Das Dokument fasst Douhans vollständige Bewertung ihres 12-tägigen Besuchs in dem karibischen Land im Februar zusammen. Bei der Vorstellung der Ergebnisse auf der 48. Sitzung des UN-Menschenrechtsrates am 15. September bekräftigte die unabhängige Expertin, dass sich das weitreichende Sanktionsprogramm gegen Venezuela “verheerend” auf die Lebensbedingungen der gesamten Bevölkerung ausgewirkt hat.
Douhan führte weiter aus, dass die bereits bestehende wirtschaftliche und soziale Krise Venezuelas durch die Verhängung von "sektoralen Sanktionen gegen die Öl-, Gold- und Bergbauindustrie" sowie "die Wirtschaftsblockade und das Einfrieren der Vermögenswerte der Zentralbank" noch verschärft wurde.
Infolgedessen seien die Einnahmen des Landes, die im Wesentlichen aus dem Erdölexport stammen, erheblich zurückgegangen, was sich auf "die öffentlichen Strom-, Gas-, Wasser-, Verkehrs-, Telefon- und Kommunikationssysteme sowie auf Schulen, Krankenhäuser und andere öffentliche Einrichtungen" auswirkte.
Die belarussische Anwältin fügte hinzu, dass die Drohung mit extraterritorialen und sekundären Sanktionen zu einer "übermäßigen Befolgung und Folgsamkeit durch Banken und Unternehmen aus Drittländern" geführt habe, was die negativen Auswirkungen der primären Sanktionen noch verstärke. Darüber hinaus argumentierte sie, dass die "humanitären Ausnahmen unwirksam und unzureichend" seien, um die Krise zu lindern.
Die Sonderberichterstatterin kam zu dem Schluss, dass die einseitigen Sanktionen gegen Venezuela politisch motiviert sind, die grundlegendsten Menschenrechte untergraben und gegen das Völkerrecht verstoßen. Sie forderte die USA und ihre Verbündeten auf, alle Zwangsmaßnahmen aufzuheben.
Douhan würdigte zudem das "verstärkte Engagement" der Regierung von Nicolás Maduro in der Zusammenarbeit mit UN-Organisationen und Nichtregierungsorganisationen bei der Bereitstellung humanitärer Hilfe für die Bevölkerung.
Der venezolanische Außenminister Félix Plasencia nahm ebenfalls an der 48. Sitzung des UN-Menschenrechtsrates teil und begrüßte den Bericht von Douhan. "Die Sonderberichterstatterin hat deutlich gemacht, dass diese Maßnahmen in Form von Kollektivstrafen internationale Verbrechen sind, die das venezolanische Volk bedrohen."
Am Mittwoch haben derweil über 800 Menschenrechtsorganisationen und soziale Bewegungen eine Erklärung veröffentlicht, in der sie die jüngsten Forderungen nach einer Aufhebung der Sanktionen unterstützen, darunter auch die UN-Menschenrechtschefin Michelle Bachelet.
Venezuela steht seit 2017 unter erdrückenden US-Sanktionen. Damals nahm Washington die staatliche Ölgesellschaft PDVSA ins Visier. Für die Jahre 2019 bis 2020 verhängte das US-Finanzministerium ein Ölembargo, ein generelles Verbot aller Geschäfte mit Caracas, die Abschaffung von Treibstoff- und Verdünnungsmittelimporten sowie Swap Deals. Darüber hinaus erließ Washington sekundäre Sanktionen und diverse weitere Maßnahmen, darunter das Einfrieren oder Beschlagnahmen einer Reihe venezolanischer Vermögenswerte im Ausland.
Die Ölproduktion ist in der zweiten Hälfte des Jahres 2020 auf einen historischen Tiefstand gefallen.
In ihrem Bericht betonte die unabhängige UN-Expertin, dass "der Rückgang der Öleinnahmen, der durch die Sanktionen noch verschärft wurde, eine Lebensmittel- und Ernährungskrise ausgelöst hat", wobei die Verfügbarkeit von Lebensmitteln durch den Rückgang der Importe zwischen 2015 und 2019 um schätzungsweise 73 Prozent zurückgegangen sei.
Infolgedessen sind mehr als 2,5 Millionen Venezolaner*innen stark von Ernährungsunsicherheit betroffen, während die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) einen "Anstieg der Unterernährung oder des chronischen Hungers um 213,8 Prozent" verzeichnete.
In ihrem Bericht warnte Douhan auch vor der "prekären Kaufkraft der Arbeitnehmer*innen", wobei die Nahrungsmittelausgaben auf 2-10 US-Dollar pro Monat geschätzt werden und so etwa 2 Prozent des Nahrungsmittelkorbs abdecken.
Die Sonderberichterstatterin erkannte jedoch die Bemühungen der Regierung an, die Krise durch eine Reihe von Sozialleistungen zu lindern, darunter die Verteilung subventionierter Lebensmittel über das CLAP-Programm. Letzteres unterstützt Berichten zufolge 7,5 Millionen Haushalte, hat aber die Grundnahrungsmittel reduziert, nachdem das US-Finanzministerium Importe ins Visier genommen hatte.
Die belarussische Anwältin erklärte weiter, dass die Sanktionen auch Verhandlungen über den Erwerb von Medikamenten blockiert haben. "Dadurch wurde der Kauf von Blutreagenzien im Jahr 2020 für 2,5 Millionen Patienten und 123.000 andere, die Bluttransfusionen benötigen, verhindert, berichtet das Büro des Ombudsmanns."
Darüber hinaus betrafen die blockierten Käufe 5.859 Menschen, die an Hämophilie und dem Guillain-Barré-Syndrom leiden, und verhinderten 180.000 chirurgische Eingriffe, weil es an Antibiotika, Anästhetika und Tuberkulose-Behandlung fehlte.
Die unzureichende Versorgung mit grundlegenden Medikamenten und deren steigende Preise haben ebenfalls rund 300.000 Menschen gefährdet. Gleichzeitig haben 2,6 Millionen Kinder keinen Impfstoff gegen Meningitis, Rotavirus, Malaria, Masern, Gelbfieber und Grippe erhalten.
Weitere Probleme sind die Zunahme von Teenager-Schwangerschaften und HIV/AIDS-Fällen. Derzeit mussten 80.000 von schätzungsweise 120.000 HIV/AIDS-Patienten ihre Behandlung aus Mangel an Medikamenten unterbrechen, heißt es in dem Bericht.
Darüber hinaus berichteten die Krankenhäuser, dass nur 20 Prozent der Ausrüstung funktioniere, da keine Ersatzteile beschafft werden könnten. Die UN-Expertin dokumentierte zwei konkrete Fälle: Das Kinderherzkrankenhaus führte im Jahr 2020 weniger als 120 Operationen durch (der Standard liegt bei 1800), und das Kinderkrankenhaus J.M. de Los Ríos in Caracas musste Nierentransplantationen für 137 Kinder aussetzen.
Douhan wies auch darauf hin, dass Washington mit der Beschlagnahmung der US-amerikanischen PDVSA-Tochter CITGO das humanitäre Programm des Unternehmens gestoppt hat. Infolgedessen sind 14 Kinder gestorben, nachdem sie in ausländischen Krankenhäusern keine Leber-, Nieren- und Knochenmarktransplantationen erhalten hatten. Weitere 53 warten auf die Wiederaufnahme des Programms der staatlich finanzierten Simón-Bolívar-Stiftung.
Während ihres Besuchs in Venezuela bestätigte Douhan, dass alle öffentlichen Dienste seit der Verhängung der Zwangsmaßnahmen durch die USA nur noch mit halber Kapazität arbeiten.
Laut den in dem Bericht zitierten venezolanischen Regierungsbeamten waren nur 50 Prozent der Wasserversorgungsanlagen in Betrieb, und "das Wasser musste im Rotationsverfahren verteilt werden, um die Versorgung aller zu gewährleisten". Der Einsatz von chemischen Mitteln zur Wasseraufbereitung und -reinigung wurde um 30 Prozent reduziert, was zu gesundheitlichen Problemen führte.
Weiter heißt es im Text, dass Venezuela "nur 40 Prozent des benötigten Stroms produziert und die Stromleitungen mit weniger als 20 Prozent ihrer Kapazität arbeiten". Im Südwesten des Landes konnten "75-80 Prozent des Stroms nicht produziert werden, weil Wärmekraftmaschinen beschädigt waren und repariert werden mussten". Die Situation wurde durch angebliche Cyberangriffe auf das Stromnetz im Jahr 2019 noch verschärft.
Die Sonderberichterstatterin kam zu dem Schluss, dass sich das karibische Land aufgrund des akuten Treibstoffmangels am Rande einer "katastrophalen Situation" befinde.
Douhan warnte, dass die Dieselknappheit "die landwirtschaftliche Produktion, den Transport von Lebensmitteln, die Stromerzeugung, den Betrieb von Wasserpumpen, den öffentlichen Verkehr, den Transit und die Krankentransporte" gefährde.
Gleichzeitig hat die Benzinknappheit zu höheren Transportpreisen geführt, den Zugang zu Krankenhäusern und Schulen blockiert und die Verteilung von Lebensmitteln und medizinischen Hilfsgütern erschwert, insbesondere in den abgelegenen Gebieten des Landes.
Die begrenzten finanziellen Mittel der Regierung für den Kauf und die Instandsetzung der notwendigen Infrastruktur haben zu einer schrumpfenden Internetabdeckung geführt, wobei Berichten zufolge nur 10 Prozent des Landes Internetzugang haben. In der Zeit vor den Sanktionen lag der Anteil bei 50-90 Prozent.
Im Bericht der belarussischen Anwältin wird ebenfalls darauf hingewiesen, dass die höheren Kosten für den Internetzugang und die anhaltende Stromknappheit den Online-Unterricht seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie beeinträchtigt haben. Nach Angaben von Universitätsforschern können schätzungsweise 80 Prozent der Schüler*innen an öffentlichen Schulen diese Hindernisse nicht überwinden.
Eine weitere Folge der Sanktionen war die Aussetzung des Canaima-Programs der Regierung im Jahr 2020, in dessen Rahmen 6,5 Millionen Tablet-Computer für 14 Millionen Schüler produziert und verteilt wurden.
Die Verschärfung der Sanktionen hat zu noch nie dagewesenen Migrationszahlen geführt. Der UN-Sachverständigenbericht, der sich auf eine Vielzahl von Quellen (darunter auch die venezolanische Regierung) beruft, beziffert die Zahl bis Mai 2021 auf 1,2 bis 5,6 Millionen Menschen.
Die beschleunigte Migration führte auch zu einer Abwanderung von Fachkräften, wobei die meisten staatlichen Unternehmen und öffentlichen Dienste 30-50 Prozent ihres Personals verloren, darunter "Ärzt*innen, Krankenpfleger*innen, Lehrer*innen, Universitätsprofessor*innen, Ingenieur*innen, Polizist*innen, Richter*innen, Techniker*innen und viele andere". Dies führte "zu interner Desorganisation, erhöhter Arbeitsbelastung für das verbleibende Personal, reduzierten Dienstleistungen und einer Verschlechterung ihrer Qualität."
Der Besuch von Sonderberichterstatterin Alena Douhan in Venezuela ist der erste von zehn, die in den kommenden zwei Jahren im Rahmen einer 2019 unterzeichneten Vereinbarung zwischen der Regierung von Nicolás Maduro und dem UN-Hochkommissariat für Menschenrechte geplant sind.
Der vollständige Bericht von Douhan ist hier abrufbar.
Foto: Eneas de Troya, Flickr