erlangen der Unabhängigkeit. 

Unser Ziel als Studenten*innen war nicht, die Macht zu übernehmen, sondern die Entstehung eines demokratischen Staates zu fördern, der auf die Bedürfnisse der madagassischen Bürger eingehen und die Verwirklichung ihrer Ziele unterstützen kann.

Die heutigen politischen Praktiken scheinen einen solchen Prozess nicht zuzulassen, sodass wir wieder bei der immerwährenden Frage angelangt sind: Was muss getan werden?  

Micheline Ravololonarisoa war ihr ganzes Leben lang Aktivistin und Sozialistin und hat jahrelang als Schriftstellerin und Entwicklungsberaterin gearbeitet. Micheline lebt mit ihrem Ehemann in London.

Foto: ROAPE via Micheline Ravololonarisoa. Das Titelbild zeigt Micheline bei einer Rede als die Regierung die Forderungen der Studierenden während der Massenaufstände im Jahr 1972 ablehnte.

Anmerkungen

[1] Bei der Malgachisierung geht es nicht nur um die Verwendung der madagassischen Sprache, sondern auch um das Prinzip, das darauf abzielte, den Inhalt und die Methode der Bildung in Einklang mit den „revolutionären Imperativen“ einer sozialistischen Ideologie zu bringen, um den „Aufbau eines sozialistischen und wahrhaft madagassischen Staates, der in der Malagasy madagassischen Philosophie, den Werten, dem Denkprozess und der Sprache verwurzelt ist“ (Charta der madagassischen sozialistischen Revolution).

Available in
EnglishPortuguese (Brazil)GermanFrenchItalian (Standard)Arabic
Translators
Julie Hatch, Esther Trancón Widemann and ProZ Pro Bono
Date
08.01.2025
Source
Review of African Political Economy ROAPEOriginal article🔗
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