„Um die extreme Rechte zu besiegen, muss die Linke radikal sein“

Der ehemalige bolivianische Vizepräsident Álvaro García Linera diskutiert die politische und soziale Landschaft Lateinamerikas-.
Um die neue Rechte zu besiegen, so Álvaro García Linera, müssen die Progressiven und die Linken zunächst einmal die ökonomischen Probleme der Mehrheit anpacken und die neue Landschaft der Informalität in Lateinamerika wirklich verstehen.

Nach seiner Reise durch Kolumbien zur Vorstellung seines Gedankenzyklus „Imaginar el futuro desde el Sur“ [Die Zukunft von Süden aus denken], die vom kolumbianischen Kulturministerium und der Philosophin Luciana Cadahia organisiert wurde, sprach der ehemalige bolivianische Vizepräsident Álvaro García Linera mit Jacobin über die politische und soziale Situation, in der Lateinamerika sich gerade befindet – eine „Schwellenzeit“ bzw. ein Interregnum, in das wir für die nächsten 10 oder 15 Jahre eintauchen werden, bis sich eine neue Weltordnung konsolidiert hat.

In dieser instabilen Dunkelheit kommt es nun zu den monströsesten ultrarechten Bewegungen, die zu einem gewissen Grad aus der Begrenztheit des Progressivismus resultieren. In dieser neuen Ära, argumentiert Linera, muss die Progressive mehr wagen. Sie muss einerseits ihrer historischen Verantwortung gerecht werden und auf die substantiellen Forderungen eingehen, die die Basis für eine breite Unterstützung in der Bevölkerung bilden und andererseits den Sirenengesang der neuen Rechten neutralisieren. Das bedeutet, dass tiefgreifende Reformen zu Eigentum, Steuern, sozialer Gerechtigkeit, Vermögensverteilung und der Wiederherstellung gemeinsamer Ressourcen zugunsten der Gesellschaft vorangetrieben werden müssen. Nur auf diese Weise – indem man damit beginnt, die grundlegendsten ökonomischen Forderungen der Gesellschaft zu erfüllen und echte Demokratisierung zu fördern – wird es möglich sein, die Ultrarechten auf ihre Nische zu beschränken, so Linera.

TOP: In Lateinamerika begann das 21. Jahrhundert mit einer Welle progressiver Regierungen, die den Kurs der Region neu ausrichteten. Allerdings geriet diese Dynamik nach dem Triumph Mauricio Macris in Argentinien 2015 ins Stocken, was viele dazu veranlasste, das Ende des Progressivismus dieser Region vorherzusagen. So kam es zu einer Welle konservativer Regierungen. Aber in Ländern wie Brasilien, Honduras oder Bolivien ist der Progressivismus entgegen diesem Trend zurückgekehrt. Und in Ländern wie Mexiko und Kolumbien ist es progressiven Regierungen erstmals gelungen, an die Macht zu kommen. Wie interpretieren Sie die aktuelle Spannung zwischen Volks- bzw. progressiven Regierungen und konservativen bzw. oligarchischen Regierungen?

AGL: Die historische Periode der letzten 10 bis 15 Jahre ist gekennzeichnet durch den langsamen, schmerzlichen und widersprüchlichen Niedergang eines Wirtschaftsmodells und der Legitimierung des zeitgenössischen Kapitalismus, sowie durch das Fehlen eines robusten und stabilen neuen Modells, mit dem wieder ökonomisches Wachstum, Stabilität und politische Legitimation geschaffen werden kann. Es ist ein langer Zeitraum. Wir sprechen hier von 20 oder 30 Jahren, in dem das liegt, was wir als „Schwellenzeit“ bezeichnen – Gramscis Interregnum – wo Wellen und Gegenwellen mehrerer Versuche, eine Sackgasse zu überwinden, aufeinander folgen.

Lateinamerika erfuhr eine intensive und tiefgreifende progressive Welle, und war damit ein Vorreiter für das, was dann auch im Rest der Welt passierte. Allerdings konsolidierte sich diese Welle nicht, und auf sie folgte eine regressive konservative Gegenwelle, die wiederum von einer neuen progressiven Welle gefolgt wurde. Es kann sein, dass wir in den nächsten fünf bis zehn Jahren neue Wellen und Gegenwellen von kurzlebigen Siegen, Niederlagen und Hegemonien sehen werden, bis die Welt ein neues Akkumulations- und Legitimierungsmodell definiert, das sich selbst und Lateinamerika für die nächsten 30 Jahre einen neuen Zyklus der Stabilität zurückgibt. Solange das nicht passiert, werden wir Zeitzeugen dieses Strudels der Schwellenzeit sein.

Man kann also das Aufeinanderfolgen progressiver Wellen, deren Erschöpfung, konservativer Gegenreformen, die ebenfalls scheitern, und eine neue progressive Welle beobachten... Jede Gegenreform und jede progressive Welle ist anders als die letzte. Milei ist anders als Macri, auch wenn er Macri teilweise wiederaufnimmt. Alberto Fernandes, Gustavo Petro und Andres Manuel Lopez Obrador sind anders als die Vertreter der ersten Welle, auch wenn sie teilweise an dieses Erbe anknüpfen. Und ich glaube, dass wir weiterhin eine dritte Welle und eine dritte Gegenwelle sehen werden, bis an einem gewissen Punkt die Weltordnung definiert ist, weil diese Instabilität und diese Qualen nicht ewig andauern können. Letztlich sehen wir, wie es schon in den 1930er- und den 1980er-Jahren der Fall war, den zyklischen Niedergang eines Regimes wirtschaftlicher Akkumulation (liberal zwischen 1870 und 1920, staatskapitalistisch zwischen 1940 und 1980, und neoliberal zwischen 1980 und 2010). Wir sehen das Chaos, das durch diesen historischen Niedergang verursacht wird, und den Kampf um ein neues und dauerhaftes Modell der Akkumulation und Beherrschung, das ökonomisches Wachstum und sozialen Zusammenhalt wieder aufnimmt.

TOP: Wir können sehen, dass der rechte Flügel wieder Praktiken einsetzt, die wir für überwunden geglaubt hatten, einschließlich Staatsstreiche, politische Verfolgung und Mordversuche... Auch Sie haben einen Staatsstreich erlitten. Wie, denken Sie, werden diese Methoden sich weiterentwickeln, und wie können wir von den Projekten der Volksbewegung uns dagegen wehren?

AGL: Was für die Schwellenzeit, für das Interregnum, typisch ist, ist die Divergenz der politischen Eliten. Wenn es gut läuft, wie es bis zu den 2000ern der Fall war, dann scharen sich die Eliten um ein einziges Modell der Akkumulation und Legitimierung. Dann wird jeder zum Zentristen. Sogar die Linken werden moderater und neoliberalisieren sich, auch wenn es immer eine radikale, marginale Linke geben wird, ohne Publikum. Auch die Rechte kämpft untereinander, es geht aber lediglich um Nachfolgekämpfe und unwesentliche Anpassungen. Wenn wir zum unabwendbaren historischen Niedergang kommen, dann beginnen die Divergenzen, und ein rechtsextremer Flügel spaltet sich ab. Die extreme Rechte beginnt, die moderate Rechte zu unterwandern. Und die radikalsten Linken treten aus ihrer Marginalität und ihrer politischen Bedeutungslosigkeit heraus. Sie beginnen, Gehör und ein Publikum zu finden. Sie wachsen. Im Interregnum ist die Divergenz politischer Projekte die Norm. Es wird gesucht, voneinander abgewichen, um die Krise der alten Ordnung zu lösen. Dies inmitten einer unzufriedenen Gesellschaft, die nicht mehr vertraut, nicht mehr an die alten „Götter“, alten Rezepte und alten Ansätze, die für moralische Toleranz gegenüber den Herrschenden sorgten, glaubt. Und dann erstarken die Extreme.

Das werden wir beim rechten Flügel sehen. Die gemäßigte Rechte, die den Kontinent und die Welt 30 oder 40 Jahre lang beherrscht hat, hat auf das offensichtliche ökonomische Versagen des liberalen Globalismus keine Antwort mehr. Und im Angesicht der Zweifel und Sorgen der Menschen taucht eine extreme Rechte auf, die weiterhin das Kapital verteidigt, aber glaubt, dass die guten Manieren der Vergangenheit nicht mehr ausreichen. Und dass die Regeln des Marktes jetzt mit Gewalt durchgesetzt werden müssen. Das bedeutet, dass die Bevölkerung gezähmt werden muss, wenn nötig auch mit Prügeln, um zu einem reinen und unverfälschten freien Markt ohne Kompromisse und Zweideutigkeiten zurückzukehren, denn diese waren ja angeblich der Grund für das Scheitern. Diese extreme Rechte gewinnt denn auch Zuspruch und vermehrte Unterstützung, wenn sie von „Autorität“, „ökonomischer Schocktherapie“ und der „Schrumpfung des Staates“ spricht. Und wenn es Aufstände gibt, dann müssen Gewalt und Zwang angewendet werden. Wenn nötig auch ein Putsch oder ein Massaker, um die Abtrünnigen zu disziplinieren, die sich der moralischen Rückkehr zu den „guten Manieren“ des freien Unternehmertums und zivilisierten Lebens widersetzen. Die Frauen haben zu kochen, die Männer bestimmen, der Chef entscheidet und die Arbeiter schweigen. Ein weiteres Symptom des Niedergangs der Liberalen wird sichtbar, wenn sie nicht mehr überzeugen oder verführen können, sondern Zwang anwenden müssen – ein Indiz dafür, dass ihr Ende naht. Das macht sie jedoch aufgrund des autoritären Radikalismus ihrer Forderungen nicht weniger gefährlich.

Angesichts dessen können Progressive und Linke nicht herablassend handeln, indem sie versuchen, alle Fraktionen und sozialen Sektoren zufriedenzustellen. Die Linken treten in der Schwellenzeit aus ihrer Marginalität heraus, weil sie sich als populäre Alternative zur wirtschaftlichen Katastrophe präsentieren, die durch den Neoliberalismus der Großunternehmen verursacht wurde. Und ihre Funktion kann nicht darin bestehen, einen „grünen“, einen „progressiven“ oder einen Neoliberalismus „mit menschlichen Zügen“ umzusetzen. Menschen gehen nicht auf die Straße und wählen links, um den Neoliberalismus umzuschmücken. Sie handeln, und ändern ihre früheren politischen Ansichten radikal, weil sie den Neoliberalismus satthaben. Sie wollen ihn loswerden, weil er lediglich einige wenige Familien und ein paar Unternehmen reicher gemacht hat. Und wenn die Linke diesen Wunsch nicht erfüllt und mit einem Regime zusammenarbeitet, das die Menschen ärmer und ärmer macht, dann ist es unvermeidlich, dass die Menschen ihre politischen Präferenzen drastisch in eine rechtsextreme Richtung ändern, die einen (vermeintlichen) Ausweg aus der kollektiven Malaise bietet.

Wenn die Linke sich konsolidieren will, dann muss sie die Bedürfnisse erfüllen, denen sie ihre Existenz verdankt. Und wenn sie die extreme Rechte wirklich besiegen will, dann muss sie auf strukturelle Weise die Armut und Ungleichheit der Gesellschaft, die Prekarität der öffentlichen Versorgung, der Bildung, der Gesundheit und des Wohnens lösen. Um das zu leisten, muss sie radikal sein in ihren Reformen von Eigentum, Steuern, sozialer Gerechtigkeit, Einkommensverteilung und der Wiederherstellung öffentlicher Ressourcen zugunsten der Gesellschaft. Bei der Durchführung dieser Projekte gilt das Gesetz sozialer Krisen: Wer moderat auf schwerwiegende Krisen reagiert, der fördert den Extremismus. Wenn die Rechte das tut, dann nährt sie die Linke. Und wenn die Linke das tut, dann nährt sie die extreme Rechte.

Wie also kann die extreme Rechte besiegt und zurückgedrängt werden in ihre Nische, die es immer geben wird, wenn auch ohne soziale Relevanz? Durch die Ausweitung wirtschaftlicher und politischer Reformen, die sich in sichtbaren und nachhaltigen materiellen Verbesserungen der Lebensbedingungen der breiten Mehrheit der Gesellschaft niederschlagen. Durch das Vorantreiben der Demokratisierung von Entscheidungen, der Demokratisierung von Wohlstand und Eigentum im Dienste dieser Zurückdrängung. Bei all dem muss die Eindämmung der extremen Rechten nicht nur ein Diskurs sein, sondern von einer Reihe praktischer Umverteilungsmaßnahmen unterstützt werden, die die wichtigsten Sorgen und Forderungen der Bevölkerung beheben (Armut, Inflation, Unsicherheit, Ungerechtigkeit). Denn wir dürfen nicht vergessen: Die extreme Rechte ist eine pervertierte Antwort auf diese Ängste. Sicherlich: Je mehr Umverteilung, desto mehr werden die Privilegien der Mächtigen angetastet. Aber in der wütenden Verteidigung ihrer Privilegien werden sie in der Minderheit sein. Unterdessen wird die Linke gestärkt als der Flügel, der für die Menschen sorgt und ihre Grundbedürfnisse erfüllt. Je ängstlicher, zögerlicher und ambivalenter sich die Linken oder Progressiven jedoch im Hinblick auf die Lösung der Grundprobleme der Gesellschaft verhalten, desto mehr wird die extreme Rechte wachsen, und der Progressivismus wird auf dem Abstellgleis ohnmächtiger Enttäuschung landen. Das heißt also: Die extreme Rechte bekämpft man heute mit mehr Demokratie und mehr Umverteilung. Nicht mit Zurückhaltung und Kompromissen.

TOP: Hat die neue Rechte neuartige Elemente? Kann man sie als Faschisten bezeichnen? Oder sollten wir sie anders bezeichnen? Organisieren die Rechten ein postdemokratisches Versuchslabor für den Kontinent (einschließlich der Vereinigten Staaten)?

AGL: Zweifellos tendiert die liberale Demokratie als bloßer Ersatz für Eliten, die für das Volk entscheiden, unweigerlich zu autoritären Formen. Wenn es ihr manchmal gelungen ist, gewisse Erfolge in der sozialen Demokratisierung zu erzielen, dann lag das am Aufschwung anderer plebejischer demokratischer Formen, die gleichzeitig entwickelt wurden: die Gewerkschaftsform, die Form der Agrargemeinschaft, die Form der urbanen Masse. Diese Vielzahl und Vielfalt an kollektiven Handlungen der Demokratie verlieh der liberalen Demokratie einen universalistischen Glanz. Das war möglich, weil sie sich stets übertroffen hat und vorangetrieben wurde.

Aber wenn die liberale Demokratie im Status quo verbleibt, als Option die bloße Auswahl der Herrschenden, dann tendiert sie unvermeidlich zur Entscheidungskonzentration, zu einer Umwandlung in das, was Schumpeter den Wettbewerb der gesellschaftlichen Entscheidungsträger um Wählerstimmen nannte – eine Konzentration des Entscheidungsprozesses auf Entscheidungsträger in autoritärer Form. Dieses monopolistische Entscheiden mit autoritären Mitteln, wenn nötig auch über den Prozess der Elitenauswahl hinaus, charakterisiert die extreme Rechte. Insofern besteht kein Gegensatz zwischen der extremen Rechten und der liberalen Demokratie. Im Hintergrund gibt es Absprachen. Die extreme Rechte kann mit dieser Art Demokratisierung rein auf der Basis von Eliten, die das Fundament der liberalen Demokratie ausmacht, koexistieren. Daher ist es auch nicht ungewöhnlich, dass sie durch Wahlen an die Macht kommt. 

Was aber von der liberalen Demokratie am Rande und widerwillig toleriert und von der extremen Rechten offen abgelehnt wird, sind Formen der Demokratisierung, die basisdemokratische Strukturen erfordern (Gewerkschaften, Agrargemeinschaften, Nachbarschaftsversammlungen, kollektive Handlungen...). Sie sind gegen diese Formen, lehnen sie ab und halten sie für ein Hindernis. In dieser Hinsicht ist die heutige extreme Rechte antidemokratisch. Sie akzeptieren lediglich, selbst an die Macht gewählt zu werden. Aber andere Formen der Teilhabe und Demokratisierung des Reichtums lehnen sie ab. Sie empfinden so etwas als Beleidigung, als Missstand oder als Absurdität, die mit Gewalt und Zwang bekämpft werden muss.

Ist das nun Faschismus? Das ist schwer zu sagen. Es gibt eine wachsende akademische und politische Debatte darüber, wie man diesen Trend nennen soll und ob er einen Vergleich mit den schrecklichen Taten des Faschismus in den 1930er- und 1940er-Jahren erfordert. Diese Exkurse mögen im Kontext des akademischen Elfenbeinturms bedeutsam sein, politisch haben sie kaum eine Wirkung. In Lateinamerika können sich Menschen über 60 teilweise an faschistische Militärdiktaturen erinnern. Eine Definition hätte vielleicht einen Einfluss auf sie, aber bei jüngeren Generationen hat das Sprechen über Faschismus nicht die gleiche Wirkung. Ich habe nichts gegen diese Debatte, ich halte sie bloß nicht für besonders nützlich. Letztlich wird die soziale Anziehungskraft oder Ablehnung der Ansätze der extremen Rechten nicht von alten Symbolen und damit verbundenen Assoziationen abhängen, sondern davon, wie effektiv ihre Antwort auf die aktuellen sozialen Ängste ist, die die Linke nicht bewältigen kann.

Am besten versteht man diese extremen Rechten jenseits dieses Etiketts vielleicht über die Art der Forderungen, auf die sie antworten. Auch wenn es gewisse Ähnlichkeiten gibt, sind das heute natürlich andere als in den 30er- und 40er-Jahren, auch wenn wir es damals wie heute mit einer Krisenzeit zu tun haben. Persönlich ziehe ich es vor, von der extremen Rechten oder der autoritären Rechten zu sprechen, aber wenn jemand den Begriff Faschismus verwendet, habe ich nichts dagegen, obwohl ich auch nicht allzu begeistert davon bin. Wenn wir die Rechten von Anfang an als Faschisten abstempeln, kann es sein, dass wir übersehen, auf welche Art von kollektiver Forderung sie reagieren und aus welchem Versagen heraus sie entstanden sind. Bevor wir sie in diese Schublade stecken und Antworten zu suchen, ohne die vorhergehenden Fragen zu beachten, sollten wir uns lieber die sozialen Bedingungen ansehen, die ihrem Aufstieg zugrunde liegen, und die Art der Lösungen, die sie vorschlagen. Wenn es nun um die Antworten geht, kann man diese angemessen einordnen: faschistisch, neofaschistisch, autoritär...

Ist es zum Beispiel korrekt, Milei als Faschisten zu bezeichnen? Vielleicht, aber zunächst sollten Sie sich fragen, warum er gewonnen hat, wer ihn gewählt hat, und aufgrund welcher Anliegen. Darauf kommt es an. Außerdem sollten Sie sich fragen, was Sie selbst zu diesem Ergebnis beigetragen haben. Diese Frage ist heutzutage angemessener. Wenn wir ein Etikett vergeben, hilft das dabei, etwas moralisch abzustempeln, aber nicht dabei, die Realität zu verstehen oder zu ändern. Wenn sie nämlich antworten, dass Milei die Ängste einer verarmten Gesellschaft gebündelt hat, dann ist klar: Das Problem ist die Armut. Wenn ein entrechteter junger Mensch sich von Milei angesprochen fühlte, dann muss es eine ganze Generation von Menschen geben, die keinen Zugang zu den Rechten hatte, die uns in den 50er-, 60er- oder 2000er-Jahren noch gewährt wurden. Hier liegt das Problem, das Progressive und Linke angehen müssen, um die extreme Rechte und den Faschismus in die Schranken zu weisen.

Wir müssen die Probleme herausarbeiten, die Rechtsextreme dazu veranlassen, die Gesellschaft infrage zu stellen, denn ihr Wachstum ist auch ein Symptom für das Versagen der Linken und des Progressivismus. Denn das geschah nicht aus heiterem Himmel, sondern nachdem die Progressive Klassenstrukturen und die prekäre Situation der Jugend nicht anerkannt hat – sie nicht sehen und verstehen konnte oder wollte – und nachdem der Einfluss von Armut und wirtschaftlichen Bedingungen auf die Identitätsrechte nicht begriffen wurde. Das ist derzeit wichtig. 

Das heißt nicht, dass wir nicht über Identitätsfragen sprechen sollten. Wir sollten aber zunächst einmal verstehen, dass das Grundproblem die Wirtschaft ist, die Inflation, und das Geld, das den Menschen nur noch aus der Tasche rutscht. Wir dürfen nicht vergessen, dass Identität eine Dimension ökonomischer und politischer Macht mit sich bringt. Und das bestimmt letztlich darüber, wer unterdrückt wird. Im Falle Boliviens etwa erlangte die indigene Identität dadurch Anerkennung, dass sie zunächst einmal politische und dann allmählich auch wirtschaftliche Macht innerhalb der Gesellschaft errang. Das grundlegende soziale Bindungsglied der modernen Welt ist Geld, ein entfremdetes, aber dennoch fundamentales soziales Bindungsglied, das dir entgleiten und alle deine Überzeugungen und Loyalitäten auslöschen kann. Das ist das Problem, das von Linken und Progressiven angegangen werden muss. Ich glaube, dass die Linke aus ihren Fehlern lernen muss. Sie muss eine Pädagogik entwickeln, um die richtigen Kriterien zu finden, mit denen politische Phänomene eingeordnet bzw. verurteilt werden können, wie sie es derzeit mit der extremen Rechten tun.

TOP: Zurück zu den Projekten der Volksbewegung – was sind die wichtigsten Herausforderungen für die Progressive, wenn sie die von Ihnen erwähnten Krisen und Misserfolge überwinden will? Kam es zur Rückkehr der extremen Rechten nur deshalb, weil sie nicht dazu in der Lage war, die Forderungen der Bürger richtig zu verstehen oder zu interpretieren?

AGL: Geld ist heutzutage das elementare, grundlegende, klassische, traditionelle wirtschaftliche und politische Problem unserer Zeit. In Zeiten der Krise regiert die Wirtschaft, Punkt. Dieses Problem müssen Sie zuerst lösen, dann können Sie sich um den Rest kümmern. Wir leben in einem historischen Moment, in dem sich die Progressive und die extreme Rechte herausbilden und das klassische neoliberale, traditionelle und universalistische Mitte-Rechts-Schema in der Krise ist. Warum? Das liegt an der Wirtschaft. Die Wirtschaft regiert unsere Welt. Progressive, Linke und Bürgerinitiativen müssen zunächst einmal dieses Problem lösen. Aber die Gesellschaft, die mit der ersten progressiven Welle der 50er- und 60er-Jahre in manchen Ländern ihre wirtschaftlichen Probleme überwand, war anders als die heutige Gesellschaft. Die Linke hat dem Sektor der formell angestellten Arbeiterklasse stets Priorität eingeräumt, und die informelle Arbeiterklasse ist dem heutigen Progressivismus fremd. Der informelle Arbeitssektor, die sogenannte „Economía Popular“ (ein Sektor der unregulierten Arbeitsverhältnisse), ist einem Teil der Linken fremd. Sie kennen und verstehen diesen Bereich nicht und haben dafür, abgesehen von bloßen Hilfsmaßnahmen, keine produktiven Pläne. In Lateinamerika macht dieser Sektor 60 % der Bevölkerung aus. Und dies ist kein vorübergehender Zustand, der irgendwann durch Formalisierung der Arbeitsverhältnisse verschwinden wird. Ganz und gar nicht. Unsere soziale Zukunft wird informell sein. Das werden Menschen sein, die in kleinem Maßstab arbeiten, unternehmen und Agrarwirtschaft betreiben, die informelle Arbeit ausüben, die eine Familie und interessante lokale und regionale Bindungen haben, die sich in Situationen befinden, in denen die Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital nicht so klar wie in einem formellen Unternehmen sind. Diese Welt wird in den nächsten 50 Jahren existieren und die Mehrheit der lateinamerikanischen Bevölkerung betreffen. Was können wir diesen Leuten sagen? Wie können wir uns um ihr Leben sorgen, ihr Einkommen, ihr Gehalt, ihre Lebensbedingungen, ihren Konsum?

Diese beiden Fragen sind der Schlüssel für zeitgenössische Progressive und Linke in Lateinamerika: Die Lösung der Wirtschaftskrise, unter Einbeziehung der informellen Ökonomie, der ein Großteil der arbeitenden Bevölkerung Lateinamerikas angehört. Was bedeutet das? Was sind die richtigen Werkzeuge? Zweifellos braucht es Enteignungen, Verstaatlichungen, Umverteilung, Ausweitung von Rechten, usw. Das sind die Werkzeuge, aber das Ziel ist es, die Lebensbedingungen und die Arbeitsbedingungen von 80 % der Bevölkerung zu verbessern, die den Sektor der „Economía Popular“ in Lateinamerika ausmachen, ob sie nun gewerkschaftlich organisiert sind oder nicht, ob sie nun formell angestellt sind oder nicht. Und eine stärkere Beteiligung der Gesellschaft an Entscheidungsprozessen. Die Menschen wollen gehört werden, sie wollen mitmachen. Die vierte Frage ist die Umweltfrage: Umweltgerechtigkeit muss stets mit sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit zusammen gesehen werden. Sie sollten nie voneinander getrennt oder übereinander priorisiert werden.

TOP: Sie sind hier in Kolumbien, um eine Reihe von Gesprächen zu besuchen, die von der Philosophin Luciana Cadahia für das Kulturministerium organisiert wurden. Welche Veränderungen sehen Sie hier, mit dem Triumph des Pacto Histórico – des Historischen Paktes für Kolumbien – und der Führung von Gustavo Petro und Francia Márquez? Glauben Sie, dass Kolumbien den Progressivismus in der Region anführt?

AGL: Angesichts der historischen Hintergründe des heutigen Kolumbiens, in dem mindestens zwei Generationen sozialer Kämpfer und linker Aktivisten ermordet oder ins Exil getrieben, in denen legale Formen kollektiven Handelns durch Paramilitärs bekämpft wurden, und in denen die USA versucht haben, nicht nur eine landesweite Militärbasis zu etablieren, sondern auch einen Angelpunkt der kulturellen Vereinnahmung zu schaffen, ist die Wahl eines linken Kandidaten ein heroischer Erfolg. Und wenn Sie den mächtigen Durst spüren, der in den Vierteln und Gemeinden in ganz Kolumbien aufkommt, dann verstehen Sie natürlich den sozialen Ausbruch, der 2021 stattfand, und warum es zu diesem Sieg kam.

Dass diesem progressiven Wahlsieg eine kollektive Mobilmachung voranging, weist auch auf die Bereitschaft hin, soziale Veränderungen durchzuführen. Und deshalb ist die Regierung von Präsident Petro trotz parlamentarischer Einschränkungen die radikalste unter den Regierungen dieser zweiten progressiven Welle des Kontinents.

Zwei Maßnahmen stellen Petros Regierung an die Spitze der linken Präsidenten: Einerseits die progressive Steuerreform, d. h., eine Maßnahme, die höhere Steuern von denen einfordert, die mehr Geld haben. In den meisten anderen lateinamerikanischen Ländern ist die Mehrwertsteuer die wichtigste Steuer-Einnahmequelle, womit eindeutig jene höher besteuert werden, die weniger haben.

Und andererseits die Fortschritte, die bei der Energiewende gemacht wurden. Natürlich hat kein Land der Welt, nicht einmal die größten Verschmutzer wie USA, Europa und China, fossile Brennstoffe über Nacht aufgegeben. Ein paar Jahrzehnte des Übergangs wurden vorgeschlagen, und sogar noch ein paar weitere Jahre der Rekordproduktion dieser Brennstoffe. Kolumbien ist jedoch neben Grönland, Dänemark, Spanien und Irland eines der wenigen Länder der Welt, die jegliche neue Exploration von Ölvorkommen verboten haben. Das Beispiel Kolumbiens ist bemerkenswerter, denn in diesem Fall machen Ölexporte mehr als die Hälfte der Gesamtexporte des Landes aus, was diese Entscheidung im Vergleich betrachtet noch wesentlich mutiger und fortschrittlicher macht.

Diese Reformen deuten weit in die Zukunft, bekennen sich zum Leben und sind richtungsweisend für andere, kurzfristigere progressive Maßnahmen.

Bei diesen und anderen Entscheidungen, die noch getroffen werden müssen, um die notwendigen Bedingungen für ökonomische Gleichheit zu schaffen, dürfen wir allerdings, wenn wir langfristig nachhaltig sein wollen, eine stetige Verbesserung der Löhne der kolumbianischen Arbeiter nicht vernachlässigen. Denn Klimagerechtigkeit ohne soziale Gerechtigkeit ist nichts weiter als liberaler Umweltschutz. Dies erfordert eine millimetergenaue Kopplung zwischen den Einnahmen, die der Staat in den nächsten Jahren nicht mehr erhalten wird, neuen Exporteinnahmequellen, die er erschließen muss, höheren Steuern für Reiche, und greifbaren Verbesserungen der Lebensbedingungen der breiten Bevölkerungsmehrheit.

TOP: Abschließend möchte ich Sie bitten, die potenzielle Rolle Lateinamerikas und der Karibik in der Welt zu erläutern – oder vielmehr die Frage, was unsere politische Rolle ist in einem Szenario radikaler Transformationen, wie wir sie derzeit erleben.

AGL: Zu Beginn des 21. Jahrhunderts war Lateinamerika die erste Region, in der eine Erschöpfung des Zyklus neoliberaler Reformen, wie sie seit den 1980ern weltweit stattgefunden hatten, deutlich wurde. Hier begann die Suche nach einem hybriden Regime zwischen Protektionismus und Freihandel, das dann von 2018 bis heute in den Vereinigten Staaten und verschiedenen europäischen Ländern nach und nach ausgetestet wurde. Trotz gelegentlicher melancholischer Rückfälle in einen kurzlebigen, steinzeitlichen Liberalismus wie in Brasilien mit Bolsonaro und in Argentinien mit Milei, befindet die Welt sich auf dem Weg zu einem neuen System der Akkumulation und Legitimation, das den neoliberalen Globalismus ersetzen wird.

Im Moment ist der Kontinent jedoch etwas überfordert von der Aufgabe, weiterhin globale Reformen anzuführen. Der post-neoliberale Übergang muss nun zunächst auf globaler Ebene voranschreiten. Lateinamerika muss wieder zu Kräften kommen, um seinen ehemaligen Elan zurückzugewinnen. Einer möglichen zweiten Generation post-neoliberaler oder sogar noch radikalerer Strukturreformen, die die transformative Kraft des Kontinents wieder herzustellen hilft, müssen zunächst einmal Veränderungen auf globaler Ebene vorausgehen. Und es braucht natürlich eine neue Welle kollektiven Handelns in der Bevölkerung, die die erdachten Möglichkeiten der Transformation entwickelt. Solange dies nicht passiert, wird der Kontinent aktiv zwischen kurzen Siegen von Volksbewegungen und kurzen konservativen Siegen hin- und herschwingen, zwischen kurzen Niederlagen des Volkes und ebenso kurzen Niederlagen der Oligarchie.

Available in
EnglishArabicFrenchGermanItalian (Standard)Portuguese (Brazil)Spanish
Author
Tamara Ospina Posse
Translator
Constanze Huther
Date
11.03.2024
Source
Original article🔗
Privacy PolicyManage CookiesContribution Settings
Site and identity: Common Knowledge & Robbie Blundell