Im heutigen Libanon sind Hunger und Armut lebensbedrohlicher als das Coronavirus.
Seit Jahren leidet das Land unter gravierenden Mängeln in der öffentlichen Daseinsvorsorge. Nicht nur im Bildungssystem, sondern auch in der Gesundheitsversorgung und bei der Bereitstellung von Trinkwasser, Strom, sanitären Einrichtungen und Transport.
Dennoch hat sich Situation im vergangenen Winter dramatisch verschlechtert: Während im September 2019 etwa ein Drittel der libanesischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebte, sind es heute fast die Hälfte. Gleichzeitig verdienen die reichsten 1 Prozent der Bevölkerung mehr als doppelt so viel wie die ärmsten 50 Prozent.
Heutzutage hat der Libanon im Verhältnis zum BIP die drittgrößten Schuldenlast weltweit; davon etwa 40 Prozent in US-Dollar. Durch das intransparente und verantwortunglose Handeln der libanesischen Zentralbank führte die Dollarknappheit im September 2019 zu Unterbrechungen beim Import von Treibstoff und Mehl. Mitte Oktober brachen Demonstrationen los, nachdem die Regierung versucht hatte drastische Sparmaßnahmen durchzusetzen, unter anderem auch mithilfe einer Besteuerung von Whatsapp-Anrufen.
Lokale Banken nutzten den Aufstand als Ausrede, um Beschränkungen für die Bargeldabhebung von Konten durchzusetzen. Mitte März kam die Regierung mit ihren Schulden in Verzug. Mitte April gab die Zentralbank bekannt, dass Dollareinlagen nur zum offiziellen Wechselkurs in der Landeswährung abgehoben werden konnten, obwohl die Währung auf dem Markt mehr als die Hälfte ihres Wertes verloren hatte. Diese Maßnahmen, die die Einwohner*innen ihrer Kaufkraft und ihrer Ersparnisse beraubt haben, wurden inmitten der COVID-19-Beschränkungen verabschiedet.
Wir, die Unterzeichnenden, sehen die Krise im Libanon als Teil einer globalen Dynamik mit lokal unterschiedlichen Ausprägungen, abhängig von den wirtschaftlichen und politischen Umständen.
Die sogenannte globale Schuldenkrise ist in Wirklichkeit eine Akkumulationskrise; denn die Schulden könnten zurückgezahlt werden, wenn die in den Banken weltweit gelähmten Überschüsse in produktive Aktivitäten investiert würden.
Unter dem Druck des Washingtoner Konsenses verabschiedeten Regierungen auf der ganzen Welt nach dem Kalten Krieg eine Politik, die auf die Interessen des Finanzkapitals ausgerichtet war. Diese Politik beinhaltete dieLiberalisierungdes Kapitalverkehrs sowie größere Freiheiten für große Unternehmen, aber auch eine Verlagerung des übergeordneten Ziels der Wirtschaftspolitik. Im Sinne des Finanzsektors und zum Leidwesen der Gesellschaft löste niedrige Inflation das Ziel der Vollbeschäftigung ab.
Im Libanon saßen kriegführende Milizen mit internationalen Unterhändlern am Verhandlungstisch, um die Beute des durch Staatsschulden finanzierten Wiederaufbaus unter sich aufzuteilen. Wie viele andere Länder im globalen Süden, koppelte der Libanon seine Landeswährung an den Dollar. Das feste Wechselkursregime und die daraus resultierenden hohen Zinssätze ermöglichten es ausländischem Kapital, ins Land zu strömen, von den hohen Zinsen zu profitieren und das Land sicher wieder zu verlassen. Davon profitierten sowohl ausländische Investoren, als auch der als Vermittler tätige inländische Finanzsektor.
Die Kosten für diese Finanzgewinne wurden von der inländischen Produktion und Landwirtschaft getragen. Diese Wirtschaftsbereiche verloren aufgrund der hohen Zinssätze den Zugang zu Krediten und sahen sich mit ständig steigenden Mieten konfrontiert. Zusätzlich büsten libanesische Unternehmen ihre Wettbewerbsfähigkeit durch eine Überbewertung der Währung ein.
Mit anderen Worten: Anstatt die Realwirtschaft zu finanzieren und langfristige Arbeitsplätze zu schaffen, trieben die enormen Kapitalzuflüsse die Immobilienpreise und Finanzgewinne in die Höhe.
Als Folge der starken Kapitalzuflüsse aus dem Ausland entwickelten sich die libanesischen Geschäftsbanken zu mächtigen politischen Akteuren. Bankiers wurden in viele Schlüsselpositionen der Exekutivbehörden berufen und ihre Lobby hat sich mit der Führung der Zentralbank zusammengetan, um eine Geld- und Fiskalpolitik zu betreiben, die einzig ihren Interessen diente.
Heute besitzen Politiker*innen, die seit dem Ende des Bürgerkriegs an der Regierung sind oder waren, etwa 40 Prozent der Vermögenswerte im libanesischen Bankensektor. Daher ist es wenig überraschend, dass der Libanon eine der niedrigsten Kapitalertragsteuern weltweit aufweist. Gleichzeitig investierten die Banken etwa drei Viertel ihres Vermögens (entweder direkt oder indirekt über die Zentralbank) in eine ungerechtfertigt teure Staatsverschuldung, die zeitweise mehr als 35 Prozent Jahresrendite abwarf.
Das Wachstum im Bankensektor glich daher eher einem Anstieg der Renten und nicht dem Ergebnis der Übernahme finanzieller Risiken und der Mittlertätigkeit. Der Schuldendienst macht etwa ein Drittel der Staatsausgaben aus und verschlingt mehr als die Hälfte der Staatseinnahmen, welche überwiegend aus pauschalen Konsumsteuern bestehen, die die Armen und die Mittelschicht unverhältnismäßig stark belasten — ein perverser Vermögenstransfer von den vielen zu den wenigen.
Lokale Eliten, gemeinsam mit dem Finanzsektor, unterstützten eine solche Politik im gesamten globalen Süden und schmiedeten eine politische Allianz zwischen dem Staat und transnationalen Finanzinteressen. Mit der Liberalisierung der Finanzmärkte wurde die politische Autonomie eingeschränkt, da Länder, die den Interessen der Investoren nicht nachkamen, mit Kapitalflucht bestraft wurden. Die Finanzeliten gewannen größeren Einfluss auf die Politik und drängten auf eine Politik, die die Einkommen aus Landwirtschaft und Industrie weiter in den Finanzsektor transferierte, was die Einkommensungleichheit vergrößerte und zu Arbeitslosigkeit und Lohnstagnation beitrug.
Der Libanon bietet einen der gravierendsten Fälle von Finanzialisierung, da er seine Wirtschaft um der finanziellen Interessen willen völlig ruiniert hat. 80 Prozent des lokalen Konsums werden importiert, während die Hälfte der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt.
Während Entwicklungsländer häufig eine Koppelung ankündigen, halten sich nur wenige so fest daran wie der Libanon. Eine Abwertung der Währung würde die Exporte fördern und damit Arbeitsplätze schaffen und den Druck auf die Menschen vor Ort mindern. Die außerordentlich stabile Währungsbindung im Libanon ist ein Zeugnis für die gewaltige Macht der lokalen Oligarchie, die durch die konfessionellen Spaltungen aufrechterhalten wird, welche sich durch die libanesische Gesellschaft ziehen und den sozialen Widerstand behindern.
Um einen Unterschied zu machen, müssen soziale Bewegungen in der ganzen Welt auf eine gemeinsame Vision und globale Solidarität unter Schuldnern hinarbeiten. Das Problem ist offensichtlich politischer Natur. Die Lösung sollte weder dem Bündnis von Politiker*innen und Bankiers überlassen werden, deren Interessen den Gebote des gemeinsamen Wohlstands entgegenwirken, noch den Ökonom*innen in internationalen Institutionen, die als Gerichtsvollzieher im Namen der Gläubiger fungieren. So lobte Anfang Juli 2019 ein Bericht des Internationalen Währungsfonds (IWF) die überbewertete Währungsbindung des Libanon sowie den lokalen Bankensektor und forderte eine “fiskalische Anpassung”, die der Bericht selbst als kontraktiv bezeichnete. Zu den Maßnahmen zählten ein Einstellungsstopp im öffentlichen Sektor, eine Erhöhung der Konsumsteuern auf Benzin und Diesel sowie eine Erhöhung der Mehrwertsteuer und eine Steuer auf Taxikennzeichen — wobei zu bedenken ist, dass Taxifahren die Einkommensquelle der meisten Arbeitslosen oder Unterbeschäftigten im Lande ist.
Unterdessen schlug ein in der ersten Maiwoche 2020 von der derzeitigen Regierung veröffentlichter Wirtschaftsplan Maßnahmen für ein Rettungspaket des IWF vor. Das Paket sah weitere fiskalische Sparmaßnahmen und eine Aufgabe der Währungsbindung vor, ohne die strukturellen Probleme im Libanon anzugehen oder einen greifbaren Vorschlag für die Sozialfürsorge zu unterbreiten.
Bezeichnenderweise gab es in derselben Woche mehr Fälle zunehmender Brutalität bei der Unterdrückung von Demonstrationen und es kam zue Folter inhaftierter Demonstrierenden.
Die einzig sinnvolle Lösung für diese Krise ist eine Umstrukturierung der Staatsverschuldung. Neben der erheblichen Senkung der Hauptlast bedarf es einer Gewährleistung des Sozialschutzes. Eine zielgerichtete und faire Verteilung der Verluste kann durch eine einmalige progressive Vermögenssteuer oder zumindest durch eine einmalige progressive Steuer auf die riesigen Vermögen, die in den Banken deponiert sind, erreicht werden, um kleine Einleger*innen zu schonen. Eine Rettung der Banken und der größten Profiteure der drei Jahrzehnte lang betriebenen Wirtschaftspolitik muss unbedingt verhindert werden. Das libanesische Volk darf weder durch unfaire Abgaben, noch durch Hyperinflation oder den Ausverkauf öffentlicher Vermögenswerte zur Kasse gebeten werden.
Die Unterzeichnenden, von der Dringlichkeit eines Systemwandels im Libanon überzeugt, bringen progressive Stimmen aus dem ganzen Land zusammen, um eine echte Alternative zu dem politischen System aufzubauen, das das Land derzeit lähmt und in den Bankrott treibt.
Nur eine wirklich progressive Alternative kann eine produktive Wirtschaft aufbauen, die sich durch soziale Gerechtigkeit auszeichnet. Das erfordert eine neue Steuer-, Währungs- und Sozialpolitik mit einem gerechten Steuersystem, zuverlässiger sowie universeller sozialer Absicherung. Außerdem bedarf es einer Verkleinerung des Banken- und Immobiliensektors im Rahmen eines wirtschaftlichen Umbaus, sodass der Großteil der wirtschaftlichen Akkumulation der produktiven Sektoren und zur Schaffung menschenwürdiger Arbeitsplätze dient.
Diese Vision kristallisiert sich in den landesweiten Aufständen heraus. Nichtsdestotrotz glauben wir, dass der Kampf gegen die Finanzoligarchien und ihren politischen Partnern von globalem Ausmaß ist und daher ein globales, kollektives Handeln erfordert.
Wir rufen die progressiven Kräfte in der ganzen Welt auf, sich unserem gemeinsamen Kampf gegen Ungleichheit, Umweltzerstörung und dem Abbau der Demokratie durch Bankiers und die Ultrareichen anzuschließen.
Unterzeichner*innen:
Lihaqqi
Qantari Collective
Youth Movement for Change
Mada Youth Network
AUB Secular Club
NDU Secular Club
Housing Monitor at Public Works Studio
Workers in Art and Culture
Lebanese Coalition of Health Professionals
Lebanese Assembly of Engineers and Architects (LAEA)