Environment

Warum Klimagerechtigkeit über Grenzen hinausgehen muss

Die “Lösung” der Elite für die Klimakrise besteht darin, die Vertriebenen zu ausbeutbaren Arbeitsmigrant*innen zu machen. Wir brauchen eine wirklich internationalistische Alternative.
Bereits jetzt werden jährlich 25,3 Millionen Menschen zwangsweise durch Klimakatastrophen vertrieben und es ist absehbar, dass die Klimakrise die Hauptursache für Vertreibung weltweit werden wird. Diejenigen, die am wenigsten für den Klimawandel verantwortlich sind, sind und werden am stärksten betroffen sein und sehen sich auf der Suche nach Zuflucht strengen Sicherheitsregimen und zunehmend militarisierten Grenzen gegenüber. Die größten Verursacher der Klimakrise suchen nach Wegen, um davon zu profitieren, und beuten die Vertriebenen unter dem Deckmantel der Schadensbegrenzung aus. Wenn wir gerechtere und nachhaltigere politisch-ökonomische Systeme aufbauen und verhindern wollen, dass ein System der Öko-Apartheid die Oberhand gewinnt, müssen wir über Grenzen hinausblicken.

"Wir ertrinken nicht, wir kämpfen" ist zum Kampfruf der Pacific Climate Warriors geworden. Von UN-Klimatreffen bis hin zu Blockaden australischer Kohlehäfen schlagen diese jungen indigenen Aktivist*innen aus zwanzig pazifischen Inselstaaten Alarm wegen der globalen Erwärmung für die niedrig liegenden Atoll-Nationen. Sie lehnen dabei das Narrativ der Viktimisierung ab. “Ihr braucht nicht meinen Schmerz oder meine Tränen, um zu wissen, dass wir uns in einer Krise befinden”, wie die Samoanerin Brianna Fruean es ausdrückt. Sie fordern die fossile Brennstoffindustrie und koloniale Giganten wie Australien heraus, die für die höchsten Pro-Kopf-Kohlenstoffemissionen der Welt verantwortlich sind.

Weltweit werden durch Klimakatastrophen jährlich etwa 25,3 Millionen Menschen vertrieben – alle ein bis zwei Sekunden ein Mensch. Im Jahr 2016 überstieg die Zahl der durch Klimakatastrophen verursachten Vertreibungen die Zahl der Vertreibungen aufgrund von Verfolgung im Verhältnis drei zu eins. Bis 2050 werden schätzungsweise 143 Millionen Menschen in bloß drei Regionen vertrieben werden: Afrika, Südasien und Lateinamerika. Einige Prognosen gehen davon aus, dass weltweit bis zu einer Milliarde Menschen durch das Klima vertrieben werden.

Wenn man auf einer Landkarte sieht, wer am stärksten von Vertreibung bedroht ist, werden die Bruchlinien zwischen Arm und Reich, zwischen dem globalen Norden und Süden und zwischen den Weißen und den Schwarzen, indigenen und rassifizierten Menschen deutlich.

Globalisierte Machtungleichheiten verursachen Migration, schränken aber die Mobilität ein. Vertriebene Menschen – die am wenigsten für die globale Erwärmung verantwortlich sind – treffen auf militarisierte Grenzen. Während der Klimawandel selbst von der politischen Elite ignoriert wird, wird die Klimamigration als ein Problem der Grenzsicherheit dargestellt und ist der neueste Vorwand für reiche Staaten, ihre Grenzen zu befestigen. Für 2019 kündigten die australischen Verteidigungskräfte Militärpatrouillen in den australischen Gewässern an, um Klimaflüchtlinge abzufangen.

Das wachsende Gebiet der “Klimasicherheit” stellt militarisierte Grenzen in den Vordergrund und fügt sich perfekt in die Öko-Apartheid ein. “Grenzen sind der größte Verbündete der Umwelt; durch sie werden wir den Planeten retten”, erklärt die Partei der französischen Rechtsextremistin Marine Le Pen. Ein vom US-Pentagon in Auftrag gegebener Bericht über die Auswirkungen des Klimawandels auf die Sicherheit bringt die Feindseligkeit gegenüber Klimaflüchtlingen auf den Punkt: “Die Grenzen werden rund um das Land verstärkt, um unerwünschte, hungernde Einwanderer*innen von den karibischen Inseln (ein besonders schwerwiegendes Problem), Mexiko und Südamerika zurückzuhalten.” Die USA haben jetzt die Operation Vigilant Sentry vor der Küste Floridas gestartet und die Homeland Security Task Force Southeast gegründet, um die Abriegelung von Schiffen und die Abschiebung nach den Katastrophen in der Karibik zu verstärken.

Arbeitsmigration als Klimaschutz

Du hast den Ozean

halbiert, um hier zu sein.

um dann nichts zu treffen, das dich will

Nayyirah Waheed

Parallel zu den zunehmenden Grenzkontrollen wird die befristete Arbeitsmigration zunehmend als Strategie zur Klimaanpassung angepriesen. Im Rahmen der "Nansen-Initiative", einem multilateralen, staatlich geführten Projekt zur Bekämpfung der klimabedingten Vertreibung, hat die australische Regierung ihr Programm für befristete Saisonarbeitskräfte als Hauptlösung für den Aufbau der Klimaresilienz in der Pazifikregion vorgestellt. Die australische Erklärung zur Globalen Zwischenstaatlichen Konsultation der Nansen-Initiative wurde in der Tat nicht von der Umweltministerin, sondern vom Ministerium für Einwanderung und Grenzschutz abgegeben.

Ab April 2022 wird das neue Programm Pacific Australia Labour Mobility australischen Unternehmen die vorübergehende Beschäftigung von Niedriglohnarbeitende (im Programm als "geringqualifizierte" und "ungelernte" Arbeitskräfte bezeichnet) aus kleinen pazifischen Inselstaaten wie Nauru, Papua-Neuguinea, Kiribati, Samoa, Tonga und Tuvalu erleichtern. Es ist kein Zufall, dass die Ökologie und die Wirtschaft vieler dieser Länder bereits seit über hundert Jahren durch den australischen Kolonialismus verwüstet wurde.

Es ist keine Überraschung, dass Australien die vertriebenen Klimaflüchtlinge in ein Auffangbecken für befristete Arbeitsmigration führt. Angesichts der zunehmenden unkontrollierten und irregulären Migration, einschließlich der Klimamigration, sind befristete Arbeitsmigrationsprogramme zur weltweiten Blaupause für "gut gesteuerte Migration" geworden. Die Eliten präsentieren die Arbeitsmigration als doppelten Gewinn, da Länder mit hohem Einkommen ihren Bedarf an Arbeitskräften decken, ohne Arbeitsplatzsicherheit oder Staatsbürgerschaft zu bieten, während Länder mit niedrigem Einkommen die strukturelle Verarmung durch die Überweisungen der Migrant*innen lindern.

Gefährliche Niedriglohnjobs wie Landwirtschafts-, Hauswirtschafts- und Dienstleistungsarbeiten, die nicht ausgelagert werden können, werden nun fast vollständig auf diese Weise vergeben. Insourcing und Outsourcing sind zwei Seiten derselben neoliberalen Medaille: bewusste Verringerung von der Macht der Beschäftigten und deren politischer Macht. Nicht zu verwechseln mit freier Mobilität, stellt die temporäre Arbeitsmigration einen extremen neoliberalen Ansatz des Quartetts aus Außen-, Klima-, Einwanderungs- und Arbeitspolitik dar, die alle darauf ausgerichtet sind, die Netzwerke der Kapitalakkumulation durch die Schaffung und Disziplinierung von “Überschuss”-Bevölkerungen zu erweitern.

Die Internationale Arbeitsorganisation erkennt an, dass temporäre Arbeitsmigrant*innen mit Zwangsarbeit, niedrigen Löhnen, schlechten Arbeitsbedingungen, praktisch fehlendem Sozialschutz, Verweigerung von Vereinigungsfreiheit und Gewerkschaftsrechten, Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit sowie sozialer Ausgrenzung konfrontiert sind. Im Rahmen dieser staatlich sanktionierten Zwangsarbeitsprogramme sind die Arbeitnehmer*innen gesetzlich an einen Arbeitgeber gebunden und können abgeschoben werden. Zeitlich befristete Arbeitsmigrant*innen werden durch die Androhung von Kündigung und Abschiebung gefügig gehalten, was den entscheidenden Zusammenhang zwischen Einwanderungsstatus und prekärer Arbeit verdeutlicht.

Durch befristete Arbeitsmigrationsprogramme wird die Arbeitskraft der Arbeitnehmer*innen zunächst von der Grenze eingefangen, und diese gefügige Arbeitskraft wird dann vom Arbeitgeber ausgebeutet. Die Verweigerung eines dauerhaften Einwanderungsstatus für Arbeitsmigrant*innen sorgt für einen ständigen Nachschub an billigeren Arbeitskräften. Grenzen sollen nicht alle Menschen ausschließen, sondern Bedingungen der “Abschiebbarkeit” schaffen, die die soziale und arbeitsrechtliche Prekarität erhöhen. Diese Arbeitnehmer*innen werden als “ausländische” Arbeitnehmer*innen abgestempelt, was rassistische Fremdenfeindlichkeit gegen sie fördert, auch durch andere Arbeitnehmer*innen. Während Arbeitsmigrant*innen zeitlich begrenzt sind, wird die zeitlich begrenzte Migration zum dauerhaften neoliberalen, staatlich gelenkten Modell der Migration.

Entschädigungen sind grenzenlos

"Es ist unmoralisch, wenn die Reichen über ihre zukünftigen Kinder und Enkelkinder sprechen, während die Kinder des globalen Südens jetzt sterben." – Asad Rehman

Die Diskussionen über den Aufbau gerechterer und nachhaltigerer politisch-ökonomischer Systeme haben sich um einen Green New Deal gruppiert. Die meisten öffentlichen politischen Vorschläge für einen Green New Deal in den USA, Kanada, Großbritannien und der EU artikulieren die Notwendigkeit, gleichzeitig wirtschaftliche Ungleichheit, soziale Ungerechtigkeit und die Klimakrise zu bekämpfen, indem wir unser extraktives und ausbeuterisches System in eine kohlenstoffarme, feministische, von Arbeiter*innen und Gemeinschaften kontrollierte Versorgungsgesellschaft umwandeln. Während ein Green New Deal die Klimakrise und die Krise des Kapitalismus notwendigerweise als zusammenhängend begreift — und nicht als eine Dichotomie von "Umwelt versus Wirtschaft" — , liegt einer seiner Hauptmängel in seiner begrenzten Reichweite. Wie Harpreet Kaur Paul and Dalia Gebrial schreiben: “Der Green New Deal ist weitgehend in nationalen Vorstellungen gefangen.”

Jeder Green New Deal, der nicht internationalistisch ist, läuft Gefahr, die Klima-Apartheid und die imperialistische Dominierung in unserer sich erwärmenden Welt fortzusetzen. Die reichen Länder müssen die globalen und ungleichen Ausmaße der Klimaschulden, der unfairen Handels- und Wirtschaftsabkommen, der militärischen Unterwerfung, der Impfstoff-Apartheid, der Arbeitsausbeutung, und der Grenzsicherung beseitigen.

Es ist unmöglich, über Grenzen außerhalb des modernen Nationalstaates und seiner Verstrickungen mit Imperium, Kapitalismus, Rasse, Kaste, Geschlecht, Sexualität und Fähigkeiten nachzudenken. Grenzen sind nicht einmal feste Linien, die ein Gebiet abgrenzen. Grenzregime werden zunehmend mit Drohnenüberwachung, dem Abfangen von Migrant*innenenbooten und Sicherheitskontrollen weit über die territorialen Grenzen von Staaten hinaus überlagert. Von Australien, das die Inhaftierung von Migrant*innen nach Ozeanien verlagert, bis hin zur Festung Europa, die Überwachung und Abriegelung in die Sahelzone und den Nahen Osten auslagert, bestimmen wechselnde Kartografien unsere koloniale Gegenwart.

Am anstößigsten ist vielleicht, dass sich die Kolonialländer in ihrer Panik über “Grenzkrisen” selbst als Opfer darstellen. Aber der Völkermord, die Vertreibung und die Bewegung von Millionen von Menschen wurden durch den Kolonialismus drei Jahrhunderte lang ungleich strukturiert, mit europäischen Siedlern in Amerika und Ozeanien, dem transatlantischen Sklavenhandel aus Afrika und importierten Arbeitsmigrant*innen aus Asien. Imperium, Versklavung und Zwangsarbeit sind auch heute noch die Grundlage der globalen Apartheid, die bestimmt, wer wo und unter welchen Bedingungen leben darf. Grenzen sind so gestaltet, dass sie diese Apartheid aufrechterhalten.

Die Freiheit zu bleiben und die Freiheit, sich zu bewegen, d. h. keine Grenzen, ist eine längst fällige dekoloniale Wiedergutmachung und Umverteilung.

Harsha Walia (@HarshaWalia auf Twitter) ist die preisgekrönte Autorin von “Border and Rule: Global Migration, Capitalism, and the Rise of Racist Nationalism” (Haymarket, 2021), und “Undoing Border Imperialism” (AK Press, 2013). Sie ist eine Community-Organisatorin und Aktivistin in den Bereichen Migrantinnenengerechtigkeit, sowie antikapitalistischen, feministischen und antikolonialen Bewegungen.*

Foto: Asian Development Bank / Flickr

Available in
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Author
Harsha Walia
Translator
Nicole Millow
Date
17.03.2022
Source
Original article🔗
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