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Stimmen des belutschischen Nationalismus: Ein Gespräch mit Mahrang Baloch

Dr. Mahrang Baloch vom belutschischen Solidaritätskomitee *Baloch Yakjehti Committee* diskutiert die jüngsten Entwicklungen im nationalen Kampf der Belutschen.
In diesem Gespräch erörtert Dr. Mahrang Baloch die Entstehung des Kampfes um belutschische Selbstbestimmung, die Beteiligung von Frauen daran, und den Aufbau einer progressiven südasiatischen Solidaritätsbewegung.

Im November 2023 wurde Balach Mola Bakhsh getötet, während er sich im Gewahrsam der Abteilung für Terrorismusbekämpfung (CTD) befand. Wie zahllose andere belutschische Männer wurde Balach verschleppt und erst nach einem Aufschrei der Öffentlichkeit zur Gerichtsverhandlung vorgeführt. Seine Ermordung entfachte das Engagement hunderter Angehöriger von Verschleppten im Kech-Distrikt Belutschistans. Unter der Führung von Dr. Mahrang Baloch gründeten sie das Baloch Yakjehti Committee (BYC) und marschierten quer durch Pakistan nach Islamabad. Bei ihrer Ankunft in der Hauptstadt sahen sie sich mit Polizeigewalt und Verhaftungen konfrontiert und wurden in den National Press Club zurückgedrängt, wo sie einen Monat lang ein Sit-in veranstalteten. Währenddessen diffamierte und verspottete die Regierung ihre Kampagne in Pressekonferenzen. Trotz der Versuche der Regierung, die Mobilisierung zu delegitimieren und zu diskreditieren, wurde die Rückkehr des BYC nach Belutschistan mit noch nie dagewesenen Massenversammlungen begrüßt.

Belutschistan ist immer noch die am schwächsten entwickelte Provinz Pakistans. Der pakistanische Staat kollaboriert weiterhin mit internationalem Kapital, um diese Region und ihre reichen Bodenschätze auszubeuten. Im Rahmen des chinesisch-pakistanischen Wirtschaftskorridors wurden in Belutschistan mehrere Megaprojekte durchgeführt, insbesondere der Ausbau des Hafens von Gwadar. Dies hat jedoch die Spannungen zwischen der Regierung und der lokalen Bevölkerung nur noch verstärkt, da diese Projekte laut der Bevölkerung zu massiven Vertreibungen und einer Intensivierung der Militärherrschaft in der Provinz führen.

Als Pakistan im Jahr 1947 unabhängig wurde, war die herrschende belutschische Elite gespalten, was die Zugehörigkeit zu diesem neuen Land anging. Der pakistanische Staat konnte die Provinz zwar unterwerfen, hat sich aber zur Legitimierung seiner Herrschaft auf staatsfreundliche Sardaren verlassen. Während der Militärdiktatur von General Pervez Musharraf (1999-2008) wurde die Gewalt gegen die belutschische Bevölkerung jedoch sehr stark verschärft. Die Regierung leitete eine Kampagne von gezielten Morden, Verschleppungen und Folter ein, um den angeblich "von Indien unterstützten" belutschischen Separatismus zu unterdrücken. Unzählige Belutsch*innen – Student*innen, Lehrer*innen, Dichter*innen, Aktivist*innen, Ärzt*innen – wurden vom Staat gewaltsam verschleppt. Die Zahl der Verschleppten wird auf Tausende geschätzt. 

In den vergangenen 75 Jahren gab es immer wieder Aufschwünge im nationalen Kampf der Belutschen für mehr politische und wirtschaftliche Selbstbestimmung, die von den aufeinander folgenden pakistanischen Regierungen politisch oder militärisch niedergeschlagen wurden. In den letzten 20 Jahren ist die nationalistische belutschische Bewegung erstarkt und hat einen großen Teil der belutschischen Gesellschaft erfasst. Sie umfasst heute ein breites Spektrum von Organisationen: von der separatistischen Baloch Liberation Army (BLA), die die pakistanische Armee militärisch bekämpft, bis zur Baloch Student Organization (BSO) und der BYC, die sich an die breitere pakistanische Gesellschaft und an internationale Organisationen wenden, um den pakistanischen Staat für sein Vorgehen in Belutschistan zur Rechnung zu ziehen. Viele von ihnen identifizieren sich mit der Linken, kritisieren jedoch die großen linken Kräfte Pakistans für deren mangelnde direkte Unterstützung der nationalen Befreiung Belutschistans.

Das Baloch Yakjehti Committee ist ein neues Kapitel im nationalen Befreiungskampf der Belutsch*innen. Es verlässt sich nicht auf die Führung durch die Elite der Landbesitzer oder die Sardaren und bezieht Frauen und die arbeitende Bevölkerung stärker ein. 

Jamhoor sprach am 3. Januar 2024 beim Sit-in in Islamabad mit Dr. Mahrang Baloch, Aktivistin und der Vorsitzendedes Belutschischen Solidaritätskomitees (Baloch Yakjehtee Committee), um diese jüngste Welle in der belutschischen Befreiungsbewegung zu erörtern. Mahrang, die sich selbst als feministische Nationalistin sieht, äußerte sich auch zur pakistanischen Linken und zur Frauenbewegung.

Sie können das Interview hier ansehen. Im Folgenden finden Sie ein leicht editiertes Transkript des Gesprächs.


*Arsalan Samdani (AS): Wie geht es Ihnen, Dr. Mahrang?*

Mahrang Baloch (MB): Mir geht es gut, wie geht es Ihnen?

AS: Können Sie über Ihre Bewegung sprechen? Wie, warum und wo hat sie begonnen? Seit einem Monat protestieren Sie nun schon. Können Sie uns ein wenig über den Hintergrund erzählen? 

MB: Sehen Sie, es gibt zwar viele parlamentarische Parteien in Belutschistan, aber wir haben keine politische Bewegung, die die wirklichen Probleme der Menschen lösen oder auch nur eine Stimme dagegen erheben kann. Seit einem Jahrzehnt haben wir keine solche politische Organisation oder Partei erlebt. Unsere Organisation – das Baloch Yakjehti Commitee [Belutschisches Solidaritätskomitee] – hat sich in den letzten vier Jahren konsequent für diese Themen eingesetzt.. Wir haben Kampagnen angeführt und Sit-ins organisiert. Die derzeitige Kampagne begann am 23. November, als Balach und vier andere in einer gestellten Konfrontation umgebracht wurden (wobei dies nicht der erste Vorfall dieser Art war). Davor wurden allein im November 10 bis 15 Menschen aus Belutschistan getötet und ihre verstümmelten Leichen entsorgt. 

Als jedoch Balach verschleppt wurde, berichteten die Medien darüber, seine Familie organisierte Proteste, und sein Fall wurde auch formell bei der Kommission [Commission of Inquiry on Enforced Disappearances, einer Regierungsbehörde zur Untersuchung von Verschleppungen] registriert. Nach 25 Tagen wurde er vom CTD (Abteilung für Terrorismusbekämpfung) vor Gericht gestellt und daraufhin für zehn Tage in Haft genommen. Seine Familie besuchte ihn sogar, und nach zwei Tagen tauchte seine verstümmelte Leiche, zusammen mit den Leichen von vier anderen unschuldigen Verschleppten, in Kech auf. Sie waren alle zwischen 21 und 25 Jahre alt, nicht älter als 25. Dieser Fall war damals eine Verhöhnung der Institutionen des Landes, des Rechtssystems, indem ein unschuldiger Zivilist in ihrem Gewahrsam getötet wurde.

Danach organisierte Balachs Familie – mit seinem Leichnam im Schlepptau – ein Sit-in am Fida-Platz in Turbat. Das Belutschische Solidaritätskomitee unterstützte sie. Wir haben auch die Familien der anderen vier aufgetauchten Personen kontaktiert, aber tragischerweise wurden die Leichname ihren Familien nicht einmal gleich übergeben, sondern erst später und unter der Bedingung, sie unverzüglich zu beerdigen. Die Familie von Balach war mutig und protestierte 15 Tage lang mit seinem Leichnam. 

Zur damaligen Zeit forderten wir, dass gegen das CTD (die Antiterrorismusbehörde) wegen dieser gestellten Konfrontation eine FIR (d.h. ein Polizeifall) erstellt wird, und dass die Mörder von Balach verurteilt werden. Aber in diesen 15 Tagen haben wir gesehen, dass einerseits eine echte Bewegung im Gange war, die der Anwalt von Balach in einer Erklärung unterstützte. Wir haben vor dem Gericht protestiert, und das Gericht hat eine FIR, also einen Fall, gegen die CTD-Behörde registriert. Aber auf der anderen Seite bedrohten uns Bundesminister und andere öffentliche Vertreter, die eigentlich im öffentlichen Interesse handeln sollten. Wiederholt behaupteten sie, Balach sei ein Terrorist gewesen und taten ihr Bestes, um die Maßnahmen ihrer Institutionen wieder rückgängig zu machen.

Die Bewegung, die mit Balachs Tod entstanden war, wurde unglaublich mächtig und zog Tausende von Menschen an, die sich in Turbat im Kech-Distrikt versammelten. Und als das Belutschische Solidaritätskomitee beschloss, Balach zu begraben, wurden wir Zeuge des säkularen Charakters Belutschistans, denn alle hielten zusammen: Männer und Frauen, ungeachtet religiöser oder sonstiger Unterschiede. Und er wurde mit großem Respekt und in nationaler Einigkeit beigesetzt. 

And this is not the first such occurrence. Das Abladen von Leichen ist in Belutschistan zu einer gängigen Praxis des Staates geworden. Es gibt sogar einen Friedhof in Belutschistan, der sogenannte Edhi Qabristan, auf dem so verstümmelte Leichen liegen, dass nicht einmal ein DNA-Test möglich ist. Sie machen sich nicht einmal die Mühe, DNA-Tests durchzuführen.... Diese Leichen liegen monatelang im Zivilkrankenhaus von Quetta, und dann werden sie von Freiwilligen der Edhi-Stiftung beerdigt.

Auf dieser Bewegung aufbauend beschloss das Solidaritätskomittee, einen langen Marsch zu organisieren. Das Hauptanliegen war, dass [gegen staatliche Behörden] anhängige Fälle unterdrückt worden waren. Wir wissen, dass es Ungerechtigkeiten gibt, dass ein Völkermord im Gange ist. Aber jede staatliche Institution hat eine Rolle dabei gespielt, diesen Völkermord zu vertuschen. Wenn jemand verschleppt wird, weigert sich die Polizei, eine Anzeige entgegenzunehmen, und die Gerichte können den Betroffenen kein Recht verschaffen. Wir mussten also unsere Leute mobilisieren. Wir wussten, das war nur die Spitze des Eisbergs. Mehr als 50.000 Menschen sind gewaltsam verschleppt worden. Diese gestellten Überfälle passieren nicht nur in Turbat, sondern überall. Aber die Menschen begraben ihre Leichen stillschweigend. Sie fordern keine Gerechtigkeit ein.

Wir begannen also mit dem langen Marsch, und das in einem vom Krieg zerrütteten Gebiet, in dem [faktisch] eine Militärregierung herrscht – die Menschen werden von Militärlagern aus regiert. Es war eine Herausforderung für uns, vor allem, weil wir aktive Konfliktgebiete durchqueren mussten. So ziemlich ganz Belutschistan ist ein Kriegsgebiet. Unsere Leute wurden bedroht, ihre Familien wurden bedroht.

Als wir Panjgur erreichten, das als Territorium [staatlich unterstützter] Todeskommandos bekannt ist, wurden wir wieder bedroht. Sie haben uns sogar daran gehindert, unser Sit-in abzuhalten. Trotzdem gab es mutige Menschen, die sich gemeldet haben. Als sie sahen, dass wir für ihre Sache eintraten, wandten sie sich mit neuen Fällen an uns. 

Dann ging es durch Panjgur, und weiter voran. Wo auch immer wir hinkamen, hießen uns die Menschen willkommen. Bei unserer Ankunft hatten sie schon zwei oder drei Tage auf uns gewartet. Wir hielten also in verschiedenen Bezirken und Städten entlang des Weges für jeweils zwei Tage an, und richteten Registrierungslager ein, um den Menschen Unterstützung zu bieten. 

Allerdings wurden uns [vom Staat] zahlreiche Hindernisse in den Weg gelegt. Lastwagen wurden eingesetzt, um uns den Weg zu versperren. In Surab griff uns ein Todeskommando an und verletzte die Angehörigen einiger Verschleppter. Sie griffen uns nachts an, attackierten unsere Fahrzeuge. Als unser Konvoi Mastung erreichte, blockierten sie erneut die Straßen mit Frachtcontainern. Die Regierung bzw. die Verwaltung hätte uns willkommen heißen, für Sicherheit sorgen und bei der Lösung der von uns vorgebrachten, ernsthaften Probleme helfen sollen. Stattdessen waren sie damit beschäftigt, uns zu schikanieren, zu bedrohen und aufzuhalten.  

Als wir schließlich Quetta erreichten, war die gesamte Rote Zone komplett abgeriegelt. Wir wollten unser Sit-in dort einrichten, da sich in der Roten Zone der Gouverneurssitz und alle Institutionen befinden, die angeblich der Gerechtigkeit dienen. Stattdessen wählten wir das von Belutsch*innen bewohnte Gebiet Saryab für unseren Protest. Denn als Organisation hatten wir uns entschieden, dass wir überall dort, wo sie [die Staatsbeamten] versuchten, uns zu stoppen, anhalten und unseren Protest genau dort abhalten würden, ohne einen Schritt weiterzugehen. Wir würden dem Staat nicht die Gelegenheit geben, unsere friedliche Bewegung unter dem Vorwand der Gewalttätigkeit zu zerschlagen, wie es in der Vergangenheit geschehen war.

Als wir mit dem Sit-in begannen, war es in Quetta extrem kalt. Wir waren an einem Ort, wo es keine Toiletten, keine Zelte, gar nichts gab – wir saßen auf dem Boden. Selbst unter diesen Umständen waren wir bereit für den Dialog und unsere Forderungen waren klar. Allerdings wurden wir sowohl von der belutschischen als auch von der Bundesregierung wiederholt schikaniert. Unsere friedliche Bewegung wurde als terroristisch abgestempelt, und jeden Tag gab es mehrere Pressekonferenzen gegen uns. 

Das war der Zeitpunkt, als wir beschlossen, diesen langen Marsch bis nach Islamabad fortzusetzen. Zunächst einmal ging es nach Kohlu. Kohlu wird von der Armee regiert; Generäle und Oberste bestimmen hier. In Kohlu wurde uns ein historischer Empfang bereitet, bei dem sich Tausende von Menschen versammelten. Man kann Kohlu zwar eine Stadt nennen, aber in Wirklichkeit sieht Belutschistan geographisch so aus, dass es mit Siedlungen übersät ist. Die Menschen leben in Dörfern. Das wichtigste Merkmal unserer Bewegung war, dass die Leute auf unserer Seite waren. Vielleicht hatten sie nicht die Mittel, aber sie unterstützten uns praktisch. Bei unserem Übernachtungsort in Kohlu wurde das Haus [unserer Gastgeber] in der Nacht überfallen. Alles wurde ihnen weggenommen, ihre Autos und alles andere. Es schmerzt mich, das zu sehen. 

Als wir Kohlu verließen, sahen wir, dass die Stadt belagert worden war. Unsere Kreidegraffitis an den Wänden waren entfernt worden. Ich wurde bedroht. Unsere Bewegung wird von Frauen angeführt…Frauen nehmen aktiv daran teil und führen sie an. Überall, wo es Kreidegraffiti gab, fragten sie [die Verwaltung] uns, wer dafür verantwortlich sei, verlangten Angaben zu ihrer Identität und behaupteten, sie hätten Videoaufnahmen. Also übernahm ich die Verantwortung. Ich war der Meinung, wenn jemand die Konsequenzen tragen muss, dann ich.

Wir verließen Kohlu in Richtung Barkhan…, einem Ort, der ebenfalls von Todeskommandos beherrscht wird. Auch dort wollten wir nur eine halbe oder zwei Stunden bleiben und dann nach Rakhni weiterziehen, aber unerwarteterweise kam eine Menschenmenge zusammen, die uns unterstützte. Wir waren sehr überrascht. Wir verbrachten den ganzen Tag mit ihnen und richteten ein Registrierungslager ein. In Rakhni haben wir die unglaublichste Begrüßung erfahren. So we kept moving forward. 

Während unseres Aufenthaltes in Kohlu hatten wir erfahren, dass unsere politischen Mitarbeiter*innen in Dera Ghazi Khan bei der Vorbereitung unseres Empfangs durch die Auferlegung einer Section 144 [d. h. ein Versammlungsverbot] gestoppt worden waren. Sogar weibliche Studierende, die dem Organisationskomittee angehörten, sahen sich mit Gewalt und Verhaftungen konfrontiert. Etwa 15 Personen wurden festgenommen. Aus diesem Grund sagen wir, dass Belutschistan von einem Kolonialstaat regiert wird.

Als wir ankamen, war Dera Ghazi Khan vollständig umzingelt, mit mehreren [Sicherheits-] Kontrollposten. Wir hatten in Rakhni angekündigt, dass wir uns alle zusammen [nach Dera Ghazi Khan] aufmachen würden, und wir trafen friedlich dort ein. Da sich unsere Bewegung gegen Verschleppungen und Verhaftungen richtet, hielten wir ein zweitägiges Sit-in ab und forderten von der Stadtverwaltung von Dera Ghazi Khan, die Verhafteten freizulassen, andernfalls würde unser Marsch nicht weitergehen. 

Zwei Tage später ließen sie die Leute frei, aber sie blockierten unsere Transportmittel. Sie riefen die Verkehrsbehörden an und warnten sie, uns ja nicht zu befördern. Erneut organisierten wir ein Sit-in und blockierten den chowk, den Stadtplatzvon Dera Ghazi Khan, was es noch nie gegeben hatte. Das einfache Volk war auf unserer Seite. Und als wir von Dera Ghazi Khan nach Dera Ismail Khan kamen, wurden wir dort ähnlich begrüßt. 

Über Dera Ismail Khan erreichten wir schließlich Islamabad. Ziel dieser Bewegung war es, der Welt die Gräueltaten vor Augen zu führen, die die kolonialen Besatzer in jedem Haus in Belutschistan begehen, wo Frauen und Kinder nicht sicher sind.

 Belutschistan ist eine No-Go-Area ohne Medienpräsenz. Die tatsächliche Situation in Belutschistan, die Unterdrückung, die dort herrscht, wird vertuscht. Der Staat hat alle seine Mittel eingesetzt, um die Zustände zu verbergen. An jeder Straßenecke finden Sie Militärlager, in denen Militärgeneräle und Kommandanten regieren, zusammen mit Todeskommandos. Sie sehen die Männer der Todeskommandos bewaffnet herumlaufen und Geld erpressen. Sie üben Terror aus, begehen Grausamkeiten gegen Frauen und misshandeln Kinder, aber es gibt niemanden, der sie aufhält. Damit soll sichergestellt werden, dass die Menschen sich nicht politisch organisieren und dass Belutschistan unterentwickelt bleibt. 

Um genau dies [das Aufzeigen dieser Gräueltaten] ging es uns also. Weil wir in einer Welt leben, die von Grund auf parteiisch ist, und in der diejenigen, die Völkermord begehen, selbst Kampagnen gegen Völkermord führen. Wir wollten der Welt sagen, dass Pakistan selbst einen Völkermord in Belutschistan begeht – es hat also kein Recht, sich gegen die Völkermorde in Palästina oder Kaschmir auszusprechen. 

Unser Ziel war Islamabad, und wie wir dort behandelt wurden, war für die ganze Welt sichtbar. Und das ist nur ein minimaler Bruchteil der Behandlung, die wir in Belutschistan erfahren. Wir haben in Belutschistan mehr Unterdrückung erlebt, wir haben Leichen getragen. Ich selbst habe die Leichen von Kindern getragen. Kinder, die von Militärkommandanten getötet worden waren. In Hoshab kamen zwei Kinder nach dem Beschuss aus einem Militärlager ums Leben, woraufhin wir in Quetta ein 15-tägiges Sit-in veranstalteten. Erst dann wurden Strafanzeigen gestellt, die später vom Obersten Gerichtshof aufgehoben wurden.

Wir wollen der Welt zeigen, wie demokratisch dieser "demokratische Staat" tatsächlich ist.

AS: Können Sie uns mehr zu Ihren Forderungen sagen?

MB: Was in Belutschistan geschieht, wird nirgendwo diskutiert, weder in den Printmedien noch sonstwo. Das ist keine interne Angelegenheit, das ist ein Völkermord. Unsere erste Forderung ist, dass eine UN-Untersuchungskommission all diese Menschenrechtsverletzungen, den Völkermord, in Belutschistan untersucht. Wir haben nicht alle Zahlen (von zwangsverschleppten Personen). Sie sollten die tatsächlichen Zahlen ermitteln und auf dieser Grundlage dafür sorgen, dass Pakistan die außergerichtlichen Tötungen und das gewaltsame Verschwindenlassen von Personen einstellt.

Unsere zweite Forderung bezieht sich auf den CTD, der mit unseren Mitteln geschaffen wurde und nach den uns vorliegenden Daten in mehr als 38-40% der Fälle außergerichtlicher Tötungen verwickelt ist, nicht nur im Fall von Balach. Ganz zu schweigen von den Behauptungen über Verschleppungen und ähnliche Vorfälle. Der CTD muss entwaffnet werden, und die Todesschwadronen, die für den Völkermord an den Belutschen geschaffen wurden, sollten ebenfalls entwaffnet werden, anstatt ihnen Parteiämter zu geben und sie zur Wahl antreten zu lassen. 

Und unsere dritte Forderung ist, dass wir in den 42 Tagen, in denen diese Bewegung andauert, über 500 Fälle [von Verschleppungen] registriert haben. Derzeit sind allein in Islamabad über hundert Familien betroffen, und es werden täglich mehr. Gerade heute sind fünf weitere Familien eingetroffen [um sich zu registrieren]. Wir wollen, dass der Staat ihre Angehörigen freilässt, sie vor Gericht bringt und ihnen dort den Prozess macht [wenn sie einer Straftat beschuldigt werden].

Unsere vierte Forderung ist, wer nun auch immer an den außergerichtlichen Tötungen beteiligt war – das Innenministerium sollte sich in einer Pressekonferenz dazu äußern und zugeben, dass der Staat durch den CTD so viele Menschen außergerichtlich getötet hat [mit Angabe der Zahlen und Namen].

Und unsere Hauptforderung…, weil der Fall Balach ein klarer Fall ist. Er wurde in Gewahrsam getötet, weitere Ermittlungen sind nicht erforderlich. Die Täter sollten bestraft werden. Entscheidend ist dabei nicht nur, dass es sich bei den Mördern von Balach um Soldaten handelte, sondern dass ein Befehl an diese Soldaten erging. Dieser Befehl muss aufgehoben werden, denn Balach ist nicht der erste Fall. Allein im Jahr 2022 haben wir 10 verstümmelte Leichen erhalten. Unter ihnen befand sich Shehzad, ein Student aus Qalat, der bei einer fingierten Begegnung aufgegriffen und getötet wurde. Auch in Taunsa gibt es viele Menschen, die bei solchen Begegnungen getötet wurden.

Dies sind also die grundlegenden Forderungen unserer Bewegung. Wir haben eindeutig erklärt, dass wir keinen Ausschuss und keine Kommission akzeptieren werden. Sie selbst müssen Verantwortung übernehmen. Ich stelle die Frage, was ist ein Staat? Wenn Sie sich selbst als Staat bezeichnen, wenn Sie die Macht haben, dann müssen Sie diese Probleme lösen, denn sie werden von Ihrem eigenen Staat geschaffen. Sie sind für diesen Völkermord verantwortlich, und Sie müssen das akzeptieren und ihn beenden.

 AS: Was sind Ihrer Meinung nach die Ursachen für diesen Konflikt?  Der Staat begeht diese Gräueltaten an den Belutschen seit Jahrzehnten. Glauben Sie, dass dies mit dem britischen Kolonialismus zusammenhängt oder vielleicht mit den riesigen Mineralvorkommen in Belutschistan, die der Staat zu kontrollieren versucht, oder gibt es andere Gründe?

MB: Die Wurzel des Problems geht zurück auf die Annexion im Jahr 1948, als Balochistan in Pakistan eingegliedert wurde. Danach enstand eine Bewegung, eine echte Bewegung der Belutschen. Es gibt definitiv eine koloniale Denkweise – Pakistan möchte so regieren, wie die Briten regierten, nicht nur über die Belutschen, sondern auch über die Paschtunen und Sindhi. Es gibt also eine koloniale Mentalität, in der das Militär herrscht. Seine Aufgabe ist es, die Ressourcenverteilung zu kontrollieren... und jede Bürgerrechtsbewegung oder sogar ganz grundlegende politische Bewegungen zu unterdrücken. Ohne politisches Engagement stagniert eine Gesellschaft, deshalb wollen sie nicht, dass sich ein Bewusstsein entwickelt. Sie ziehen es vor, durch ein "Bankmodell der Bildung" (nach Paolo Freire) eine korrupte Generation heranzuzüchten, die zum Individualismus neigt, die nicht kollektiv denkt und nicht an gesellschaftlichem Wandel und Veränderung interessiert ist. So wollen sie die Bewegung stoppen.

Die Ressourcen sind nur ein Punkt. Das grundlegende Problem ist, dass sie unsere nationale Identität auslöschen wollen. Meine Identität ist, dass ich Belutschin bin. Ich bewohne diese Gegend seit Jahrtausenden, ich habe meine eigene Nationalität, meine eigene Sprache, das ist meine kulturelle Identität. Kulturkolonialismus hat uns durchdrungen. Wir können unsere Sprache nicht sprechen. Und wie wir unsere Kultur praktizieren... Sehen Sie, wir hatten vor den Briten ein Stammessystem, das Sandeman in das Sandeman-Sardari-System umwandelte. Ein Sardar wurde in Belutschistan früher gewählt. Er stammte nicht aus irgendeiner Königsfamilie. Das hieß, dass er genug Weisheit und Intelligenz mitbrachte, um Entscheidungen zu treffen und in der Region für Gerechtigkeit zu sorgen. Er konnte zur Rechenschaft gezogen werden. Die Öffentlichkeit konnte sie wählen oder abwählen und das Amt war nicht erblich, das heißt, der Titel wurde nicht automatisch vom Vater auf den Sohn übertragen. Unsere grundlegende Herrschaftsstruktur wurde also zerschlagen, erst von den Briten und dann von Pakistan. Pakistan tut das Gleiche, es ermächtigt Menschen dazu, Sardaren zu werden... Ein duales System der Unterdrückung wurde uns aufgezwungen und hat unsere Sozialstruktur zerstört.

Die Belutsch*innen glaubten früher an den Kollektivismus... Gemäß unserer Bräuche sehen Hochzeiten so aus, dass alle gemeinsam dazu beitragen, und wenn jemand stirbt, dann trauern wir gemeinsam. Das ist das Schöne an unserer Kultur, das Schöne an unserer Nation. All das wurde ausgelöscht. Was früher die britischen Kolonialisten taten, tun heute die pakistanischen Kolonialisten. Sie stören sich an unserer Kleidung, unserer Sprache; wer die eigene Sprache spricht, wird als ignorant oder ungebildet abgestempelt. Sie wollen unsere schöne Geschichte verfälschen, sodass wir unsere Identität vergessen und die ihre annehmen. Das ist das Hauptproblem.

In den letzten 75 Jahren wurde jedes Mittel eingesetzt, um die Belutsch*innen ethnisch zu säubern, Angst zu verbreiten und unser Volk so zu marginalisieren, dass es selbst im 21. Jahrhundert noch unter steinzeitlichen Bedingungen lebt. Es gibt keinen Stromanschluss, es fehlt an grundlegender Infrastruktur. Menschen sterben an extremen Wetterbedingungen. Sie wissen, wie gefährlich die Dürre ist. Belutschistan ist ein dürreanfälliges Gebiet. Wenn die Menschen nicht an Dürre sterben, löschen die nachfolgenden Überschwemmungen ganze Dörfer, Städte und Siedlungen aus. Das liegt am Staat.

Für den Staat sind die Bodenschätze Belutschistans wichtig, aber er hat für diese Bodenschätze die menschlichen Ressourcen zerstört. Sie haben sie auf jede erdenkliche Weise ausgelöscht, nicht nur durch direkte Gewalt, sondern auch durch indirekte Gewalt. Es gibt keine Bildung. Und vor allem gibt es dort, wo Mineralien ausgebeutet werden, eine höhere Inzidenz von Krankheiten wie Krebs, wie wir in Dera Ghazi Khan und den umliegenden Gebieten beobachten können. Die Atomanlagen, die sie für Uran gebaut haben, haben sich auf Tausende von Menschen ausgewirkt. Als 1998 der Atomwaffentest in Chagai durchgeführt wurde, hat man die örtliche Bevölkerung nicht evakuiert. Der Staat hat Belutschistan sogar als Experimentiergebiet für Atomtests genutzt. Heute gibt es in Chagai kein einziges Haus mehr, in dem keine Kinder mit Behinderungen leben. Die Mütter können keine "normalen" Kinder mehr zur Welt bringen. Chagai, das diesen Staat zur Atommacht gemacht hat, hat nicht einmal ein Krankenhaus, wo Husten oder Grippe behandelt werden kann... als Ärztin weiß´ich, dass es nicht einmal Entbindungsstationen gibt, ganz abgesehen von der Krebsbehandlung. Unserem Volk wird die grundlegendste Versorgung vorenthalten.

Und dann sagen sie, das läge an den Sardaren. Daran liegt es nicht. Sie behaupten, wir lebten in einem demokratischen Staat. Sie sagen, wir hätten [demokratische] Bürgerversammlungen, und Regierungsversammlungen, aber dann zwingen sie uns genau diese Sardaren als Volksvertreter auf. Das sind eure [vom Staat eingesetzte] Sardaren, nicht unsere Sardaren. Wir ernennen sie nicht zu unseren Führern. Ihr bildet sie in Eurer Militärzentrale aus. Und dann machen sie die Sardaren verantwortlich für die Ausbeutung und Gewalt in Belutschistan. Belutschistan ist gegen diese Art von Sardari-System. Die von der Regierung gesponserten Sardaren sind nicht unsere Sardaren. Der Staat sponsert und unterstützt diese Sardaren und rechtfertigt unsere Ausbeutung und Gewalt in ihrem Namen.

AS: Der Staat und die staatlich finanzierten Medien halten an dem Narrativ fest, dass die Sardaren für die "Rückständigkeit" Belutschistans verantwortlich sind und den Staat keine Schuld trifft. Die Regierung behauptet, viel für Belutschistan getan zu haben, wie z. B. die Entwicklung von Gwadar, etc. Was antworten Sie darauf?

MB: Ich würde der Regierung sagen: Wenn ein unschuldiges Kind zu Hause schläft, weckt ihr es auf, reißt es aus dem Schoß seiner Mutter, beschuldigt es fälschlicherweise des Terrorismus und lasst es gewaltsam verschwinden.…all das könnt ihr, aber wenn doch angeblich die Sardaren [für die Gewalt in Belutschistan] verantwortlich sind, warum verhaftet ihr sie dann nicht einfach? Warum habt ihr Sie sie nicht zur Rechenschaft gezogen? Ist Euer Staat, Euer Militär so schwach? Wenn ihr doch einen Rechtsstaat einführen wollt… all diese Sardaren sitzen in Euren Versammlungen, und Ihr gebt ihnen Waffen. Um welche Sardaren geht es eigentlich? Ihr selbst habt sie doch eingesetzt. Dies sind die Probleme, die seit 75 Jahren bestehen: Die Politik des Staates besteht darin, einen systematischen Völkermord durchzuführen und nach und nach dafür zu sorgen, dass es in Belutschistan kein politisches Engagement mehr gibt und eine direkte Herrschaft durchgesetzt werden kann.

AS: Es gab in letzter Zeit zwei oder drei Belutschen-Märsche. Diesmal scheint es so, zumindest von außen betrachtet, dass die Rolle der Frauen stärker im Vordergrund steht. Wie hat sich die von der Regierung ausgehende Gewalt denn speziell auf Frauen ausgewirkt?

MB: Als Nationalistin und politische Arbeiterin bin ich auch Feministin, und meine feministische Perspektive ist, dass die Frauen den größten Anteil an den Betroffenen stellen. Zum Beispiel hat jede der über 50 000 vermissten Personen auch eine Familie. Mütter, die seit 14 Jahren mit psychischen Erkrankungen leben. Frauen, deren Männer am Tag der Hochzeit verschleppt wurden. Das ist eine Kollektivstrafe. Wenn Ihr Bruder oder Ehemann mit einer politischen Bewegung in Verbindung steht, werden Sie mitgenommen und schikaniert. 

Mittlerweile hat sich die Situation so sehr verschlimmert, dass sogar Frauen verschleppt werden und direkter Gewalt ausgesetzt sind. Ein Todesschwadron griff das Haus von Malik Naz, einer Hausfrau, an, und als sie sich wehrte, wurde sie vor den Augen ihres Kindes getötet. Und das ist nicht der erste Fall. Wir werden in zweifacher Hinsicht unterdrückt: Einerseits wird es den Frauen nicht erlaubt, [in der Gesellschaft] nach vorne zu treten. Die belutschische Gesellschaft wandelt sich von der ursprünglich säkularen hin zu einer Extremistischen. Die Bildung von Frauen wird eingeschränkt, es gibt noch andere soziale Probleme…Insgesamt betrachtet sind Frauen einerseits staatlicher Unterdrückung und andererseits sozialer Unterdrückung ausgesetzt, und die soziale Unterdrückung wurde auch vom Staat miterzeugt. Denn sie wollen so über uns herrschen, dass 51 Prozent unserer Bevölkerung nicht einmal [politisch] beteiligt sind.

Aber ich würde sagen: Das Schöne an unserer Nation und unserer Kultur ist, dass Frauen an der Spitze stehen und organisieren. Und zwar schon ganz am Anfang der Gewalt und der Verschleppungen [waren die Frauen ein großer Teil der Bewegung]. Frauen waren auch vorher schon da, aber standen nicht im Rampenlicht. Sie nahmen an Kriegen teil, sie hatten ein politisches Bewusstsein, aber als die Verschleppungen begannen, tauchten in den letzten zwei Jahrzehnten Frauengremien in der Bewegung auf und Frauen übernahmen die Führungsspitze der BSO (Baloch Students Organization, Belutschische Student*innenorganisation). 

Es gab früher diese Wahrnehmung, (in den politischen Bewegungen, bei denen ich selbst dabei war), dass Frauen nur Mitglieder zweiter Wahl seien, lediglich Teilnehmerinnen, aber die Belutschinnen haben sich als Führerinnen profiliert. Sie führen, sie sind Teil der Entscheidungsfindung, und ihre Entscheidungen werden genauso respektiert. Und es handelt sich ja um eine matriarchale Gesellschaft – sie werden also sogar noch mehr respektiert. Das liegt daran, dass Frauen alle anderen mitnehmen, wenn sie vorankommen. Das ist das Schöne an unserer Kultur: Wenn eine Frau sich zu Wort meldet, dann kann sie sogar einen vierzigjährigen Krieg beenden. Dies ist die Stellung der Frau in der belutschischen Gesellschaft. Als Frauen sich in politischen Bewegungen engagierten, wurde ihnen daher großen Respekt entgegengebracht. Die Bedingungen sind jetzt so, dass es Frauen sind, die den politischen Kampf der Belutsch*innen gestalten und formen, nicht nur hier, sondern überall. In den letzten 41 Tagen habe ich bei all den politischen Organisationen, die überall in Belutschistan tätig sind, mit Freude festgestellt, wie viel politische Reife junge Mädchen zeigen und wie sehr sie zum gesellschaftlichen Wandel beitragen.

 AS: Sie erwähnten also, dass Sie in Dera Ghazi Khan viel Unterstützung erhalten haben. Es ist verständlich, dass viele Belutschinnen Sie unterstützen, aber Ihre Unterstützung scheint auch außerhalb Belutschistans zu wachsen. Glauben Sie, dass die Unterstützung in nicht-belutschischen Gemeinden zugenommen hat und dass Sie mehr Menschen als früher erreichen können?*

MB: Ja, natürlich. Wenn die Medien kontrolliert werden, weiß ich natürlich nicht, was in Gilgit oder Kaschmir passiert. Andere wissen nicht, was in Belutschistan, im Sindh (speziell im Landesinneren), in Khyber Pakhtunkhwa oder Swat passiert. Die Medien werden kontrolliert, unsere Gedanken werden kontrolliert. Wir sehen, was der Staat uns sehen lässt, und wir übernehmen das Narrativ des Staates, die uns von der Schule an bis jetzt [ins Erwachsenenalter] vermittelt wird. Diejenigen, die den Staat durch politische Manipulation regieren, bezeichnen Politik als Sünde. Von Anfang an, wenn wir aufwachsen, wird [unsere politische Meinungsäußerung eingeschränkt – Studentenvertretungen werden verboten, Eltern wird gesagt, dass Politik ihre Kinder entgleisen lässt, usw. 

Der Erfolg unserer Bewegung besteht darin, dass das pakistanische Volk hinter uns steht. Sie unterstützen uns im Kampf gegen Mord, gegen die ethnische Säuberung der Belutsch*innen, gegen diese koloniale Herrschaft und gegen die Verschleppung von Menschen. Dem seit 75 Jahren propagierten [staatlichen] Narrativ (dass Indien hinter den Geschehnissen in Belutschistan steckt, usw.) wird nun ein anderes Narrativ entgegengesetzt, demzufolge staatliche [Sicherheits-]Kräfte für diese Bedingungen in Belutschistan verantwortlich sind. 

Wir erhalten viel Unterstützung. Freiwillige kommen trotz aller Drohungen und Schikanen in unser Lager [in Islamabad]. Wir erhalten Unterstützung aus der ganzen Welt und insbesondere aus Pakistan. Das ist unser größter Sieg: Unsere Mobilisierung war zwar in erster Linie für Belutschistan gedacht, doch sobald wir in Islamabad ankamen, haben uns die Menschen dieser Stadt und in Widerstandsbewegungen im ganzen Land unterstützt. Ganz normale Menschen verstehen, was vor sich geht – das ist unser größter Sieg. 

Wenn Ärzt*innen, Rechtsanwält*innen oder Professor*innen in unser Camp kommen... Sie [der Staat] haben eine Gesellschaft geschaffen, in der die Mittelschicht, die eine Quelle des Wandels hätte sein können, komplett ins Abseits gedrängt wurde, bzw. sich selbst ins Abseits gestellt hat. Die Jugendlichen, die die Führung hätten übernehmen sollen, wurden ins Abseits gestellt. Sie wurden in ein konstruiertes, korruptes System eingebunden, das sie zum Individualismus führt, losgelöst vom Gesellschaftskollektiv. Sie betrachten gesellschaftliche Veränderungen mit Fatalismus – dass die Dinge nun einmal so sind, wie sie sind, und dass sich nie etwas ändern wird. Aber die Dinge ändern sich. Vielleicht bin ich ein bisschen zu optimistisch. Speziell in Belutschistan ist unsere Bewegung sehr erfolgreich gewesen. Auf der Straße, wo früher das Militär herrschte, ist heute unsere Perspektive populär. Ganz Belutschistan steht still, wenn wir das sagen. Die Menschen gehen auf die Straße, auch Frauen, und selbst wenn wir versuchen, sie aufzuhalten, machen sie weiter. Unser Narrativ hat also gewonnen.

AS: Belutschen haben in jüngster Zeit prominente Positionen in der Regierung und in staatlichen Institutionen übernommen, wie z.B. der geschäftsführende Premierminister und der ehemalige Innenminister sowie der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs. Diese Personen scheinen sich jedoch dem staatlichen Narrativ anzuschließen und haben sich sehr lautstark gegen den Kampf der Belutschinnen ausgesprochen, indem sie behaupteten, dass 98 % der belutschischen Bevölkerung sie unterstützen. Ihre Bewegung tun sie als marginal ab. Sie versuchen, Ihre Bewegung zu delegitimieren. Warum, glauben Sie, stellen sich einige der Eliten lieber auf die Seite des Staates?*

MB: So täuscht der Staat die Öffentlichkeit. Ähnlich ist es, wenn Vertreter der pakistanischen Bundespartei nach Belutschistan kommen und belutschische Tracht und Turbane tragen. Der von der BSO initiierte Tag der belutschischen Kultur wird nun am 2. März in allen Hauptquartieren der pakistanischen Armee gefeiert. Tatsächlich entschied sich das Militär, eine Versammlung zum belutschischen Kulturfest [im Jahr 2010] zu bombardieren. Bebarg Baloch wurde dort verletzt und ist bis heute gelähmt, steht aber weiterhin hinter der Bewegung. Leute, die versuchen, unsere Kultur auszurotten, feiern trotzdem unseren "Kulturtag". 

Es spielt also keine Rolle, ob der Premierminister oder der Oberste Richter aus Belutschistan stammt oder nicht. Es kommt darauf an, ob sie sich an den Eid halten, den sie abgelegt haben.  Halten sie sich als Staatsvertreter, als Staatsoberhaupt an die Verfassung? Dies ist nur ein weiteres Instrument zur Manipulation. So wie sie das Sardar-System eingeführt haben, damit sie sagen können, dass die Sardaren [für die Situation in Belutschistan] verantwortlich sind, können sie jetzt sagen, dass der Oberste Richter aus Belutschistan kommt. Tatsächlich aber ist er nur der Oberste Richter für Euren Staat, er hat keine wirkliche Macht. Wenn sie irgendeine Macht hätten, hätten sie Stellung bezogen, als die erste Person verschleppt wurde, dann wäre es gar nicht erst so weit gekommen. 

Und die, die behaupten, 98 Prozent des Volkes seien auf ihrer Seite, möchte ich fragen: Warum laden Sie nicht die UNO ein? What are you afraid of? Meine zweite Frage ist, warum Sie 13 Jahre nach dem Besuch der UN-Arbeitsgruppe zum Thema Verschleppungen in Pakistan im Jahr 2010 nicht zulassen, dass die Gruppe zurückkommt, obwohl sie mehrfach ein NOC-Zertifikat (Unbedenklichkeitsbescheinigung) beantragt hat? Warum hat Pakistan das UN-Übereinkommen zum Schutz vor dem Verschwindenlassen immer noch nicht unterzeichnet? Der Gesetz zur Abschaffung des Verschwindenlassens taucht in pakistanischen Parlamenten nicht auf – warum? Wenn Sie so zuversichtlich sind, dass 98 Prozent der Öffentlichkeit hinter Ihnen stehen, was gibt es dann zu befürchten? 

Egal, wie sehr Sie sich gegen unsere Darstellung wehren: Wir haben Menschen, die für uns sprechen. Das sind unsere Beweise. Jeder dieser Menschen wird Zeugnis von eurer Unterdrückung ablegen. In jedem Haushalt Belutschistans werden Sie Opfer Ihrer Unterdrückung finden – die Verschleppten, und die vielen anderen, die Sie getötet haben. Ihre Gräber liegen in Belutschistan, und ihre Angehörigen sind wie ich Zeugen eurer Unterdrückung. Wie wollen Sie mit uns fertig werden?

Es gibt also eine erfundene Geschichte und eine Geschichte, die der Realität entspricht. Deshalb sind wir hier, um dem Staat zu sagen: Seht her, ihr habt gesagt, es gäbe nur 50 verschwundene Personen, aber schaut euch diese Menschen an, es sind viel mehr als fünfzig. Selbst einer wäre schon ein Versagen. Ein Versagen Ihres Staates. Nach der Ermordung von Balach hätte die pakistanische Justiz die Gerichte boykottieren müssen. Die Tatsache, dass Balach ermordet wurde, nachdem er [während der Untersuchungshaft] vor Gericht stand, ist eine Missachtung des Gerichts. Das ist eine Beleidigung des von Ihnen abgelegten Eides. Aber wenn Sie das nicht als Beleidigung empfinden, dann muss ich ihnen leider sagen: Sie sind unehrlich.

AS: Es gibt eine Frage zu Gwadar. Dort findet einiges an Entwicklung statt, aber viele argumentieren, dass diese Entwicklung auch mit einem demografischen Wandel einhergeht. Menschen von außerhalb lassen sich dort nieder, erwerben Land und versuchen, die Kontrolle zu übernehmen. Was denken Sie darüber?

MB: Genau so funktioniert der koloniale Ansatz Pakistans zur Herrschaft über Belutschistan. Zur Umsetzung des CPEC (Chinesisch-Pakistanischer Wirtschaftskorridor) – potenziell das bedeutendste Projekt in der Region, das die Weltordnung verändern könnte –, werden  die Menschen von Gwadar gezwungen, ihr Land aufzugeben. Noch wichtiger, sie werden gezwungen, ihre Lebensgrundlagen aufzugeben. 

In Belutschistan gibt es leider nur zwei Mittel zum Lebensunterhalt: Grenzhandel und Fischerei. Sie [Der Staat] blockierten den Grenzhandel, indem sie die Grenze schlossen, und ebenso haben sie die Fischereiindustrie abgeschafft. Es ist offensichtlich, dass es in ganz Belutschistan aufgrund der weit verbreiteten Militäroperationen zu internen Vertreibungen kommt. Die Menschen wurden gezwungen, ihre Heimat und ihr Land zu verlassen, und sind nun als Einwanderer in ganz Pakistan verstreut. Und heute passiert das in Gwadar. 

Als die CPEC-Route gebaut wurde, wurden überall in ihrem Pfad Häuser niedergebrannt, Menschen abgeholt und gegen ihren Willen gewaltsam verschleppt. Der Wille der Ureinwohner, der indigenen Bevölkerung, wurde nie berücksichtigt. Hier in Islamabad, in diesen Versammlungen…, werden Deals über unser Land, unsere Ressourcen und die Tötung und Vertreibung unseres Volkes gemacht.

AS: Wie können progressive Menschen in Südasien Ihre Bewegung unterstützen?

MB: Sie können helfen, indem sie unsere Bewegung so bekannt wie möglich machen. In der Welt, in der wir leben, werden unsere Gedanken leider kontrolliert und wir sehen nur das, was die Medien uns zeigen wollen. Trotz der weit verbreiteten Gräueltaten in Belutschistan reicht unsere Stimme nicht weit. Es gibt keine investigativen Journalisten. Trotzdem schwillt unsere Bewegung an und werden sie weiter vorantreiben 

Die Menschen in Südasien, die uns zuhören, sollten unsere Bewegung unterstützen und ihre Stimme speziell gegen den Völkermord an den Belutsch*innen erheben. Sie sollten auf Pakistan Druck ausüben, indem sie Briefe schreiben, Solidaritätsdemonstrationen organisieren und praktische Maßnahmen ergreifen, um das Verschwindenlassen zu stoppen. Wir brauchen handfeste Solidarität, aber leider bekommen wir von den Leuten nicht einmal eine Verurteilung. Möglicherweise sind sie sich der Vorgänge nicht bewusst, und wenn doch, dann erheben sie nicht ihre Stimme. Sie denken nicht über so etwas nach…unsere Leute sterben. Bluten denn unsere Körper nicht? 

Wir haben die Leichen von kleinen Kindern getragen. In einem Konfliktgebiet wie Belutschistan ist es für uns der größte Segen, wenn aus einem Kind ein Jugendlicher wird. Wir fragen uns, wie sie den Krieg überlebt haben. Müttern werden ihre geliebten Söhne verschleppt, ihre verstümmelten Körper irgendwo abgeladen. Das traumatisiert nicht nur die Familie, sondern auch jeden in der Gegend, in der die Leiche gefunden wird. Wir leben als Einheit zusammen – unsere Lebensweise ist sozial. Wenn eine Leiche auftaucht, ist jeder betroffen und sollte es auch sein. Jeder sollte darüber nachdenken, und jeder sollte sich dagegen aussprechen. Der Verlust von Menschenleben ist keine Bagatelle. Er wurde hier nur bagatellisiert von den globalen Staaten, den Imperialisten und den Kräften, die Völkermord rechtfertigen und legitimieren.

Estefanía Rueda Torres: Ich möchte wissen, welche Rolle die Frauen bei der Aufrechterhaltung dieser Besetzung [des Demonstrationslagers] gespielt haben. Und wie sehen Sie Ihre Rolle als junge weibliche Führungskraft, wenn es darum geht, anderen Frauen beizubringen, eine Führungsrolle in der Bewegung zu übernehmen?

MB: Nun, als ich ein Kind war, war es mein Vater, der mir sagte, dass ich in die politische Arbeit gehen müsste. Nach der Schule melde ich Dich bei einer Studierendenorganisation an, und du musst Politik machen. Sie haben mit uns über [Politik] diskutiert. Mein Vater organisierte einen Studienkreis mit meinen Tanten, mit allen Frauen in unserem Haus, und wir diskutierten über die Belutschen-Frage und über internationale und politische Fragen, und das ist jetzt ganz normal für uns. 

Ich begann meine politische Karriere als studentische Aktivistin. Von diesem Punkt an haben wir als Frauen gesagt: Wenn die Frau als gleichwertig anerkannt werden will, wie Feministinnen das fordern, dann müssen wir an der Veränderung der Gesamtgesellschaft teilnehmen. Wenn es eine nationale Bewegung gibt, dann musst du dich daran beteiligen. Du bist nicht schwächer als andere. Wenn Du dich in dieser nationalen Bewegung engagierst, wird man dich als gleichberechtigt ansehen. Die Gesellschaft, für die wir kämpfen, stellen wir uns vor als eine Gesellschaft der Frauen. Es gibt ein Endziel, aber es gibt auch andere Dinge, die sich verändert haben, wie z. B. Frauen auszubilden, Frauen an die Macht zu bringen, sie zu motivieren, sich unserem Kampf anzuschließen. Und ja, es gibt zahlreiche Probleme. Manche unserer Genoss*innen dürfen keine Politik machen, manche unsere Genoss*innen dürfen sich nicht weiterbilden, aber wird werden das beheben. Es gibt einen Kreis auf Gemeinschaftsebene, in dem wir uns gegenseitig unterstützen.

Eines möchte ich anmerken. Beim Studierendenaktivismus haben wir uns zwar beteiligt, aber wir waren wie gewöhnliche Arbeiter. Es gab zwei spezifische Sitze [für Frauen] in der Organisation: Vize-Vorsitzende und Informationssekretärin. Ich fragte, warum wir feste Quoten haben, warum eine Frau nicht Präsidentin oder Generalsekretärin sein kann. Also haben wir das geändert. Und ich glaube, die Männer dort haben uns unterstützt. Wenn ich nicht in der Politik tätig wäre, würde ich mich auch darüber beschweren, dass die Männer uns nicht unterstützen, und so weiter. Aber Frauen müssen Führungsqualitäten zeigen. Sie müssen sich engagieren. Warum werden die Männer verschleppt? Weil sie als politische Arbeiter an dieser Revolution teilgenommen haben, und ihr [Frauen] nehmt nicht daran teil. Was macht ihr? Ihr sitzt zuhause, ihr habt keine Idee, was in der Welt oder in Eurer Nachbarschaft passiert. Das müsst ihr ändern.

Als die pakistanischen Linken vor etwa fünf Jahren zum Aurat-Marsch nach Belutschistan kamen, und uns sagten, sie würden etwas organisieren, sagte ich deshalb auch, was wisst ihr eigentlich über Belutschistan? Was wisst ihr über die Probleme der belutschischen Frauen? Der berühmte Slogan dieses Marsches, "Mein Körper, meine Entscheidung" (mera jism meri marzi) – das passt nicht zu uns Belutschinnen. In jeder Region muss man sich zuerst genau die Bevölkerung ansehen: Worunter leidet sie? Was sind ihre Hauptprobleme? 

Unser Feminismus unterscheidet sich also von dem im Rest der Welt. Wir sind direkte Opfer staatlicher Unterdrückung. Tausende von Familien, Ehefrauen [der Verschwundenen] haben ihre Liebsten verloren. Sie sind "Halbwitwen". Das müssen Sie zunächst einmal bedenken. Es gibt Ehrenmorde. Ehrenmorde, die vom Staat gesponsert werden. Hier müssen Sie praktische Arbeit leisten. Unsere Frauen haben kein Recht auf Bildung. Zuerst müssen Sie sie darüber aufklären, dass sie auch Menschen sind. Sie brauchen niemand anderen, um Entscheidungen für sie zu treffen. Also ist [unser Kampf] ein bisschen anders.

Aber ich denke, wenn man will, dass andere einem zuhören, dann darf man nicht mit dem System verhandeln. Man muss sich an die Spitze stellen und an der größten Veränderung in der Gesellschaft, wie der nationalen Bewegung, teilnehmen. Es gibt keinen anderen Weg. Du kannst sonst nichts ändern. Wenn du schwach bist, können die Leute vielleicht Mitgefühl mit dir haben, aber sie werden dein Problem nicht lösen. Unsere nationale Bewegung ermutigt Frauen, und man sieht hier, dass jeder Mensch, jeder Mann in unserer Bewegung nicht nur uns, sondern auch unsere Entscheidungen respektiert. Sie glauben an uns und vertrauen vollständig darauf, dass wir diese Bewegung anführen können.

Available in
EnglishSpanishGermanArabicItalian (Standard)Portuguese (Brazil)French
Author
Arsalan Samdani
Translators
Constanze Huther and ProZ Pro Bono
Date
13.06.2024
Source
Original article🔗
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