Forscher*innen haben mehr als zwanzig Anwaltskanzleien identifiziert, die Dienstleistungen anbieten, mit denen von Staaten eine Entschädigung für Anti-Corona-Maßnahmen gefordert werden könnte. Das sei möglich, wenn sich negativ die Maßnahmen auf die Unternehmensgewinne – einschließlich entgangener zukünftiger Gewinne – ausgewirkt haben.
Zu den Maßnahmen, die rechtlich angefochten werden könnten, gehören demnach der staatliche Erwerb privater Krankenhäuser; Schritte, mit denen sichergestellt wurde, dass Medikamente, Tests und Impfstoffe erschwinglich sind; sowie der Erlass von Mieten, Schulden und Zahlungen für Versorgungsleistungen.
Politiker*innen in ganz Europa haben die in der Recherche beschriebenen Aktivitäten verurteilt und solche Vorgehensweisen als einen “Angriff auf die Demokratie” verurteilt.
Die Studie, die vom “Transnational Institute” (TNI) und “Corporate Europe Observatory” (CEO) gemeinsam veröffentlicht wurde, stützt sich auf Aussagen aus juristischen Briefings, Warnbriefe an Mandant*innen und Webinaren von Firmen – und umreißt eine Liste von, wie sie es nennt, “zehn besonders abscheulichen Prozess-Szenarien, die von einigen der aktivsten Anwaltskanzleien entwickelt wurden”.
Im Rahmen der ohnehin umstrittenen “Investor-State Dispute Settlement”-Mechanismen (ISDS) haben ausländische Investoren, Unternehmen und Aktionär*innen die Möglichkeit, Staaten direkt vor obskuren internationalen Tribunalen wegen einer Vielzahl von Regierungsmaßnahmen zu verklagen.
In den vergangenen 25 Jahren wurden mehr als 1.000 Klagen von Investoren gegen Staaten eingereicht. Die Forscher*innen beschreiben das als “ein paralleles Justizsystem für die Reichen”. Viele dieser Prozesse folgten auf Maßnahmen, die von Ländern in Krisenzeiten ergriffen wurden, zum Beispiel im Rahmen der argentinischen Finanzkrise Anfang der 2000er Jahre und des Arabischen Frühlings Anfang der 2010er Jahre.
Die britische Parlamentsabgeordnete Caroline Lucas kommentiert die Forschungsergebnisse: “Viele von uns haben seit Jahren davor gewarnt, dass die ISDS-Mechanismen äußerst gefährlich sind. Hier gibt es jetzt noch mehr vernichtende Beweise.”
“Öffentliche Gelder sollten für den Schutz der öffentlichen Gesundheit und des Lebensunterhalts der Menschen verwendet werden, nicht dafür, die Taschen gieriger multinationaler Konzerne und ihrer Anwälte zu füllen.”
“Maßnahmen, die angeblich getroffen werden, um ein schwerwiegendes Problem zu lösen, aber ansonsten unverhältnismäßig bestimmte Unternehmen betreffen [...] können mit dem Völkerrecht unvereinbar sein.” - Shearman & Sterling LLP
Zu den in dem Bericht genannten Anwaltskanzleien gehört die in den USA ansässige Kanzlei Shearman & Sterling. Im Jahr 2014 sicherte sie sich den bisher höchstdotierten Schiedsspruch in der Geschichte der ISDS-Schiedsgerichtsbarkeit: Sie hatte die russische Regierung im Namen der Aktionär*innen des Öl- und Gasunternehmens Yukos auf $50 Milliarden verklagt.
In einem Briefing zu COVID-19 erklärte das Unternehmen kürzlich, man sei “bereit, Staaten und Investoren gleichermaßen in Bezug auf die Maßnahmen der Regierung zu beraten, die im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie ergriffen wurden oder noch ergriffen werden”.
Zu den explizit angesprochenen Maßnahmen gehören Mietverzicht und die Aussetzung der Zahlung von Energierechnungen. “Während diese Maßnahmen den Schuldnern helfen, würden sie sich offensichtlich auf die Gläubiger auswirken indem sie Einkommensverluste verursachen,” warnt Shearman & Sterling.
Weiter heißt es: “Maßnahmen, die angeblich getroffen werden, um ein schwerwiegendes Problem zu lösen, aber ansonsten unverhältnismäßig bestimmte Unternehmen betreffen [...] können mit dem Völkerrecht unvereinbar sein.”
Auch Notfallmaßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit könnten im Kreuzfeuer stehen: In Spanien und Irland sind private Krankenhäuser von den öffentlichen Gesundheitssystemen übernommen worden, während die US-Regierung einige Unternehmen verpflichtet hat, Beatmungs- und andere medizinische Geräte zu produzieren.
Quinn Emanuel, die weltweit größte Anwaltskanzlei, die sich auf Wirtschaftsprozesse und Schiedsgerichtsbarkeit spezialisiert hat (und zu deren Kunden ExxonMobil und Koch Industries gehören), erklärt, dass Investoren in der Gesundheitsbranche “indirekte Enteignungsansprüche haben könnten, wenn die Übergabe der Kontrolle unfreiwillig erfolgt ist”. Ferner wird betont, dass Unternehmen, die gezwungen wurden, medizinische Versorgungsgüter herzustellen, auf “unrechtmäßige indirekte Enteignung” klagen könnten – zumindest, wenn sie der Ansicht sind, dass keine angemessene Entschädigung gezahlt wurde.
Andere denkbare “abscheuliche Szenarien”, die in dem Bericht genannt werden, sind Klagen gegen Staaten, die Maßnahmen ergriffen haben, um sauberes Wasser zum Händewaschen bereitzustellen, oder die soziale Unruhen nicht verhindert haben.
Der Europaabgeordnete Martin Schirdewan, Ko-Fraktionsvorsitzender der Vereinigten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL), sagte gegenüberopenDemocracy:
“Der Einsatz von ISDS-Klagen ist unter jeglichen Umständen ein Angriff auf die Demokratie. Aber die Tatsache, dass Unternehmen mitten in einer Pandemie erwägen, Regierungen wegen Maßnahmen zum Schutz der menschlichen Gesundheit zu verklagen, ist wirklich erschreckend.
“Wie auch immer sie es darstellen wollen: Ein solcher Mechanismus gibt Unternehmen nach wie vor die Macht, Regierungen zu verklagen, die eine Politik umsetzen, die sich auf die erwarteten zukünftigen Konzerngewinne auswirken kann, und Schadenersatz zu erhalten.”
Manon Aubry, Europaabgeordnete für La France Insoumise, fügte hinzu: “Investitionsschutzverträge geben multinationalen Konzernen die Gewissheit, dass die Staaten ihre Gewinne vor allem anderen, einschließlich des allgemeinen Interesses, garantieren – was auch immer geschieht.”
“Wir müssen dringend aus diesen Verträgen aussteigen, die uns veranlassen, die Bürger*innen zu opfern, um ruchlose Geschäftsmodelle zu schützen – von Big Pharma bis zur fossilen Brennstoffindustrie – selbst in Krisenzeiten.”
Ein Sprecher von Shearman & Sterling sagte, das Briefing, auf das sich die Studie bezieht, mache deutlich, dass die Staaten “die Pflicht (und das Recht) haben, die öffentliche Gesundheit und ihre Wirtschaft zu schützen”. Nach internationalem Recht hätten sie demnach bereits “einen breiten Spielraum, um mit Krisen umzugehen”. Shearman & Sterling handele bei Streitigkeiten über Investitionsverträge darüber hinaus sowohl im Namen von Staaten als auch von Investoren und habe dabei eine Reihe von bedeutenden Siegen für Staaten errungen. Darüber hinaus engagiere sich die Firma in umfassender Pro-Bono-Arbeit im Zusammenhang mit COVID-19-Fragen.
Quinn Emanuel hat auf unsere Bitte um Stellungnahme nicht reagiert.
Laura Basu ist Europa-Redakteurin von ourEconomy und Forschungsstipendiatin am Institute for Cultural Inquiry, Universität Utrecht, und Goldsmiths, Universität London. Sie ist die Autorin vonMedia Amnesia: Rewriting the Economic Crisis sowie Mitherausgeberin von The Media and Austerity.
Laurie Macfarlane ist Wirtschaftsredakteur bei openDemocracy und wissenschaftlicher Mitarbeiter am UCL Institute for Innovation and Public Purpose. Er ist Mitautor des von Kritikern gelobten Buches Rethinking the Economics of Land and Housing.
Aaron White ist der Herausgeber von ourEconomy in Nordamerika und Mitbegründer von The Junction.