Einer der ersten Berichte auf @GazaMedicVoices, einer Social-Media-Seite für Augenzeugenberichte von Mitarbeiter*innen des Gesundheitswesens vor Ort in Gaza, wurde am 12. Oktober 2023 geteilt. Es war die Aussage eines beratenden Chirurgen im Gazastreifen, datiert auf nur drei Tage nach Beginn von Israels Vernichtungsfeldzug – noch bevor dieser für viele als solcher erkennbar war. "Nachdem ich das Krankenhaus fünf Tage lang nicht verlassen habe, fehlen mir die Worte", klagte der Chirurg. "So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht erlebt, und ich kann nicht in Worte fassen, was ich gesehen habe. Ich bin sprachlos."
Nach mehr als 200 Tagen schockiert das Grauen, das das israelische Militär – unterstützt und gefördert von der amerikanischen Regierung – der belagerten Bevölkerung des Gazastreifens angetan hat, immer noch unser moralisches Empfinden. Manchmal bin ich so überwältigt von dem, was ich auf meinem Telefon sehe, dass ich vergesse zu atmen.
Israel ist weiterhin dabei, die zivile Infrastruktur des Gazastreifens mit einer Gründlichkeit zu bombardieren, die der von Chirurgenhänden in nichts nachsteht – nur ist es hier eine Gründlichkeit im Dienste des Todes und nicht des Lebens. Eines der klarsten Ziele ist das Gesundheitssystem des Gazastreifens und das Gesundheitspersonal. Denn sein Engagement für die Erhaltung des Lebens der Bevölkerung gefährdet die Umsetzung des israelischen Projekts. Bis zum 15. Mai wurden mindestens 493 Beschäftigte des Gesundheitswesens von Israel getötet, häufig durch gezielte Bombardierungen oder Hinrichtungen auf dem Gelände eines Krankenhauskomplexes. Diese Zahl ist wahrscheinlich zu niedrig angesetzt. Die Opfererfassung stützte sich auf die Krankenhäuser im Gazastreifen, und jedes einzelne von ihnen wurde angegriffen und 23 funktionsunfähig gemacht. Hunderte von Mitarbeiter*innen des Gesundheitswesens wurden festgenommen und gefoltert; viele befinden sich immer noch in israelischem Gewahrsam.
Dr. Tanya Haj-Hassan ist Ärztin für pädiatrische Intensivmedizin. Sie arbeitet mit „Ärzte ohne Grenzen“ zusammen und hat @GazaMedicVoices mitbegründet. Sie ist eine der prominentesten Stimmen, die Alarm schlagen und aufdecken, welche Hölle Israel für die Beschäftigten im Gesundheitswesen des Gazastreifens geschaffen hat. Sie war außerdem als Ärztin an Freiwilligen-Einsätzen in Gaza beteiligt – vor und nach Oktober 2023. Ich habe vor kurzem über Zoom mit ihr gesprochen. Wir erörterten die Zerstörung der Gesundheitsinfrastruktur in Gaza, die erschütternden Folterberichte, die sie und andere sammeln, die dauerhaften Auswirkungen des israelischen Krieges auf die Kinder (und die Zukunft Palästinas) und darüber, was es bedeutet, dass die amerikanische Medizin unbeeindruckt und scheinbar unbehelligt schweigt, während sich ein Völkermord vor unseren Augen abspielt.
Unser Gespräch wurde im Interesse der Prägnanz und Übersichtlichkeit bearbeitet.
Mary Turfah: Gestern stieß ich auf einen Bericht über ein drittes Massengrab, das im Al-Schifa-Krankenhaus gefunden wurde. Vor einem Monat, als die ersten Massengräber dort entdeckt wurden, wurden Sie von Sky News interviewt. Der Moderator zitierte israelische Militärquellen, nach denen "Hunderte von Hamas-Kämpfern" innerhalb des Komplexes festgenommen wurden, und fragte Sie dann nach Ihrer Meinung. Könnten Sie etwas zu Ihrer Antwort sagen, und zu dieser hartnäckigen Obsession mit "Militanten in Al-Schifa", wo doch kein einziges Krankenhaus in Gaza verschont geblieben ist und wo doch in mehreren Krankenhäusern in Gaza Massengräber [bis heute insgesamt sieben] entdeckt worden sind?
Tanya Haj-Hassan: Ja. Ich glaube, meine Antwort war in etwa, „Ich kann nicht glauben, dass wir dieses Gespräch immer noch führen.“ Jede Person mit medizinischem oder humanitärem Hintergrund hat es satt, auf diese grauenhaften, absurden Rechtfertigungen für Dinge zu reagieren, die niemals zu rechtfertigen sind. Ich dachte, das Thema Hamas und Al-Schifa sei schon lange begraben. Wochenlang war das das Einzige, wozu wir in Interviews befragt wurden. Mehrere Untersuchungen kamen zum Schluss, dass es keine stichhaltigen Beweise gibt, um die Angriffe auf Al-Schifa zu rechtfertigen. Und dann wurde Al-Schifa wieder ins Visier genommen und erneut belagert.
Ich glaube, ich war kurz vor dem Sky News-Interview gerade aus Gaza zurückgekommen. Im Al-Aqsa-Krankenhaus in Deir Al-Balah sprach ich mit mehreren Angestellten, die während der ersten Angriffsrunde bis zur letzten Minute im Al-Schifa geblieben waren, als das Krankenhaus belagert und alle Patient*innen und Mitarbeiter*innen zwangsevakuiert wurden. Sie erinnern sich wahrscheinlich noch an diese erste Runde – an die israelischen Angriffe auf die Solarpaneele und Sauerstoffversorgung des Krankenhauses, daran, wie den Krankenhäusern der Treibstoff ausging, und an die verschiedenen Abteilungen, die beschädigt wurden.
Schließlich nahm Al-Schifa seinen Betrieb wieder auf. Die Mitarbeiter*innen waren sehr stolz darauf, dass sie es wieder zum Laufen gebracht haben.
In der zweiten Runde wurde das Krankenhaus erneut belagert und angegriffen. Ein Großteil des Personals wurde in den Krankenhaushof gebracht, wo die männlichen Mitarbeiter sich ausziehen mussten. Israelische Soldaten schlugen mehrere Mitarbeiter. Ein sehr, sehr erfahrener Al-Schifa-Mitarbeiter, ein älterer Arzt, wurde schließlich entlassen und ging zu Fuß zum Al-Aqsa-Krankenhaus. Und sofort machte er sich wieder an die Arbeit. Ich war im Al-Aqsa-Krankenhaus, als er zerzaust dort auftauchte, mit Bart bis hierher, erschöpft, er hatte ich weiß nicht wie viele Kilos abgenommen, hatte seine Familie seit fünf Monaten nicht mehr gesehen, hatte kein Telefon, keine richtigen Schuhe und keine richtige Kleidung.
Sie sind praktisch mit nichts geflohen. Und viele andere Mitarbeiter, die mit ihm nach draußen gebracht worden waren, wurden entführt. Ich denke, seine Erzählungen und der Aufwand, den sie betrieben hatten, um Al-Schifa wieder zum Laufen zu bringen, machten die Frage des Sky News-Moderators noch ärgerlicher. Denn das war die Realität, die ich gerade hinter mir gelassen hatte. Und dann diese Frage an eine Medizinerin, die die letzten Wochen damit verbracht hatte, tote und sterbende Kinder wiederzubeleben, Kinder, die in einem Ausmaß verstümmelt worden waren, das ich wohl nie vergessen werde – obwohl es für mein eigenes Wohlbefinden wahrscheinlich gut wäre, einige dieser Bilder zu vergessen –, das fand ich enorm beleidigend. Es war eine Beleidigung für mich und für die medizinischen Angestellten, die ihr Leben riskiert hatten, um in Al-Schifa zu bleiben, die 25 Prozent ihres Körpergewichts verloren hatten und erschöpft waren. Eine Beleidigung für die medizinischen Fachkräfte, die in Al-Schifa getötet wurden, und eine Beleidigung der aus Al-Schifa fliehenden Zivilist*innen, die dort hingerichtet wurden. Eine Beleidigung unseres Intellekts. Eine Beleidigung unserer Menschlichkeit.
MT: Letzte Woche wurde bekannt, dass Dr. Adnan Al-Bursh, ein renommierter orthopädischer Chirurg im Gazastreifen, laut Augenzeugenberichten in israelischen Gefängnissen zu Tode gefoltert wurde. Im Dezember war er aus dem Krankenhaus entführt worden, in dem er lebensrettende Hilfe leistete. Hunderte von medizinischen Fachkräften sind schon getötet worden, und viele weitere wurden verletzt. In einem Interview sagten Sie, dass Ärzt*innen und medizinische Fachkräfte ihre OP-Bekleidung ausziehen, bevor sie das Krankenhaus verlassen, damit sie nicht zur Zielscheibe werden. Hinzu kommt, dass die Ärzt*innen in Gaza seit 215 Tagen praktisch ununterbrochen arbeiten. Sie haben im Gazastreifen gearbeitet – könnten Sie ein wenig darüber berichten, was Ihre Kolleg*innen dort tagtäglich erleben?
THH: Ich möchte zuerst etwas zur Entführung von Mitarbeiter*innen des Gesundheitswesens sagen, weil darüber so wenig berichtet wird. Mittlerweile übernehmen ich und meine Kollegen*innen, die als medizinische Fachkräfte arbeiten, die Ermittlungsarbeit. Die Entführungen sind systematisch. Mindestens 240 Fälle wurden von unserer Gruppe dokumentiert.
MT: 240?!
THH: Mindestens 240, und ich spreche nicht von den Angaben des Gesundheitsministeriums, die glaube ich sogar noch höher sind. Wir haben dokumentiert, dass mindestens 240 Beschäftigte des Gesundheitswesens von den israelischen Streitkräften entführt und festgehalten wurden. Die Mehrheit davon ist nicht wieder freigelassen worden. Diejenigen, die freigelassen wurden, berichten von Folter – sie wurden selbst gefoltert oder haben die Folter anderer miterlebt.
Ich habe Zeugenaussagen aufgenommen. Zum einen die dreistündige Aussage [meines Freundes,] eines Krankenpflegers, der während seiner 53-tägigen Haft gefoltert wurde. Er wurde beschuldigt, der Hamas anzugehören; seine Familie wurde beschuldigt, der Hamas anzugehören, obwohl die Tatsache, dass er freigelassen wurde, zeigt, dass er nicht der Hamas angehörte. Angesichts der Folter, die er ausgesetzt war, bin ich überrascht, dass er überlebt hat. Und er hat es nicht körperlich und geistig unbeschadet überstanden. Er hat Narben, er hat Albträume. Nach seiner Entlassung hatte er wochenlang eine Hämaturie, also Blutungen beim Urinieren.
MT: Hämaturie? Was haben sie ihm angetan?
THH: Sagen wir es so – es war körperlicher, sexueller und psychologischer Missbrauch. Und er beschrieb mir detailliert, wie die einzelnen Maßnahmen aussahen. Und es ist das Schlimmste, was ich je in meinem Leben gehört habe, ganz ehrlich. Ich habe einen Freund, der an den Ermittlungen in Abu Ghraib beteiligt war, einen Menschenrechtsanwalt. Und ich sage Ihnen, das ist das Schlimmste, was ich je in meinem Leben gehört habe.
Sie haben ihn wie ein Tier behandelt. Sie drohten damit, seine Mutter und seine Schwestern zu vergewaltigen, wenn er nicht gestehe, und sie drohten damit, seine Familie, die sich noch in Gaza befand, zu töten, wenn er nicht gestehe. Sie sagten ihm, sie wüssten, wo seine Familie untergebracht sei, wo sie sich aufhalte, und sie forderten ihn immer wieder auf, zu gestehen. Und er weigerte sich stetig, ein falsches Geständnis abzulegen. Er betonte, er sei Krankenpfleger und habe nichts mit einer militärischen Gruppe zu tun.
Ich möchte Ihnen etwas über diesen Krankenpfleger erzählen, weil ich es für wichtig halte, dass Sie eine Vorstellung von ihm haben. Dieser Krankenpfleger, entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise, arbeitet sich den Arsch ab. Er ist einer der engagiertesten Krankenpfleger, die ich je getroffen habe. Raten Sie mal, was er jetzt, nach seiner Haftentlassung, macht? Er arbeitet unentgeltlich, als Freiwilliger.
Sagen wir, es ist zwei, drei Uhr morgens. Wir bekommen einen Schub von Verletzten nach dem anderen herein. Wir sind erschöpft. Wir haben gerade alle Patient*innen wiederbelebt, alle sind relativ stabil. Und während wir anderen uns eine Tasse Tee holen, ist er im Reanimationsbereich, wischt den Patient*innen den Sand aus den Augen, zieht ihnen die nasse Kleidung aus und spricht mit ihnen. So eine Art von Mensch ist er.
Um ein Bild zu zeichnen – er hat dunkle Ringen unter seinen Augen, weil er unter Schlaflosigkeit leidet, weil er jede Nacht nach 30 Minuten Schlaf aufwacht und schreit: "Hört auf, mich zu schlagen! Hört auf, mich zu verprügeln!" Er kann nicht schlafen. Also arbeitet er. Er soll eigentlich nach 24 Stunden Arbeit 48 Stunden frei haben, richtig? Aber wenn er seine 24 Stunden hinter sich gebracht hat, ist er drei Stunden später wieder da, weil er nicht schlafen kann.
Einmal habe ich ihm gesagt, er solle nach Hause gehen, weil er viel zu lange gearbeitet hatte. Also geht er. Zwei bis drei Stunden später bin ich in der Notaufnahme und sehe einen Mann mit einem Druckverband auf dem Boden liegen, mit traumatischer Amputation beider Beine und eines Arms. Er hat nur noch einen Arm und blutet auf den Boden. Sie reanimieren ihn und er ist gerade im Krankenhaus angekommen. Der eine Stumpf wurde mit einem Foley-Katheter abgebunden. Und am anderen Bein hat er ein Tourniquet, wie es vom Militär verwendet wird. Ich hatte in der Notaufnahme noch nie Tourniquets in Militärqualität gesehen, aber ich hatte ein ganzes Bündel davon mit in den Gazastreifen gebracht, und ich hatte diesem Krankenpfleger zwei Tage zuvor eines geschenkt.
Dieser Patient hat ein Militär-Tourniquet an einem Bein. Ich ziehe schnell noch eins aus der Tasche und lege sie ihm um das andere Bein, und ich frage mich, „Wo zum Teufel hatten sie das andere Tourniquet her?“
Und dann drehe ich mich um und sehe den Krankenpfleger. Jetzt weiß ich also, wo das Tourniquet herkam. Ich frage, „Mann, was machst du denn hier! Ich hab dir doch gesagt, du sollst nach Hause gehen und dich ausruhen.“ Er dazu: "Ich bin nach Hause gegangen und hab mich ausgeruht. Das ist der Mann meiner Schwester, der da mit dreifacher Amputation auf dem Boden liegt.“
Er erklärt, dass der Mann seiner Schwester zu einer Hilfsgüterverteilung gegangen war. Die israelischen Streitkräfte bombardierten die Ausgabestelle. Deshalb weckte ihn seine Familie auf und bat ihn, nach seinem Schwager zu sehen, von dem sie wussten, dass er sich an der Ausgabestelle befand.
Er kommt dort an. Er sieht den Ehemann seiner Schwester, mit dem er auch sehr gut befreundet ist, blutend auf dem Boden liegen, mit dreifachen traumatischen Amputationen. Und nun liegt der Ehemann seiner Schwester in einem überfüllten Krankenhaus und benötigt mehrere Operationen, die er nicht bekommen kann. Er pflegt ihn – und das ist die gleiche Person, die all das durchgemacht hat, was ich Ihnen gerade erzählt hatte.
Der gleiche Krankenpfleger ist es auch, der ein ein paar Nächte später um drei Uhr morgens ein Kind zu reanimieren versucht. Das Kind stirbt, und der Krankenpfleger bricht zusammen, mit dem Kopf auf dem Kinderbett.
Dies ist die Erfahrung eines medizinischen Mitarbeiters, der entführt wurde. Er ist erschöpft. Sein Haus ist zerstört worden. Er arbeitet eine irrsinnige Anzahl von Stunden ohne Bezahlung. Und er ist einer von Hunderten, die entführt wurden.
Und alle, die nicht entführt wurden, kennen Kolleg*innen, die getötet oder entführt wurden. Sie arbeiten ohne Bezahlung oder gegen minimale Bezahlung, wenn sie überhaupt einen Vertrag haben. Die meisten medizinischen Mitarbeiter*innen, mit denen ich im Al-Aqsa-Krankenhaus gesprochen habe, leben zur Zeit in Zelten. Sie kommen jeden Tag zur Arbeit und versuchen, ihre Familie zu versorgen, denn oft sind sie die einzige Person mit einem Einkommen, wenn sie denn bezahlt werden.
Ich habe das zwei Wochen lang gemacht, Mary, und ich war bei meiner Abreise so müde. Ich habe es zwei Wochen lang gemacht. Es war nicht nur die Art von Müdigkeit, die ich nach einem Bereitschaftsdienst fühle. In den letzten drei Jahren habe ich in der Intensivpflege gearbeitet. Ich weiß, wie sich Erschöpfung durch direkt aufeinanderfolgende Einsätze anfühlt – das war meine Tätigkeit in Gaza. Aber es war mentale Erschöpfung, und dazu die körperliche Erschöpfung, die auch durch Bewegungsmangel und mangelhafte Ernährung entsteht. Du isst ständig Konserven. Nichts anderes als Konserven. Nach zwei Wochen ist Dein Körper erschöpft.
Und ich musste mir keine Sorgen um die Sicherheit meiner Angehörigen machen. Sie müssen sich dort um die Sicherheit ihrer Familien sorgen. Die meisten von ihnen haben jemanden verloren, der ihnen sehr nahe stand. Ich habe in Al-Aqsa Mitarbeiter*innen getroffen, die ihren Ehepartner, ihre Kinder, ihre Cousins, ihre Eltern verloren haben.
MT: Es scheint, dass die israelischen Streitkräfte es zumindest anfangs auf die erfahrensten Ärzt*innen abgesehen hatten. Zurück bleiben die jüngeren Oberärzt*innen, die Assistenzärzt*innen, die Medizinstudent*innen, von denen dann erwartet wird, dass sie Aufgaben übernehmen, die weit über ihre Ausbildung hinausgehen. Was geschieht mit einem medizinischen System, wenn es dieses Fachwissen verliert?
THH: Das ist eine sehr gute Frage, und es geht ja nicht nur darum, dass die leitenden Ärzt*innen ins Visier genommen werden (was der Fall ist). Es geht auch darum, dass alle, die die Möglichkeit haben, den Gazastreifen zu verlassen, das überwiegend auch tun werden – weil das medizinische Personal attackiert wird und der Bevölkerung des Gazastreifens jegliche Lebensgrundlage genommen wurde. Und das sind oft die Mitglieder der Gesellschaft, die am besten ausgebildet sind, die ein gutes Einkommen haben und über Ersparnisse verfügen. Viele der älteren Ärzt*innen sind geflohen. Als ich dort war, haben sie aktiv die Flucht ergriffen. In der Zeit, in der ich dort war, verließ die Leitung der neonatologischen Abteilung das Krankenhaus, und einer der leitenden Ärzte der Notaufnahme ging ebenfalls.
Das bedeutete, die Ärzt*innen in der Notaufnahme arbeiteten über Nacht in Gruppen. In einigen Gruppen war die ganze lang Nacht keine Oberärzt*in, sondern nur junge Ärzt*innen, die frisch aus dem Medizinstudium kamen.
Sie sind Medizinerin, Mary. Stellen Sie sich eine Nachtschicht an einem beliebigen Krankenhaus mit aufeinander folgenden Massenanfällen von Verletzten vor, wo alle paar Stunden 25 bis 30 verletzte Personen auf einmal eintreffen. Und sie haben Ärzt*innen im ersten Jahr, die gerade ihr Medizinstudium abgeschlossen haben.
MT: Ja, ich wüsste nicht einmal, wie man die Triage machen würde. Ich wüsste nicht, was ich tun sollte.
THH: Und das ist die Lage dort. Die am besten ausgestatteten Krankenhäuser der Welt, große Krankenhäuser mit praktisch leeren Notaufnahmen, wären völlig überfordert und hätten Mühe, einen solchen Massenanfall von Verletzten zu bewältigen. Einen. Und wir bekamen mehrere davon im Laufe einer Schicht herein. Der Braindrain ist ein echtes Problem. Und das geschieht, weil die Bevölkerung stranguliert wurde. Viele Menschen – wenn sie am Leben bleiben wollen – entscheiden sich, zu gehen. Und viele von denen, die sich dafür entschieden haben zu bleiben, oder die nicht gehen können, werden getötet.
MT: Das passiert schleichend – ein langsamer Tod, die Verkrüppelung eines Volkes – und bekommt nicht dieselbe Aufmerksamkeit, weil dieser Tod nicht so ergreifend oder akut ist.
THH: Die Art und Weise, wie Israel seine Operationen im Gazastreifen durchführt, resultiert ganz klar in zwei Phasen, in denen Menschen sterben. Die erste Phase ist die der schnellen Exekution. Sie haben Explosionsverletzungen, Verletzungen durch Scharfschützen, Schrapnelle. Wenn ich sage „Scharfschützen“, dann meine ich Kopfschüsse.
Dann gibt es noch die langsame Hinrichtung, d. h. das Aushungern und die Schaffung von Bedingungen, die mit dem Leben nicht kompatibel sind.
Wir haben bereits über Al-Schifa gesprochen. Ich fragte einen der Ärzte: "Warum, glauben Sie, attackieren sie immer wieder Al-Schifa?“ – er antwortete, Al-Schifa sei eben das schlagende Herz des Gesundheitssystems in Gaza. Wenn man eine Bevölkerung vernichten will, vernichtet man ihr Gesundheitswesen, den Ort, an den sich die Menschen wenden, wenn sie Hilfe brauchen. Wenn man ein Gesundheitssystem zerstören will, zerstört man sein schlagendes Herz. Das ist die langsame Exekution.
MT: Etwas, worüber ich sehr wenig gehört habe, ist die Belastung mit krebserregenden Stoffen. Die Krebsraten im Gazastreifen und die Krebsarten, die in der pädiatrischen Bevölkerung auftreten – darüber wissen Sie mehr als ich. Das ist nicht normal. Die Bevölkerung des Gazastreifens ist durch jahrzehntelange Angriffe toxischen Belastungen ausgesetzt – weißer Phosphor und dergleichen. Hinzu kommen das ungenießbare Wasser und die Chemikalien, die das israelische Militär in den Jahren zwischen den aktiven Luftangriffen immer wieder auf die landwirtschaftlichen Felder sprüht, um sie unbrauchbar zu machen.
THH: Manchmal, wenn ich bei einen Massenanfall von Verletzten in die Notaufnahme kam, setzte ich mir eine Maske auf, allein schon wegen der Menge an Staub – von den zertrümmerten Häusern, aber auch von den Sprengkörpern selbst. Wenn man nach einem Massenanfall von Verletzten die Notaufnahme betritt, ist alles staubig. Man kann nicht richtig sehen, weil die angelieferten Leute so sehr mit Staub bedeckt sind. Sie haben die Videos gesehen – sie sind grau. All das wird in die Luft geschleudert. Wenn man ihnen die Kleidung entfernt, atmet man Schwaden von diesem Staub ein – was auch immer das ist –, und hat das Gefühl, zu ersticken. Ich weiß nicht, was wir da einatmen.
Wir haben darüber gelacht. Viele dieser Dinge sind so entsetzlich. Ich glaube, die Menschen in Gaza können das wirklich gut – sie machen Witze. Schwarzer Humor ist das A und O, wenn man versucht, so etwas zu überstehen.
MT: Die "humanitäre Krise", die die Medien hinnehmen oder sogar beklagen können, ist nur möglich, weil sie den "menschlichen Tribut" als etwas darstellen, was von Israels übergeordneten politischen Zielen getrennt ist. Als ob der Völkermord – und insbesondere der Angriff auf die Gesundheitsinfrastruktur – irgendwie zufällig oder ein Kollateralschaden wäre. Wie weit kann man gehen bei der Bezeichnung dieser Vorgänge als "humanitäre Krise"?
THH: Ich glaube, ich habe zu Beginn einige Wochen lang den Begriff "humanitäre Krise" verwendet. Jetzt finde ich das Wort "Krise" triggernd. Eine "humanitäre Krise" beschreibt eine Überschwemmung oder eine vorübergehende Hungersnot, eine natürliche Hungersnot. Was wir hier sehen, ist eine andauernde Massenexekution quer durch alle demografischen Gruppen einer Bevölkerung. So etwas kann der humanitäre Sektor nicht lösen.
Ein weiteres Problem ist, dass bei einer "humanitären Krise" die natürliche Reaktion darin besteht, humanitäre Hilfe ins Land zu holen. Mein erster Punkt war, dass die humanitären Organisationen das Problem nicht lösen können. Mein zweiter Punkt ist, dass die humanitären Bemühungen von Anfang an behindert wurden. Israel lässt keine humanitäre Hilfe zu, und die humanitären Helfer*innen kommen nicht dorthin, wo die Menschen sie am dringendsten brauchen – wir haben es nicht in den Norden geschafft. Wir erreichen kaum die mittleren Gebiete oder Gaza-Stadt. Und selbst im Süden gibt es humanitäre Organisationen, die entweder ihre Teams evakuieren oder sich innerhalb des Gebiets immer weiter von den Notgebieten entfernen müssen.
Und mein drittes Problem mit dieser Formulierung ist, dass sie nicht auf die gezielten Attacken eingeht. Es gibt mehrere humanitäre Organisationen, die wiederholt ins Visier genommen wurden. World Central Kitchen war viel im Gespräch, vor allem, weil es sich dabei um ausländische Mitarbeiter*innen handelte. Seit dem Anschlag auf die Mitarbeiter*innen der World Central Kitchen sind mindestens 11 Mitarbeiter*innen von Hilfsorganisationen, allesamt Palästinenser*innen, getötet worden. Im Gazastreifen sind mehr Mitarbeiter*innen der Vereinten Nationen getötet worden als in der gesamten Geschichte der UNO – und dieser schreckliche Rekord wurde schon vor Monaten übertroffen.
Und erst gestern wurde ich um ein Interview gebeten, um über die "Berichte" von einer möglichen Hungersnot in Gaza zu sprechen. Wir reden schon seit Monaten von einer Hungersnot. Was meinen Sie mit "Berichten" über eine "mögliche" Hungersnot in Gaza?
Bevor ich diese Interviewanfrage erhielt, hatte ich gerade Videoaufnahmen von israelischen Panzern am Grenzübergang Rafah gesehen, die das "I Love Gaza"-Schild überfuhren. Ich weiß noch, wie mein Herz schlug, als ich das erste Mal in Gaza ankam und es sah. Ich habe Berichte gehört, dass die Israelis die unbewaffneten Grenzbeamten von Gaza exekutiert haben. Beamten, die meinen Pass bei der Ein- und Ausreise mit "Staat Palästina" abstempelten, die mir Tee machten, mit denen wir in der ersten Nacht des Ramadan das Fasten brachen, weil wir zu spät in Gaza angekommen waren, um unser Gepäck abholen zu können, und es Zeit war, das Fasten zu brechen. Also hielten wir alle an und brachen gemeinsam das Fasten. Das sind Menschen, mit denen wir zusammen gegessen und Tee getrunken haben. Sie haben sie hingerichtet und dann das "I Love Gaza"-Schild mit Bulldozern zerstört.
Und die Medien wollen über "Berichte" einer Hungersnot sprechen. Das ist eine Ablenkung von der Realität vor Ort: einem Völkermord.
Ich werde eine Nachricht vorlesen, die wir heute für Gaza Medic Voices von einem Notarzt erhalten haben:
"Gestern Abend kamen vor allem Patient*innen mit Explosionsverletzungen, viele Kinder mit Schrapnellwunden – eines war völlig erblindet, die meisten hatten bei der Einlieferung schreckliche Schmerzen. Berichten zufolge verweigerte das israelische Militär in vielen Gebieten mit Patient*innen den Krankenwagen den Zugang, sodass die Menschen leiden und sterben mussten. In der Nacht gab es zahlreiche Schussverletzungen, bei denen es sich offenbar um gezielte Schüsse in die Knie handelte, sowie Opfer von Explosionen. Es sind nur wenige Mitarbeiter*innen vor Ort, und in einigen Abteilungen gar keine, da ihre Familien mit Flugblättern zur Evakuierung aufgefordert wurden (nachdem sie bereits viele Male vertrieben und evakuiert worden waren)."
Dies ist eine Nachricht von heute aus Rafah. Kinder mit Explosionsverletzungen, Schrapnellwunden, ein völlig erblindetes Kind, die meisten in Todesqualen bei der Ankunft im Krankenhaus. Und das sind die Menschen, die das Glück hatten, ins Krankenhaus zu kommen, denn laut diesem Notarzt wird Krankenwagen vom israelischen Militär die Zufahrt verweigert, so dass viele Verletzte vor Ort sterben müssen. Die anderen Verletzten sind gezielte Schussverletzungen – Knieschüsse.
Ich weiß nicht, wie man die Demografie der Todesopfer anders interpretieren kann. Wenn 48 Prozent der Getöteten Kinder sind, dann kann es sich um nichts anderes handeln als die wahllose Tötung einer ganzen Bevölkerung. Wenn Sie sich die Todesopfer in anderen Kriegen ansehen – Suchen Sie sich einen beliebigen anderen Krieg aus, und schauen Sie sich die demografische Verteilung der Todesopfer an. Sie werden 85, 90 Prozent Männer sehen, Männer im arbeitsfähigen Alter und junge Männer. Nicht 48 Prozent Kinder, 25 Prozent Frauen. Das sind die demografischen Daten des Gazastreifens, die genauen demografischen Daten der Bevölkerung. Das allein ist schon ein Zeichen für Völkermord. Natürlich nicht für sich genommen. Der Internationale Gerichtshof hat die Kriterien für den Nachweis eines plausiblen Völkermordes sehr ausführlich dargelegt. Und es dauert Jahre, bis eine endgültige juristische Entscheidung getroffen ist, aber wir sind bei einem plausiblen Völkermord. Und das spiegelt sich in der Demografie wider.
MT: Ich wollte Sie etwas zu Rafah fragen. Israel hat die Kontrolle über die palästinensische Seite des Grenzübergangs Rafah übernommen und blockiert die Einfuhr von Hilfsgütern, so eine aktuelle Erklärung von Ärzte ohne Grenzen, sodass es die gesamte Bevölkerung faktisch gefangen hält. Gleichzeitig fordert sie sie mit Flugblättern zur Evakuierung auf. Und währenddessen hat Ägypten seine Seite des Übergangs mit Zementblöcken versiegelt. Was hören Sie von den Menschen vor Ort über den Bodeneinsatz?
THH: Es herrscht extreme Panik. Zehntausende von Menschen evakuieren. Und sie wissen nicht, wohin. Sie werden aufgefordert, nach Al-Mawasi zu gehen. Nur damit Ihnen klar ist, wie Al-Mawasi aussieht: Das ist eine Sandküste mit Zelten, die bis zum Wasser am Strand stehen. Ich hatte vorhin ein Pressegespräch mit einer humanitären Helferin, die momentan im Gazastreifen ist, und sie sagte: "Es ist eine Lüge, [Al-Mawasi] als sichere Zone zu bezeichnen, und es ist heuchlerisch, irgendeines dieser Gebiete als 'humanitäre Zone' zu bezeichnen." Jeder Ort, der als "sichere Zone" oder "humanitäre Zone" bezeichnet wurde, ist bombardiert worden. Die Menschen wurden aufgefordert, nach Rafah zu evakuieren, aber Rafah war von Anfang an nicht sicher und wird derzeit aktiv bombardiert – und es gibt eine Bodenoperation.
Ich habe versucht, bei der Evakuation einer jungen Frau aus dem Al-Aqsa-Krankenhaus zu helfen. Sie wurde von einem Panzer überrollt, während sie in Al-Mawasi mit ihrer Familie in einem Zelt schlief. Der Panzer hat buchstäblich ihre gesamte Familie überrollt. Die meisten ihrer Familienmitglieder überlebten, weil sie sich zwischen den beiden Kettenrädern des Panzers befanden. Sie wurde überrollt – ihr halber Körper wurde zerquetscht und freigelegt. Die Ärzte operierten sie zwei Wochen lang und versuchten, ihren Körper wiederherzustellen.
Ich habe ein Video von ihr, in dem sie darum bettelt, evakuiert zu werden. Sie war eine ganz liebe junge Frau. Sie starb, als ich in Gaza war. Und sie hielt sich in einem Zelt am Strand von Al Mawasi auf, als sie von einem israelischen Panzer überrollt wurde. Die israelischen Streitkräfte verweigerten den Krankenwagen den Zugang zu ihr. Sie blutete acht Stunden lang am Strand, bis sie ins Krankenhaus gebracht werden konnte, und litt dann zwei Wochen lang, bevor sie schließlich ihren Verletzungen erlag.
Das als "sichere Zonen" zu bezeichnen, ist also eine glatte Lüge. Die Menschen erhalten vom Himmel fallende Flugblätter, in denen sie aufgefordert werden, "zu evakuieren" Es handelt sich nicht um eine Evakuierung. Es ist eine gewaltsame Machtübernahme. Es ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Ich habe heute mit einem meiner Kollegen gesprochen, der zu den letzten gehörte, die aus dem Krankenhaus Abu Youssef Al-Najjar geflohen sind, und er erzählte mir, dass dort völlige Panik herrschte. Auch er floh schließlich aus Abu Youssef Al-Najjar. Das war das einzige staatliche Krankenhaus in Rafah, das noch übrig war. Es befand sich in dem Gebiet, das zwangweise – ich hasse das Wort "evakuieren "–, also das zwangsweise evakuiert werden sollte.
Er half bei der Evakuierung der Patient*innen und aller anderen Personen. Kurze Zeit später wurde sein Haus getroffen. Seine Verwandten wurden getötet. Seine Schwestern wurden verletzt. Und jetzt schreibt er mir SMS aus einem Gebiet in der Mitte des Gazastreifens, wo er mit seiner restlichen Familie angekommen ist, und fragt mich, ob ich ihm helfen kann, Gesundheitsposten einzurichten – Zelte, in denen die Bevölkerung medizinisch versorgt wird –, denn, so sagt er, es gibt in diesem Gebiet keine Gesundheitsposten. Und das, nachdem er seine Cousins verloren hat und seine Schwestern verletzt wurden.
MT: Wahrscheinlich erinnern Sie sich an das Video von Ihnen, das im November bei einer Mahnwache in London für das Gesundheitspersonal in Gaza aufgenommen wurde. Sie trugen einen OP-Kittel und lasen den Bericht eines Arztes aus Gaza vor, und Sie fingen an zu weinen. Sie reichten Ihr Telefon der Person, die neben Ihnen stand, und baten sie mit einer Geste auf den Bildschirm, zu übernehmen. Sie setzten sich hin, um sich zu sammeln. Und ein paar Sekunden später standen Sie wieder auf, nahmen Ihr Handy und lasen weiter. Ich denke darüber oft nach: dass wir uns einerseits von dem, was wir sehen, berühren lassen müssen. Denn es wäre moralisch schädlicher für unsere kollektive wie auch für unsere individuelle Menschlichkeit, wenn wir die Grausamkeit, aber auch die Stärke der Menschen – etwa Ihrer Kollegen*innen, deren Berichte Sie mit uns teilen –, nicht wahrnehmen würden. Und auf der anderen Seite müssen wir weitermachen.
THH: Was aus dem Video nicht hervorging, war, dass ich gerade ein Zeugnis nach dem anderen von Gaza Medic Voices vorgelesen hatte. Die Nachrichten, die ich und meine engen Kolleg*innen in den letzten Wochen von unseren Kolleg*innen in Gaza erhalten hatten, wurden immer verzweifelter.
Ich las sie der Reihe nach vor. Und die letzte Nachricht von den Ärzt*innen von Al-Schifa, in der es hieß: "Wir wissen nicht, ob wir die Nacht überleben werden", hatte ich eine Stunde vor der Mahnwache erhalten. Wir erhalten diese Nachrichten direkt, und man ist so verzweifelt, weil man weit weg ist und nicht helfen kann. Und das sind Menschen, die Sie respektieren, Menschen, in die Sie sich hineinversetzen können.
Und die Tatsache, dass sie beschuldigt und ins Visier genommen wurden, und möglicherweise nicht überleben würden, war wirklich unerträglich. Eine Gruppe der Kolleg*innen, mit denen ich nach Gaza fahre, stand anderswo bei der Mahnwache. Und wir haben alle geweint. Ich denke, es ist dieses Gefühl der kollektiven Verzweiflung und Hilflosigkeit – wie konnten wir das zulassen? Und dieser tief empfundene Drang, sie zu schützen, weil wir wissen, wofür sie stehen und wie sehr wir sie als Kolleg*innen und Menschen respektieren. Ich glaube, es war eine Kombination aus unerträglicher Ungerechtigkeit und der Hilflosigkeit bei dem Versuch, Menschen zu schützen, die man so sehr respektiert und bewundert. Und was dem vorausging – dass wir diesen Weg von Anfang an mit ihnen miterlebt hatten.
MT: Gestern sah ich ein Video von zwei Jungen, die in den Trümmern ihres Hauses lagen. Sie sahen fast aus, als würden sie schlafen. Ich zoomte heran und sah, dass einer der Augäpfel heraushing. Und jeden Tag stoße ich auf mehrere Bilder oder Videos wie dieses, die schlimmer sind als alles, was ich je in meinem Leben gesehen habe.
Sie sind Mitbegründerin von Gaza Medic Voices, einer Organisation, die Erfahrungsberichte von Mitarbeiter*innen des Gesundheitswesens vor Ort in Gaza veröffentlicht. Könnten Sie etwas zur Macht von Augenzeugenberichten sagen, aber auch zu ihren Grenzen?
THH: In den ersten sechs Monaten hatte ich einen ganz anderen Ansatz. Ich beschützte alle um mich herum, auch die Gesprächspartner in Interviews, vor den brutalen Bildern, weil ich sie als sehr entmenschlichend empfand. Ein Augapfel, ein Augapfel, sollte nicht heraushängen. So etwas sieht man vielleicht in einem Horrorfilm oder in einem Alptraum. Ein Mann sollte nicht mit drei traumatischen Amputationen in die Notaufnahme kommen. Das Gesicht eines Kindes sollte nicht weggeblasen werden. Die Hirnmasse sollte nicht freiliegen – eine Frage, die eigentlich bei jedem Kind gestellt wird, das mit einer traumatischen Hirnverletzung eingeliefert wird. "Freiliegende Hirnmasse?" Das wird gefragt. Denn wenn Hirnmasse freliegt, reanimieren wir nicht. Das ist buchstäblich eine Screening-Frage für jedes Kind mit Kopfverletzung, denn wir haben nicht die Mittel für Kinder mit schlechter Prognose. Sie hätten vielleicht überlebt, aber uns fehlen einfach die Mittel. Also "Hirnmasse freiliegend", ja oder nein? Dann machen wir keine Reanimation.
Es ist so entsetzlich und brutal. Aber das ist die Realität. Verbrennungen von neunzig Prozent der Körperoberfläche sind etwas, was wir nie sehen sollten. Kinder, deren gesamtes Fleisch verbrannt ist, die keine Schmerzmittel erhalten können, weil wir keinen Zugang legen können. Diese Bloßstellung ist entmenschlichend.
Meine Strategie für die ersten sechs Monate war es, nicht ins Detail zu gehen und kein Videomaterial zu veröffentlichen. Sie haben Gaza Medic Voices gesehen. Wir teilen nie Inhalte, die allzu brutal sind. Bei allem Filmmaterial und Fotos, die wir erhalten, gibt es ständig die Diskussion: Wir wünschten, die Welt könnte das sehen, aber wir können uns nicht dazu durchringen, es zu zeigen. Ich und die andere Person von Gaza Medic Voices arbeiten schon seit Jahren in Gaza. Diese Menschen sind oft sehr geschätzte und geliebte Kolleg*innen von uns.
MT: Es sind Menschen. Sie verdienen Würde, im Tod wie im Leben.
THH: Ja. Und wenn man sehr weit von etwas entfernt ist, wird die Entmenschlichung weniger schwierig. Es sollte niemals einfach sein, jemanden zu entmenschlichen. Aber für uns ist es noch persönlicher, weil wir all diese Verbindungen in dieser Region haben. Also insgesamt läuft es darauf hinaus, dass ich die brutalen Bilder nicht zeige und ich die Videos, die ich sehe und von denen mir schlecht wird, nicht weiterverbreite. Ich teile die Zitate, Interviews und Erklärungen von Organisationen.
Aber ich bin an einem Punkt, an dem ich nicht mehr weiß, was noch nötig ist, um das Gewissen der Menschen aufzuwecken. Ich weiß nicht, ob sie nicht die gleichen Dinge sehen wie ich, oder ob sie sie vielleicht sehen und es ihnen einfach egal ist. Und ich hoffe wirklich, dass es nicht Letzteres ist, denn das würde ein Maß an Bösartigkeit voraussetzen, das ich einem so großen Teil der Welt nicht zuschreiben möchte.
Also beschloss ich: "Ich gebe Euch eine Chance." Hier sind Videos. Tut etwas. Da die Mainstream-Medien sich weigern, Zeugnis abzulegen, bleibt uns die Last des Zeugnisses. Menschen, die keine journalistische Erfahrung haben oder die nicht dafür bezahlt werden, Licht ins Dunkel zu bringen – wir werden mit dieser Last allein gelassen.
Es gibt so viele Menschen in den sozialen Medien, von denen die meisten weder dafür ausgebildet sind noch dafür bezahlt werden, das zu tun, was sie tun. Sie haben es auf sich genommen, Zeugnis abzulegen und Zeugenaussagen zu verbreiten, weil es so offensichtlich von Anfang an Teil der israelischen Strategie war, die Geschehnisse in Gaza zu verstecken – durch Unterbrechung der Kommunikation, durch die Verhinderung der Einreise internationaler Journalist*innen, durch die direkten Attacken auf lokale Journalist*innen – damit Israel im Dunkeln agieren kann. Und die internationalen Medien, die Zugang zu denselben Informationen haben wie Sie und ich, haben ihre Verantwortung, über die Geschehnisse vor Ort zu berichten, völlig vernachlässigt.
MT: Es war für mich erschütternd zu erkennen, wie viele Menschen nur im Abstrakten moralische Werte haben oder an Gerechtigkeit glauben, und in Wirklichkeit für nichts stehen, für nichts leben, außer für sich selbst. Ich weiß nicht, was ich mit dieser Welt anfangen soll, in der ich mich befinde, vor allem im Bereich der Medizin.
THH: Ich habe mit der gleichen Erkenntnis gekämpft. Es war erschütternd zu sehen, dass die universellen Menschenrechte und – insbesondere für uns in der Medizin – das Recht auf Gesundheit überhaupt nicht universell sind. Die Beobachtung, dass unsere medizinischen Fachgesellschaften, unsere Krankenhäuser und unsere universitären Einrichtungen Palästinenser*innen bei ihrer "universellen" Anwendung von Werten ausschließen, war ein verstörendes Alarmsignal. Das hat so viele ihrer Mitglieder entfremdet.
Viele von uns können nicht mehr respektieren, wofür diese Institutionen zu stehen vorgeben, und wir können auch keinen Respekt mehr vor ihren Führungskräften haben. Im Bereich Pädiatrie haben Institutionen Mediziner*innen, die sich für den Schutz palästinensischer Kinder einsetzen, aktiv zum Schweigen gebracht, und das zu einer Zeit, in der Kinder im Gazastreifen in einem noch nie dagewesenen Ausmaß getötet, verstümmelt und zu Waisen gemacht werden und internationale NROs verkünden, dass der Gazastreifen der für Kinder gefährlichste Ort der Welt ist.
MT: In gewisser Weise fühlt es sich so an, als wäre das Leben jetzt klarer. Und diese Klarheit weist uns eine Richtung, und zwar auf eine Weise, die für die Welt, in der wir leben, störend ist. Aber das ist eine Anklage gegen diese Welt.
THH: Die Dinge sind jetzt so viel klarer. Ich glaube, vorher hatte ich große Angst vor den nächsten Schritten. Und jetzt habe ich ein neues und viel größeres Vertrauen in das, wofür ich lebe.
Die Leute fragen mich immer wieder: "Hattest Du keine Angst, nach Gaza zu gehen? Was, wenn Du getötet wirst? Es ist so gefährlich." Ich habe die Tatsache, dass ich getötet werden könnte, durchaus akzeptiert. Aber die Ungerechtigkeit aus der Ferne zu beobachten, war schlimmer als dieses Risiko. Was ist der Sinn des Lebens, wenn ich nicht für die Prinzipien und Werte eintrete, an die ich glaube? Es gibt Dinge, die so viel wichtiger sind als meine persönliche Sicherheit oder meine berufliche Karriere – wie zum Beispiel alles in meiner Macht stehende zu tun, um einen Völkermord zu verhindern.
Mary Turfah ist Schriftstellerin und Medizinstudentin.
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