Comelli: Das Schuldennarrativ ist schlicht falsch

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Die moralisierende Geschichte von der Verschuldung der öffentlichen Haushalte wird immer und immer wieder erzählt. Die Krise von 2008 sei durch zu hohe öffentliche Schulden verursacht worden und weil die Kredite an die falschen Leute gingen — nämlich an arme Familien mit wenig Einkommen und noch weniger Verantwortung. Die Banken mussten wegen dieser Exzesse mit öffentlichen Geldern gerettet werden.

Das Problem mit dieser Erzählung: Sie ist falsch. International gesehen gab und gibt es die höchste Verschuldung der öffentlichen Haushalte nicht in den Vereinigten Staaten, sondern in Nordeuropa. Auch Nordeuropa spürte die Krise, aber nicht im gleichen Ausmaß wie die USA. Warum waren die USA stärker betroffen? Und warum unterscheidet sich die Höhe der Haushaltsverschuldung von Land zu Land überhaupt so stark?

Es braucht ein neues, internationales Narrativ.

Seit Beginn der Finanzkrise in den Vereinigten Staaten im Jahr 2008 ist die private Verschuldung zu einem immer brisanteren Thema in den Wirtschaftswissenschaften geworden. Nach Ansicht vieler Ökonom*innen war die übermäßige Verschuldung der Haushalte eine der Hauptursachen der Krise von 2008 — nicht nur, weil die Menschen nicht in der Lage waren, ihre Schulden zurückzuzahlen, sondern auch, weil die Wirtschaftsaktivitäten verlangsamt wurden, um die bestehenden Schulden zurückzuzahlen. Dadurch vertiefte sich die Rezession weiter.

Um dieses Wachstum der Verschuldung zu erforschen, schaute sich ein kleiner, aber bedeutender Teil der sozialpolitischen Fachliteratur die Beziehung zwischen Krediten und Sozialausgaben der Staaten an. Viele Autor*innen argumentierten, der Anstieg der Verschuldung sei die Folge des Sozialabbaus oder des Mangels an Sozialschutz. Mit anderen Worten, sie stellten die Hypothese eines Trade-offs zwischen Wohlfahrtstaat und Verschuldung der Haushalte auf. Das heißt: In Ländern, in denen der Sozialstaat großzügiger ist, brauchen sich die Menschen kein Geld zu leihen, während in Ländern mit weniger großzügigen Sozialsystemen die Menschen Kredite aufnehmen müssten, um sich lebensnotwendige Güter leisten zu können.

Meine Forschung zeigt, dass diese beiden Aspekte — dass die Schuld bei den Kreditnehmenden liegt und dass es eine Umkehrbeziehung zwischen der Stärke des Wohlfahrtsstaates eines Landes und der Verschuldung gibt — vollkommen falsch sind.

Meine Schlussfolgerungen haben tiefgreifende Auswirkungen auf unseren Bezugsrahmen für das Erörtern der Haushaltsverschuldung. Letztlich zeigen sie nämlich, dass wir starke, robuste, integrative Wohlfahrtssysteme haben sollten; und wenn dem so ist, haben die Haushalte (und die Länder) auch stabilere Finanzsysteme — selbst wenn sich die Haushalte verschulden.

Erstens zeigt meine Forschung, dass es nicht unbedingt der Fall ist, dass robuste Wohlfahrtssysteme tatsächlich eine geringere Kreditaufnahme der Haushalte bedeuten. Meine Überprüfung der Daten zeigt, dass die höchste private Verschuldung in eben jenen Ländern besteht, in denen die Sozialausgaben recht generös sind: in den skandinavischen Ländern. Die Haushalte in Dänemark beispielsweise haben Schulden angehäuft, die insgesamt mehr als dreimal so hoch sind wie das verfügbare Nettoeinkommen der Nation (315,25 Prozent, OECD-Daten von 2014). In den Vereinigten Staaten betrug die Verschuldung der Haushalte im selben Jahr 114 Prozent des verfügbaren Nettoeinkommens.

Ich argumentiere daher, dass das Alter der Sozialhilfeempfänger*innen eine große Rolle spielt. Wenn sich die meisten Sozialausgaben auf Senior*innen und deren Renten konzentrieren, wird die junge und aktive Bevölkerung weniger zuversichtlich und weniger gewillt sein, Risiken einzugehen, wie beispielsweise Geld zu leihen. Das ist in den meisten Teilen Kontinentaleuropas der Fall. Aber in Staaten mit einem breiteren Schutz der Erwerbsbevölkerung und der Jugend — also dort, wo es beispielsweise eine starke Arbeitslosenpolitik und höhere Bildungsausgaben gibt — haben die Menschen viel mehr Zuversicht für die Zukunft. Sie verfügen über eine größere finanzielle Stabilität, was sie dazu ermutigt, Risiken einzugehen, wie eben die Aufnahme von Krediten.

Es ist also die Qualität der bestehenden Sozialleistungen, die die Quantität der Kreditaufnahme beeinflusst — und nicht die Quantität oder Großzügigkeit der Sozialleistungen, die die Quantität der Verschuldung der Haushalte beeinflusst. Länder, die einen höheren Anteil ihres Sozialbudgets ausgeben, um Jugendliche vor Arbeitslosigkeit und anderen Risiken zu schützen, haben tendenziell eine höhere Verschuldung der Haushalte, während Länder, die den größten Teil ihrer Ausgaben für Senior*innen aufwenden, tendenziell eine geringere Verschuldung aufweisen. Wenn sich junge Menschen finanziell sicher fühlen, werden sie auch weniger risikoscheu.

Genau das sollte eine genuin progressive Politik in Bezug auf die Verschuldung der Haushalte berücksichtigen: Die Lösung für die Verschuldung der Haushalte sollte nicht in mehr Sparmaßnahmen und Austerität bestehen oder sich darauf beschränken, die Banken mit Steuergeldern zu retten. Eine hohe Verschuldung der Haushalte ist nicht unbedingt ein Problem, wie uns das skandinavische Beispiel gezeigt hat.

Problematisch ist das Fehlen eines Systems, das den Menschen aus der Patsche hilft, das einen Bailout für seine Bürger*innen bietet — also einen echten Sozialstaat. Ein wahrer Sozialstaat sollte außerdem integrativ sein, um seine Ziele der Schaffung eines stabileren finanziellen Umfelds zu erreichen. Eine hohe Verschuldung war für die Menschen in den skandinavischen Ländern weniger problematisch. Ebenso für die Volkswirtschaften dieser Länder im weiteren Sinne.

Wenn uns die Krise von 2008 irgendetwas vor Augen geführt hat, dann, dass sowohl Politiker*innen als auch Marktakteure beschlossen haben, die Realwirtschaft zu nutzen, um eine stark fremdfinanzierte Finanzwirtschaft zu retten, während sie gleichzeitig mit dem Finger auf einen (letztlich nicht sonderlich fremdfinanzierten) Privathaushalts-Sektor zeigten. Meine Untersuchung zeigt hingegen, dass die Haushalte nicht schuld waren.

Durchgesetzt hat sich diese Darstellung, die den Haushalten die Schuld in die Schuhe schiebt, teilweise aufgrund der Macht, die die Finanzwelt in unserem System hat. Wir müssen dieses Narrativ verschieben und umschreiben. Einst wurde der Finanzsektor dazu benutzt, die Realwirtschaft zu finanzieren und ihr Kapital für Produktionstätigkeiten zur Verfügung zu stellen. Heutzutage liefert die Finanzwirtschaft aber Wachstum, das die Realwirtschaft nicht liefern kann, und sie ist daher zum Hauptinteresse der politischen und wirtschaftlichen Elite geworden, die nach möglichst einfachen und schnellen wirtschaftlichen Gewinnen strebt. Unser theoretisches und politisches Denken sollte aber vielmehr die Menschen und die Realwirtschaft in den Vordergrund stellen. Und das ist in einem einzelnen Land nicht möglich. Der Kampf und die Analyse sollten in ihrem Kern internationalistisch sein. Sonst werden die Narrative der Mächtigen erneut die Oberhand gewinnen.

Bild: Umfang der Haushaltsverschuldung nach Altersorientierung der Sozialausgaben in OECD-Ländern.

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Hinweis: Die Abbildung veranschaulicht eine Umkehrbeziehung zwischen der Orientierung der Sozialausgaben auf ältere Menschen (EBiSS, auf der x-Achse) und der Höhe der Verschuldung der Haushalte in Prozent des verfügbaren Nettoeinkommens (auf der y-Achse). Die EBiSS (Vanhuysse 2014) wird als Quote zwischen den Sozialausgaben für die Erwerbsbevölkerung (im Zähler) und den auf die ältere Bevölkerung ausgerichteten Ausgaben (im Nenner) berechnet, wobei Daten aus der OECD SOCX-Datenbank verwendet werden. Ein höherer Wert auf dem EBiSS-Index bedeutet, dass ein größerer Anteil der Sozialausgaben an die ältere Bevölkerung geht. Zum Beispiel entspricht in Polen ein EBiSS von 8,6 einem Anteil von 37,5 Prozent der Haushaltsverschuldung in Prozent des verfügbaren Nettoeinkommens. Das graue Feld entspricht einem Konfidenzintervall von 95 Prozent. Das Modell deutet darauf hin, dass die 38 Prozent der Abweichungen in der Verschuldung der Haushalte zwischen den einzelnen Ländern durch die verzerrte Orientierung der Sozialausgaben insbesondere auf ältere Menschen erklärt werden können.

Daten: National Accounts at a Glance,https://data.oecd.org/hha/household-debt.htm, OECD.

Available in
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Authors
Martino Comelli
Translator
Tim Steins
Published
14.07.2020
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