Briefing

PI-Rundbrief | Nr. 30 | Diebstahl der Demokratie

Eine beispiellose Manipulation der Wählerlisten bedroht Indiens fragile Demokratie.
Im dreißigsten Rundbrief der Progressiven Internationale von 2025 werfen wir einen Blick auf den Zustand der indischen Demokratie, wo das hart erkämpfte Wahlrecht vor aller Augen gestohlen wird.

Am 15. August 2025 feierte Indien 78 Jahre Unabhängigkeit von der Kolonialherrschaft. Die Trikolore flatterte als Beweis für den jahrhundertelangen Kampf um die Freiheit in unzähligen Dörfern und Städten. Aber unter der Oberfläche dieser Gedenkfeier lag eine tiefe Angst: dass das grundlegendste Recht, das in diesem Kampf errungen worden war – das Wahlrecht, das gleiche Stimmrecht aller Bürger*innen in den Angelegenheiten der Republik –, vor aller Augen gestohlen wurde.

Nur eine Woche vor dem indischen Unabhängigkeitstag veröffentlichte der Oppositionsführer Rahul Gandhi eine bombastische Untersuchung, die die indische Demokratie bis ins Mark erschütterte. Auf einer Pressekonferenz in Neu-Delhi enthüllte Gandhi am 7. August 2025 Daten aus Mahadevapura, Karnataka, einem Wahlkreis, den die regierende Bharatiya Janata Party (BJP) bei den Parlamentswahlen 2024 gewonnen hatte. Beispiellos in Bezug auf Präzision und Umfang, werden über 100.000 Stimmen infrage gestellt.

Die zitierten Zahlen sind so unfassbar, dass sie sich wie Fiktion lesen: 40.009 ungültige Adressen, über 10.000 Massenregistrierungen unter einzelnen Adressen, Duplikate und Tausende von unsinnigen Namen. In einem einzigen Gebäude in Bengaluru wohnten angeblich achtzig Wähler*innen, die von den Nachbarn nicht identifiziert werden konnten. Fernsehmoderator*innen strömten zu den präsentierten Adressen und fanden dasselbe vor. Normale Bürger*innen loggten sich zu Tausenden auf die Website der Wahlkommission ein, um die Daten herunterzuladen. Dabei fanden sie einen Datensatz nach dem anderen von einer Person mit mehreren „EPIC“ -Nummern oder eindeutigen Wähleridentitätsnummern. Kurz gesagt, die Beweise waren alle leicht verfügbar.

Die Reaktion darauf kam sofort und heftig. Die Wahlkommission wies die Anschuldigungen als „irreführend und unbegründet“ zurück. Minister der regierenden Regierung prangerten Gandhis Vorwürfe als Angriff auf die Nation an. Doch die Oppositionsführer*innen im gesamten INDIA-Block (Indian National Development Inclusive Alliance) schlugen sich auf seine Seite. Im Parlament und auf der Straße forderten sie eine kriminalistische Untersuchung und die Veröffentlichung der vollständigen Wählerdaten. Daraufhin wurden Dutzende von Parlamentsabgeordneten festgenommen.

Nun wird Indiens Demokratie erneut auf die Probe gestellt – bei den bevorstehenden Wahlen auf Landesebene in Bihar, dem zweitbevölkerungsreichsten Bundesstaat. Diese Woche hat Gandhi am 17. August in Sasaram, Bihar, die Wallfahrt ‚Voter Adhikar Yatra‘ lanciert – sein Schlachtruf wurde als „Kampf um den Schutz einer Person, einer Stimme“ formuliert. Er wirft der Wahlkommission (EC) vor, mit der regierenden BJP (Bharatiya Janata Party) zusammengearbeitet zu haben, um Wählerlisten unter dem Deckmantel der „Special Intensive Revision“ (SIR) zu manipulieren. Er behauptet, allein in Bihar seien 650.000 Wähler*innen entfernt worden, während in Maharashtra 10 Millionen neue Wähler*innen hinzukamen und in Karnataka über 100.000 Stimmen manipuliert wurden.

Dieses Wahlrecht wurde keineswegs einfach so weitergegeben; es wurde von den Kolonialherren hart erkämpft, eingefordert und abgerungen, die glaubten, gewöhnliche Inder*innen seien nicht in der Lage, sich selbst zu regieren. Als sie unabhängig wurden argumentierten viele, dass eine arme, analphabetische Bevölkerung unmöglich das allgemeine Wahlrecht aufrechterhalten könne.

Aber die verfassunggebende Versammlung unter der Leitung von B.R. Ambedkar blieb standhaft: Jeder Erwachsene, Mann oder Frau, ob reich oder arm, obere Kaste oder Dalit, würde das gleiche Mitspracherecht haben. Die ersten Parlamentswahlen 1951-52 waren ein Wunder der Organisation und Vorstellungskraft. Ambedkar sagte: „Demokratie ist nicht nur eine Regierungsform. Sie ist in erster Linie eine Art des Zusammenlebens, einer gemeinsam kommunizierten Erfahrung. Sie ist im Wesentlichen eine Haltung des Respekts und der Ehrerbietung gegenüber unseren Mitmenschen.“

Bei den Vorwürfen in Bezug auf die Manipulation der Wählerlisten geht es nicht nur um Schreibfehler oder technische Pannen. Sie zeigen ein tiefgründigeres Muster: den Versuch eines herrschenden Regimes, die Demokratie auszuhöhlen und gleichzeitig ihre Hülle beizubehalten, um eine neue Form von Autoritarismus durchzusetzen, die die Maske der Legitimität des Volkes trägt. Damit brechen sie nicht nur das Versprechen, das im Vorfeld der Unabhängigkeit gegeben wurde, sondern verunglimpfen auch die Kämpfe, die davor stattfanden –, die Bauern und Arbeiter*innen, die nicht nur gegen das Imperium, sondern auch gegen Hunger, Ausbeutung und Entrechtung gekämpft haben.

Heute, wo Millionen von Menschen feststellen, dass ihre Namen auf den Wählerlisten fehlen, klingt dieses Versprechen jedoch hohl. Man kann nicht umhin, sich an die Worte des Dichters Faiz Ahmed Faiz zu erinnern, der zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit voller Angst über die verheerende Teilung des Subkontinents schrieb:


„Dieses trübe Licht, diese nachtschwarze Morgendämmerung – das ist nicht die Morgendämmerung, auf die wir gewartet hatten.“

Faiz' Worte erklingen heute in einem Indien, in dem auch die Demokratie gespalten zu sein scheint – zwischen denen, deren Stimmen zählen, und denen, deren Namen verschwinden.

Achtundsiebzig Jahre später ist Unabhängigkeit keine Erinnerung, sondern ein Mandat. Der Unabhängigkeitstag erinnert uns nicht nur an die Befreiung von der Kolonialherrschaft, sondern auch an den langen, unvollendeten Kampf um echte Freiheit: Freiheit von Not, Freiheit von Angst und Freiheit, über unser Schicksal selbst zu entscheiden. Wenn uns die Wahl gestohlen wird – sei es durch Einschüchterung, Hass auf die Bevölkerung oder Manipulation der Wählerverzeichnisse –, dann wird die Republik selbst zu einer Hülle, die ihrer Substanz beraubt wurde.

Die erwartete Morgendämmerung ist noch nicht gekommen.

Diesem Diebstahl zu widerstehen, bedeutet daher, den Befreiungskampf in unserer Zeit fortzusetzen. Am 15. August 1947 entzündete Indien eine Fackel, die die kolonisierten Völker überall inspirierte: dass Freiheit möglich sei, dass Imperien gebrochen werden könnten, dass normale Menschen sich selbst regieren könnten. Heute flackert diese Fackel im Wind des Autoritarismus. Sie abzuschirmen, zu stärken, weiterzugeben – das ist die Aufgabe dieser Generation.

Das Neueste aus der Bewegung

League Against Imperialism

Auch noch achtzig Jahre nach dem Abwurf der Atombomben durch die USA auf Hiroshima und Nagasaki ist die nukleare Abrüstung von entscheidender Bedeutung.

Historisch gesehen haben sich Kampagnen für nukleare Abrüstung und antiimperialistische Bewegungen in ihrem gemeinsamen Kampf gegen strukturelle Gewalt, Ungerechtigkeit und hierarchische globale Macht stark angenähert.

Am 30. August 2025 veranstalten die Progressive Internationale, das Peace and Justice Project und die People's Health Movement im Rahmen der Centennial-Kampagne der League Against Imperialism eine Diskussion über nukleare Abrüstung und den Kampf gegen den Imperialismus.

Melde dich hier an, um die Diskussion mitzuverfolgen.

Kunst der Woche

Sarnath Banerjee (geb. 1972) ist ein in Kalkutta aufgewachsener, in Berlin lebender bildender Künstler und Autor grafischer Literatur auf einer surrealen Reise zwischen Geschichte, Fiktion und Alltäglichem. Das Bild, Cemetery 04, stammt aus einer Serie mit dem Titel Critical Imagination Deficit, die für die 13. Berliner Biennale für zeitgenössische Kunst auf Strukturen, welche für Indiens öffentliche Zeitungsstände typisch sind, installierte Zeichnungen und Audiodateien umfasst.

Critical Imagination Deficit wird beschrieben als „ein Beweis für Banerjees Diagnose einer flüchtigen Ära intellektueller Dominanz – einer Krise der euroamerikanischen hegemonialen Machtstrukturen, deren Symptome er möglicherweise von seiner deutschen Heimat aus genau beobachtet hat“. Banerjee ist Mitbegründer des preisgekrönten Verlagshauses Phantomville, Gastprofessor am IIT (Bombay, Jodhpur, Gandhinagar) und der Munjal University, Gurgaon und Gastprofessor an der Universität der Künste (UdK), Berlin.

Available in
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Date
20.08.2025
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