Economy

Um die „Hölle auf Erden“ zu beenden, müssen die USA Afghanistans 7 Mrd. Dollar an Reserven freigeben

Andrés Arauz, PI-Ratsmitglied und ehemaliger Direktor der ecuadorianischen Zentralbank, fordert, dass US-Präsident Biden die Devisenreserven Afghanistans freigebe, um die Not der afghanischen Bevölkerung zu lindern.
Die Entscheidung der Biden-Regierung, 7 Milliarden Dollar an Devisenreserven der afghanischen Zentralbank einzufrieren, hat die größte humanitäre Krise der Welt ausgelöst. Um die kollabierende Wirtschaft wieder aufzubauen, braucht Afghanistan eine funktionierende Zentralbank – und eine funktionierende Zentralbank muss Zugang zu ihren Devisenreserven haben.

„Die Hölle auf Erden.“ So beschreibt der Exekutivdirektor des Welternährungsprogramms, David Beasley, die größte humanitäre Krise der Welt in Afghanistan. Zwanzig Millionen Menschen – fast die Hälfte der Bevölkerung des Landes - leiden unter akutem Hunger. Alarmierende Berichte über Menschen, die ihre Nieren verkaufen, um Lebensmittel zu kaufen, sind immer häufiger zu hören.

Dieser reale Alptraum ist eine politische Entscheidung der US-Regierung. Als die Taliban im August 2021 de facto die neue Regierung Afghanistans bildeten, beschloss die Biden-Regierung, der afghanischen Zentralbank, der Da Afghanistan Bank (DAB), den Zugang zum Großteil ihrer 7 Milliarden Dollar an internationalen Reserven in den USA zu verweigern. Ohne Zugang zu den Währungsreserven ist es für die DAB praktisch unmöglich geworden, ihre grundlegenden Zentralbankfunktionen zu erfüllen. Und ohne eine funktionierende Zentralbank war der wirtschaftliche Zusammenbruch fast unvermeidlich.

Die Sperrung der DAB-Vermögenswerte und die anschließende Executive Order, die Hälfte dieser Vermögenswerte für eine mögliche Entschädigung der Opfer der Anschläge vom 11. September 2001 beiseite zu legen, wurden von Abgeordneten, Ökonom*innen, UNO-Menschenrechtsexpert*innen, NGOs, Familien der Opfer vom 11. September 2001 sowie den Afghan*innen selbst verurteilt.

Nach monatelangem Druck gibt es nun Berichte, wonach die Biden-Regierung Gespräche mit den Taliban über einen noch nicht festgelegten Mechanismus für die Verwendung einer Hälfte des Vermögens zur Bewältigung der Krise führt.

Obwohl zwar verschiedene Lösungen vorgeschlagen wurden, weiß ich – als ehemaliger Generaldirektor der ecuadorianischen Zentralbank –, dass es nur einen Weg gibt, der diese Krise stoppen und das Leiden des afghanischen Volkes beenden kann: der DAB den sofortigen Zugang zu ihren Währungsreserven in vollem Umfang zu ermöglichen.

Zentralbanken: „unverzichtbare Rolle“

Die Zentralbanken spielen eine unverzichtbare Rolle in der Wirtschaftspolitik, indem sie die Geldmenge kontrollieren und die Ziele einer niedrigen Inflation, Währungsstabilität und hohen Beschäftigung miteinander in Einklang bringen. Um diese Aufgaben erfüllen zu können, benötigen die Zentralbanken Reserven an vertrauenswürdigen Fremdwährungen, insbesondere des US-Dollars.

Dies ist besonders wichtig für eine Volkswirtschaft wie die Afghanistans, welche Devisen benötigt, um dringend gebrauchte Importe wie Lebensmittel und Medikamente zu bezahlen. Aus diesem Grund hat die DAB im Laufe der Jahrzehnte Milliarden von Dollar an Devisenreserven aufgebaut, was mit hohen Opportunitätskosten verbunden war.

Als die DAB den Zugang zu diesen Reserven verlor und gleichzeitig die humanitäre Hilfe abrupt einbrach, entstand ein akuter Mangel an Bargeld, um Waren zu kaufen. Die Ausgabe von mehr Geld war keine Option, da der Afghani (die afghanische Währungseinheit) ohne Devisenunterstützung schnell an Wert verlieren würde.

Als der DAB der Zugriff auf ihre im Ausland deponierten Reserven verwehrt wurde, wertete der Afghani-zu-Dollar-Wechselkurs (der seit mehr als drei Jahren relativ stabil war) stark ab, was zu einem Anstieg der Inflation – insbesondere der Lebensmittelpreise – führte. Millionen von Haushalten mussten Gehaltseinbußen hinnehmen; die privaten Banken verfügen nicht über genügend Bargeld, um Abhebungen zu ermöglichen, und selbst dort, wo es Lebensmittel gibt, können sich viele diese nicht leisten.

Die eingefrorenen Mittel für humanitäre Hilfe zu verwenden, würde wenig zur Wiederherstellung einer funktionierenden Wirtschaft beitragen. Alternativen, wie der Versuch, dem Markt ohne den Umweg über die DAB wieder Liquidität zuzuführen, wären ebenfalls unzureichend. Dies würde die jahrelange Entwicklung der DAB-Kapazitäten (in welche die USA stark investiert haben) zunichte machen und zu einem ungleichen, kriminogenen Umfeld ohne wirksame Regulierung beitragen, das die Konzentration von Liquidität und wirtschaftlicher Macht in wenigen Händen begünstigt.

Die Umgehung der DAB mit Bargeld aus den USA würde auch das elektronische Zahlungssystem der Zentralbank schwächen und ihr Kreditvergabepotenzial zum Zwecke der wirtschaftlichen Erholung stark beeinträchtigen. Kurz gesagt, jedes Land braucht eine Zentralbank, und eine Umgehung der DAB würde die langfristigen Aufgaben der Institution untergraben.

Währungsreserven: „kritisch“

Die Mittel wären am wirksamsten, wenn sie der DAB sofort und in vollem Umfang zur Verfügung gestellt würden. Die Währungsreserven sind nicht nur dann von Nutzen, wenn sie verwendet werden – zum Beispiel beim Umtausch gegen Importe –, sondern auch, wenn sie nicht verwendet werden, also als Reserven. Der Gesamtbestand an Währungsreserven ist ein wichtiger makroökonomischer Indikator. Das Halten ausreichender Reserven signalisiert, dass die Zentralbank über die notwendigen Ressourcen verfügt, um potenzielle Abflüsse zu steuern, dass die Währung über Absicherungen verfügt und dass das Land ein sicherer Ort ist, um Geschäfte zu tätigen.

Währungsreserven können auch als Sicherheit für neue Schulden und Importe dienen – je größer der Bestand an Reserven, desto größer die Möglichkeit, Finanzierungen zu erhalten. Dies ist für das importabhängige Afghanistan angesichts der weltweit steigenden Lebensmittelpreise besonders wichtig.

Wie der Leiter des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) in Afghanistan im November feststellte, „[importierte] Afghanistan im vergangenen Jahr Waren, Produkte und Dienstleistungen im Wert von etwa 7 Milliarden Dollar, vor allem Lebensmittel … Ohne Handelsfinanzierung ist diese Unterbrechung enorm.“

Die rund 7 Milliarden Dollar, die die USA eingefroren haben – zusammen mit den 2 Milliarden Dollar, auf die die DAB den Zugriff verlor, als das Vereinigte Königreich, Deutschland, die Schweiz und die Vereinigten Arabischen Emirate dem Beispiel folgten – machen fast die gesamten Währungsreserven der DAB aus. Die USA haben auch einen maßgeblichen Einfluss beim Internationalen Währungsfonds (IWF), der im vergangenen Jahr de facto 440 Mio. USD an „Sonderziehungsrechten“ (ein vom IWF geschaffenes internationales Reserveaktivum) für Afghanistan eingefroren hat.

Ohne diesen Zugang ist der afghanische Bestand an internationalen Reserven praktisch gleich Null. Wenn es keine Garantie dafür gibt, dass die afghanische Regierung Zugang zu ihren Währungsreserven hat, wird dies die Versuche, die Inflation einzudämmen oder Einfuhren zu finanzieren, erheblich beeinträchtigen.

Kurzum, die wirtschaftliche Stabilität hängt stark von Erwartungen ab. Ohne eine voll funktionsfähige Zentralbank mit uneingeschränktem Zugang zu ihren Devisenreserven werden Geschäftspartner wenig Grund haben, wieder Vertrauen in die afghanische Wirtschaft zu fassen.

Es ist verständlich, dass man sich Sorgen macht, dass ein Teil dieser Gelder von den Taliban für verwerfliche Zwecke verwendet werden könnte. Aber die Menschen in Afghanistan hungern als direkte Folge einer illegalen und unmoralischen politischen Entscheidung der Biden-Regierung. Jedes Zugeständnis an falsche Lösungen und jeder Moment, der mit Verhandlungen verbracht wird, trübt die Aussichten auf wirtschaftlichen Aufschwung und verlängert das Leiden des afghanischen Volkes.

Die Fakten sind eindeutig. Eine funktionierende Wirtschaft braucht eine funktionierende Zentralbank und eine funktionierende Zentralbank braucht uneingeschränkten Zugang zu ihren Währungsreserven. Um der „Hölle auf Erden“ ein Ende zu bereiten, sollte die Biden-Regierung der afghanischen Zentralbank die vollen 7 Milliarden Dollar zur Verfügung stellen.

Andrés Arauz ist Ecuadors ehemaliger Wissensminister und ehemaliger Generaldirektor der ecuadorianischen Zentralbank. Derzeit ist er Senior Research Fellow am Think Tank Center for Economic and Policy Research (CEPR) in Washington, DC.

Foto: Mark Reidy / Flickr

Available in
EnglishGermanPortuguese (Brazil)
Author
Andrés Arauz
Date
23.08.2022
Source
openDemocracyOriginal article🔗
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