Der Lauf der Geschichte lehrt eine allgemeingültige Wahrheit: Wo die koloniale Zukunft beginnt, wird die indigene Vergangenheit ausgelöscht. Im Rahmen der andauernden föderalen Neustrukturierung des nepalesischen Staates traf das Parlament die Entscheidung, die bislang namenlose „Provinz Nr. 1“ im östlichen Teil des Landes künftig „Koshi“ zu nennen.
Das indigene Volk der Kirat, das überwiegend aus ethnischen Gemeinschaften der Rai und Limbu besteht, führte gegen die Namensgebung einige triftige Gründe ins Feld: Erstens ist der Begriff „Koshi“ mythologisch im Hinduismus verwurzelt und repräsentiert damit weder die Geschichte noch die Traditionen des geographischen Gebiets. Zweitens hatte die amtierende Regierung ihre Mehrheit im Provinzparlament in arglistiger Weise ausgenutzt, um Gesprächen mit den lokalen Gemeinschaften im Vorfeld aus dem Weg zu gehen, die für einen so historischen Beschluss wie die Namensgebung einer Provinz notwendig gewesen wären. Auf diese Weise brachen die Entscheidungsträger die den indigenen Völkern gegenüber im Wahlkampf gemachten Versprechen.
Das war die Geburtsstunde der indigenen „No Koshi“-Bewegung, die in ihrer Frühphase für den Staat harmlos wirken mochte, aber durch ihr überraschend gutes Abschneiden bei einer Nachwahl in einem der wichtigsten Wahlbezirke Ost-Nepals nun auch von politischer Seite nicht mehr zu ignorieren ist.
Im Zentrum dieser wachsenden Bewegung steht die Forderung, das eigene Land nach den Vorstellungen seiner Ureinwohner benennen zu dürfen. „Genug ist genug!“ ist der Schlachtruf der Bewegung: Sie fordert ein Ende der staatlichen Maßnahmen, indigene Namen von Orten, Landschaften, Flüssen, Wäldern, Friedhöfen, Hügeln und Bergen als Ausdruck neokolonialer Herrschaft und Kontrolle durch Hindu-Namen auszulöschen und zu ersetzen. Die „No Koshi“-Bewegung zeigt sich dieser ethnischen Einflussnahme gegenüber unnachgiebig und beharrlich; sie ist nicht gewalttätig, aber auch nicht friedfertig und setzt dem staatlich geschürten Klima der Verunsicherung kreative Protestformen entgegen.
Wir sind eine gemischte Gruppe aus Aktivisten und Anthropologen, Architekten und Geographen, Fotografen und Schriftsteller, viele mit indigenem Hintergrund, die an mehreren Orten im Osten Nepals die wachsende indigene Bewegung beobachtet und dokumentiert. Auf unseren Reisen durch das Land haben wir viele große Gewässer und ihre Zuflüsse, Hügel und Friedhöfe, Teiche und Wälder bereist. Wir sprachen mit jungen Studenten und Aktivisten, politischen Verantwortlichen und lokalen Historikern, zurückgekehrten Migranten und Bauern, die immer auf ihrer Scholle geblieben sind. Im persönlichen Gespräch mit ihnen formten sich die Geschichten, Erzählungen und Anekdoten einer ehrfurchtgebietenden Bindung aus, die die Menschen dieses Landes seit jeher zur Natur innehaben.
Wenn daher Namen ausgelöscht werden, sind nicht nur sie dem Vergessen anheimgegeben. Erinnern und Vergessen sind mächtige Werkzeuge, um Herrschaft und Kontrolle auszuüben. Neue Namen löschen die Spuren der alten aus. Und wenn die Vergangenheit nicht mehr erinnert wird, geht auch die Legitimität eines Volkes verloren, Ansprüche auf die Gegenwart zu erheben. Der indigenen Bevölkerung wird letztlich also ihre Fähigkeit genommen, eine eigene Zukunft zu entwerfen.
Im Laufe unserer Dokumentation verstärkte jeder Tag unseren Eindruck, dass die Bewohner im östlichen Nepal dabei sind, aus dem Dämmerzustand zu erwachen und wieder zu einer bedeutenden Protestbewegung zusammenzufinden. Die Rückeroberung ihrer Namen – ob von Flüssen, Wäldern und Landstrichen – die verloren, gestohlen, ausgelöscht oder getilgt worden waren, war die erste gemeinsame und erfolgreich umgesetzte Forderung in ihrem andauernden, aufreibenden Widerstand gegen die Obrigkeit.
Innerhalb eines Jahres hat die „No Koshi“-Bewegung ein rasantes Eigenleben entwickelt In vielen Gemeinden und Bezirken haben sich „Kampfkomitees“ gegründet – ein föderales Netzwerk lokaler Kollektive indigener Menschen. „No Koshi!“ ist zur mächtigen Formel geworden, die Gespräche in Teehäusern und am Esstisch befeuert und in öffentlichen Versammlungen und offenen Seminaren zu Aktionen anregt. Die horizontal über Dörfer und Städte verteilten Aktionen der Bewegung richten sich gegen staatliche und marktbestimmte Eingriffe in indigenes Land, etwa in Form der Betonierung traditioneller Teiche im Namen von Konservierung und Verschönerung, der Eröffnung von Parks über indigenen Bestattungsorten zum vorgeblichen Gedenken an lang verstorbene Politiker, mit denen die Einwohner sich nicht identifizieren, und der Überlagerung der indigenen Namen durch Hindu-Namen, um die Spuren auszulöschen, die die Urgemeinschaften mit ihren Ahnen und Traditionen verbinden.
All dies hatte zur Folge, dass die ursprünglich als Protest gegen den Namen „Koshi“ gegründete Bewegung „No Koshi“ nun zu einem echten und mächtigen Inkubator einer Gegenpolitik von unten avanciert ist, um der Auslöschung der Indigenität im Namen der Verschönerung, Konservierung, des Gedenkens und vor allem der „Entwicklung“ wirkungsvoll zu begegnen –letzterer in der Form der antikapitalistischen „No Cable Car“-Bewegung.
Angeführt von jungen indigenen Frauen und Männern – den Gesichtern und Anführern von „No Koshi“ – organisiert „No Cable Car“ den koordinierten passiven Widerstand gegen die Pläne eines schwerreichen Unternehmers aus der Hauptstadt Kathmandu, im Land der indigenen Limbu am heiligen Berg der Ahnen eine Seilbahn und weitere touristische Infrastruktur zu schaffen. Neben der kulturellen Bedeutung des Ortes für die indigene Bevölkerung steht dabei auch die große ökologische Artenvielfalt dieser Gebirgsregion und die lokale Ökonomie auf dem Spiel.
In den Morgenstunden des 13. Mai 2024 sandte der Bürgermeister der Stadt Taplejung, in der sich die „No Koshi“-Bewegung konzentriert, seine Schergen aus, Bäume in den Hügeln der unmittelbaren Umgebung zu fällen. An den Ausläufern der Hügel hatten sich in einer kleinen Siedlung Aktivisten zusammengefunden, das Gebiet zu bewachen, die nun Wind von den Plänen des Bürgermeisters erhielten. Sie sprangen aus ihren Betten, erklommen durch Morgennebel und dichten Wald den Hügel und standen vor einer Hundertschaft von Personen, die dabei waren, die Bäume mit Kettensägen zu fällen. Bei dem sich entwickelnden Wortgefecht jagten die Aktivisten die illegalen Holzfäller wieder den Hügel hinab, aber der Schaden war getan: Hunderte von Bäumen, einige von ihnen über eintausend Jahre alt, lagen gefällt darnieder.
Diese auf militante Art und Weise betriebene Rodung war längst kein Einzelfall. Genau zwei Monate vor diesem Baummassaker, am 13. März, versuchte ein bewaffnetes Polizei-Bataillon (APF) die Menschenkette der Aktivisten am Fuße des Mukkumlung zu durchbrechen. Angeführt wurde die Demonstration vom 30-jährigen Shree Linkhim, Vorsitzender des Mukkumlung-Kampfkommitees. Der Gruppe gelang es irgendwie, die APF zum Rückzug über die Schnellstraße und schließlich zurück in ihre Kaserne zu bringen. „Es war knapp. Wenn auch nur einer von uns die Nerven verloren hätte, wäre die Konfliktsituation vermutlich in echte Gewalt umgeschlagen“, sagt Shree am Tag nach dem Ereignis. Zum Glück behielten alle die Nerven.
Die gefällten Bäume sollten den Weg für die Anlage eines privatwirtschaftlichen Seilbahnbetriebes auf dem Mukkumlung freimachen – ein von der Limbu-Gemeinde als heilig verehrter Berg mit großer Artenvielfalt, der bedrohten Tierarten wie dem Roten Panda und Schneeleopard Heimat bietet, und hauptsächlich mit Rhododendron-Bäumen bewachsen ist, Nepals Landesblume.
Das Volk der Limbu befolgt den Mundhum, eine mündliche Tradition der Erzählkunst und gestischer Verkörperung, die das Verhältnis zwischen Menschen und Natur zum Thema hat. Dem Mundhum gemäß muss diese Beziehung durch einen Balance-Akt aus Gerechtigkeit und Erhabenheit schließlich zum Cholung führen, einer Utopie des guten Lebens. Auf den Berg Mukkumlung, ein Wort der Limbu, das sich als „Machtzentrum“ übertragen lässt, referieren Hindu-Gläubige gemeinhin durch die Hindu-Göttin Pathibhara, ein moderner Gebrauch, der sich immer mehr durchsetzt und den Beginn eines kulturellen Genozids markiert.
Im Rahmen des staatlichen „Pathibhara Area Development Committee” von 1996 und seiner Wiederaufnahme 2018 wurden die indigenen Gebiete für die private, profitorientierte Nutzung etwa in Form des erwähnten Seilbahnprojekts geöffnet, die die Auslöschung der Indigenität weiter vorantrieben. Vor allem aber wird das Cable Car-Projekt vom nepalesischen Milliardär Chandra Prasad Dhakal finanziert, dem ein privates nationales Bankinstitut und ein weiteres Seilbahnunternehmen gehören. Er ist Vorsitzender der nepalesischen Handelskammer (Federation of Nepalese Chamber of Commerce and Industries-FNCCI) und hat nun seine Aufmerksamkeit auf den Mukkumlung gerichtet, wo er seinen gewerblichen Profit zu vervielfachen gedenkt.
Zusammen mit kleinen lokalen Geschäften und den Gepäckträgern, die für Touristen und Pilger arbeiten, widersetzt sich die einheimische Gemeinschaft dem “Pathibhara Cable Car Project” und führt dafür gewichtige Gründe an: Das Vorhaben wurde ohne Hinzuziehung des lokalen Gemeinwesens auf den Weg gebracht, es wird die Artenvielfalt des Gebiets (über 13 ha Waldland und mehr als 10.000 Bäume sollen weichen) und die Ökonomie vor Ort zerstören (über 700 Gepäckträger und etwa 30 lokale Unternehmen sind betroffen), der Ortsgemeinschaft (ca. 1700 Haushalte) die Lebensgrundlage entziehen und Geschichte und Traditionen auslöschen.
Als Reaktion auf die Rodung des Waldes hat die Protestbewegung in über einem Monat Arbeit 30.000 Schösslinge für die gefällten Bäume gepflanzt. Über Social Media wurde ein landesweiter Aufruf zum gemeinsamen Pflanzen gestartet, der von Menschen aus dem ganzen Land, viele davon aus der Hauptstadt Kathmandu, begeistert aufgenommen wurde. Wer nicht selbst dabei sein konnte, sandte Reis, Gemüse und andere Mittel des Lebens, mit denen die Pflanzer einen Monat ausharren konnten. Neben der Pflanzung wurden kulturelle Rituale nach der Mandhum-Tradition durchgeführt und die Natur um Vergebung gebeten. Mit Blick auf den andauernden Widerstand sagte ein Gelehrter der Limbu: „Es gibt keine Bewegung ohne Mundhum.“ In ihrer Verteidigung der Natur, die unauflöslich mit ihrer Kultur verwoben ist, meinte er damit vermutlich sowohl Vergeltung gegen die aufkeimenden neoliberalen Angriffe auf die heiligen Stätten als auch die Kreativität im Widerstand der Bewegung selbst.
Der Forderungskatalog der indigenen Bevölkerung beinhaltet: Die Auflösung des “Pathibhara Area Development Committee”; die Bildung eines “Mukkumlung Area Development Committee”, das den indigenen Gemeinschaften und lokalen Stakeholdern eine Stimme verleiht sowie die Ausarbeitung eines Entwicklungsmodells für das Gebiet des Mukkumiung, das auf der Mundhum-Philosophie und anderem, nicht-indigenen, aber lokalen Ausprägungen von Know-how, Kultur und Ökonomie basiert, eine Vision also, die indigene Philosophie mit antikapitalistischer Ideologie verschränkt.
Dabei bilden sich neue Solidaritätsnetze, die der Bewegung helfen, in kreative Richtungen zu wachsen.
Anfang September 2024 machten sich Künstler, Maler und Performance-Künstler von Yakthung Cho Sanjumbho, einem nepalesischen Kollektiv indigener Künstler, tief in den Osten des Landes auf, um gemeinsam mit anderen Aktivisten und Wissenschaftlern auf den Gipfel des Mukkumlung zu steigen. Zusammen wollten sie eine kollektive Ikonographie für die Protestbewegung gegen die Seilbahn schaffen.
Beim Abstieg durch die Wälder kamen die Künstler vorbei an den Pflanzstellen, an denen neue Schösslinge wuchsen, um die von den gefällten Bäumen hinterlassenen Lücken zu füllen – Eindrücke, die sie bei ihrem Aufenthalt im Basar Phungling inmitten der Hügel in ihre Gemälde einfließen ließen.
Die Ortsansässigen und Bewohner der angrenzenden Dörfer versammelten sich an einem Mittwoch früh morgens. Wie Staffeleien auf Beinen muteten die Demonstranten an, die die von den Künstlern gemalten Bilder mit teils metaphorischen, teils realen Darstellungen einer Wald und Berg auffressenden Seilbahn durch den Ort trugen, vorbei an staunenden Ladenbesitzern, Passanten, Polizisten, Büroangestellten in der Mittagspause, Schulkindern usw.
Dazu hatten die Künstler auch eine Seilbahnattrappe gebaut. Vier Demonstranten erklärten sich bereit, die Seilbahn an den Bambushalmen hängend auf beiden Seiten zu tragen, als handele es sich um einen Leichenzug. Gegen Ende der Demonstration bildete die Gruppe einen Kreis auf dem zentralen Platz im Ort. Die Bilder wurden in der Mitte des Kreises ausgestellt, damit die Einheimischen sie in sich aufnehmen und betrachten konnten. Nach dem Mundhum-Begräbnisritual wurde die Seilbahn angezündet, und ein Schamane sang das abschließende Lied des Todes, während er inbrünstig auf den Teil des Platzes stampfte, auf dem die Reste der verbrannten Seilbahnattrappe lagen. Der Anblick dieses Spektakels war so fesselnd, dass selbst die Polizisten, die die Demonstration einhegen sollten, den Tanz des Todes mit offenem Mund auf ihrem Smartphone festhielten. Und dann begann es zu regnen, perfektes Timing!
Es ist nicht einfach, eine Bewegung zu führen, insbesondere dann nicht, wenn sich auf der Gegenseite die Vertreter der Macht formiert haben – der ehrgeizige Milliardär mit schier grenzenlosem Kapital; der käufliche Bürgermeister mit seinen brutalen Schergen, die Kreisverwaltung mit ihrer anachronistischen Bürokratie und vor allem die Zentral- und Provinzstaaten, die seit jeher von Hindu-Männern der oberen Kasten angeführt werden und wild entschlossen sind, der indigenen Kultur und Kartografie hinduistische Namen aufzudrücken, um die neokoloniale Herrschaft und Kontrolle fortzusetzen und zu vertiefen.
Gemessen an der schieren politischen Schlagkraft und den finanziellen Ressourcen klafft eine große Lücke zwischen den Großkapitalisten und der indigenen Bewegung. Aber die Bewegungen beruhen auf etwas weitaus Ungreifbarerem und Unermesslichem - dem stillen Mut der Menschen und ihrer unerschütterlichen Widerstandskraft, verkörpert durch den Berg selbst, den sie verteidigen – das heilige Land ihrer Vorfahren. Dennoch müssen wir wachsam bleiben, denn im Handumdrehen könnte die kapitalistische Maschinerie wieder zuschlagen – um die Linie der indigenen Wächter des Berges zu zerschlagen, tausend weitere Bäume zu fällen oder noch unheilvollere und gewalttätigere Dinge zu verüben.
Ich fragte Shree, wie lange die Bewegung angesichts der Übermacht des Gegners wohl dauern könnte. Shree senkte nachdenklich die Augen auf den Boden zwischen unseren Stühlen, der uns etwa einen Meter voneinander trennte, hob langsam die Brauen, um seinen Blick in meine Richtung zu lenken, und sprach in einem Tonfall, der Zuversicht mit Bescheidenheit zu verbinden schien, weder dramatisch noch rhetorisch, fest und doch sanft: „Bruder, ich bin dafür geboren".
Die Arbeit von Dr. Sabin Ninglekhu bewegt sich an der Schnittstelle von (Stadt-) Planung und sozialen/indigenen Bewegungen. Derzeit leitet er ein internationales Forschungsprojekt mit dem Titel: „Heritage as Placemaking:The Politics of Erasure and Solidarity in South Asia”, das sich auf Städte in Indien und Neapel konzentriert. Die wissenschaftliche Studie Ninglekhus Afterlives of Revolution: Slum, Heritage, and Everyday City erscheint demnächst bei Amsterdam University Press, Niederlande.