Long Reads

Dieses Land ist unser Land

Die brasilianische Bewegung landloser Landarbeiter*innen ist aus der rechtsgerichteten Staatsherrschaft stärker denn je hervorgegangen.
Die MST (Bewegung landloser Landarbeiter*innen), Brasiliens größte soziale Bewegung, kämpft für die Umverteilung von Land, indem sie ungenutztes Ackerland, auf verfassungsmäßige Rechte gestützt, besetzt. Ihre ikonische rote Schirmmütze wurde während der Präsidentschaft Bolsonaros zu einem Symbol des Widerstands. Heute bewegt sich die MST in einem politischen Spannungsfeld, indem sie sich für eine Landreform  einsetzt und gleichzeitig dem Druck der Agrarindustrie und konservativer Kräfte widersteht.

Wer in den Jahren 2021 oder 2022 ein angesagtes Restaurant in São Paulo besucht hat, bekam wahrscheinlich die rote Mütze zu Gesicht. Auch wer zur Mamba Negra, dem Underground-Rave mit aus Berlin angereisten Gast-DJs, oder zu genügend Kunstgalerie-Vernissagen ging – kurz gesagt, wer sich in der progressiven kulturellen Elite des Landes bewegte – sah dort bestimmt die rote Kappe.

Bei der fraglichen Mütze handelt es sich um eine scharlachrote Baseballkappe, auf der ein Mann und eine Frau abgebildet sind, die aus einer grünen Landkarte Brasiliens auftauchen. Der Mann hebt eine Machete hoch über den Kopf – bereit für die Ernte oder eben für den Kampf. Dieses Logo der brasilianischen Bewegung landloser Landarbeiter*innen (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra - MST) wurde kurz nach ihrer Gründung im Jahr 1984 eingeführt.

Die MST drängt auf eine Landumverteilung, indem sie Grundstücke besetzt, die von traditionellen Eliten oder aufstrebenden Agrarkapitalist*innen kontrolliert werden. Die Gruppe stützt sich dabei auf einen Artikel in der brasilianischen Verfassung, der vorschreibt, dass Land eine „soziale Funktion“ erfüllen muss. Wenn ihre Mitglieder der Meinung sind, dass Land unproduktiv sei oder zweckentfremdet wurde, schlagen sie ihre Lager auf und kämpfen für die rechtliche Anerkennung ihrer Siedlungen. Im Laufe von vier Jahrzehnten hat sich die MST zur größten sozialen Bewegung in Lateinamerika und vielleicht sogar in der Welt entwickelt. Ihr gehören landesweit bis zu zwei Millionen Menschen an, und sie ist stets im linksradikalen Flügel der brasilianischen Politik präsent.

Während der Präsidentschaft von Jair Bolsonaro von 2019 bis 2023 wuchs die Popularität der roten Kappe. Fast alle Mitglieder der MST stammen aus armen Gemeinschaften am Rande der Gesellschaft, und fast alle ihre Aktivitäten finden auf dem Land statt – und doch trug die hippe Stadtjugend in den Innenstädten ihre Aufmachung. „Nee, Schwester“, schrieb eine Person in einem Tweet. „Diese Mütze wird zu einem Accessoire, das man in den Clubs trägt.“ Die Kommunikationsabteilung der MST reagierte auf den viralen Beitrag mit einer Pressemitteilung: „Die Landreform erfordert die Unterstützung der gesamten Gesellschaft“. Die MST war stolz darauf, dass Menschen ihre Symbole trugen. „Aber vergesst nicht!“, hieß es weiter. „Wir sind auch dazu verpflichtet, den Kampf des Volkes zu unterstützen.“

Die Verbreitung der roten Mütze war in Tat und Wahrheit das Ergebnis eines sorgfältig ausgearbeiteten Plans, um in einer für die brasilianische Linke gefährlichen Zeit Verbindungen zwischen der MST und breiteren gesellschaftlichen Kräften herzustellen. Bolsonaros Regierung beaufsichtigte die zügellose Zerstörung des Regenwaldes, förderte den Waffenbesitz im Land und war ausdrücklich feindselig gegenüber der MST. (Bolsonaros Umweltminister veröffentlichte ein Flugblatt, in dem er vorschlug, dass eine Packung Kugeln die Lösung sowohl für die Wildschweine als auch für die Bewegung landloser Landarbeiter*innen sei). Während seiner Präsidentschaft beschloss die MST, ihre Landbesetzungen zu verlangsamen, um ihre Mitglieder zu schützen. Gleichzeitig schloss sie ein taktisches Bündnis mit fortschrittlichen Elementen der städtischen Bourgeoisie und nutzte ihre bestehenden Lager, um zu einem bedeutenden Produzenten von Bio-Lebensmitteln zu werden. Die Strategie ging auf: Durch den Verkauf radikaler Kleidung an die Reichen und ihre Hilfe bei der Ernährung der Armen gewann die MST in den Städten an Zuspruch.

Es gibt vermutlich keine Organisation, die bei Linken in aller Welt einen besseren Ruf genießt als die MST. Ihre Anhänger*innen werden Ihnen sagen, dass die Gruppe Erfolge erzielt hat, die anderen progressiven Bewegungen verwehrt geblieben sind. Sie verfolgt nämlich einen radikalen Ansatz: Langfristig strebt sie eine Revolution an, kurzfristig jedoch verschafft sie brasilianischen Arbeiter*innen Wohnraum und Einkommen. Sie hat sich ohne größere Verschiebungen an veränderte Bedingungen angepasst und setzte sich vehement dafür ein, dass Luiz Inácio Lula da Silva, Brasiliens ehemaliger und aktueller Präsident, 2019 aus dem Gefängnis entlassen wurde und wieder an die Macht kam. „Wir haben uns von der MST als politische und soziale Bewegung stark inspirieren lassen“, sagte mir Enzo Camacho von ALPAS Pilipinas, einer Gruppe, die sich um die Organisation der philippinischen Diaspora in Berlin bemüht. Belén Díaz, Soziologin und Mitglied des linksfeministischen Kollektivs Bloque Latinoamericano, drückt es noch deutlicher aus: „Die Bewegung der landlosen Landarbeiter*innen ist die angesehenste soziale Bewegung der Welt.“

Im Oktober 2022 gewann die Arbeiterpartei die Schlüssel zum Präsidentenpalast zurück, und trotz eines dem US-Kapitolsturm vom 6. Januar vergleichbaren Putschversuchs von Bolsonaro und seinen Anhänger*innen, zog Lula im folgenden Jahr wieder ein. Mit gesicherter Demokratie und den Reaktionären aus der Exekutive nahm die MST eine offensivere Haltung ein: Sie begann, sich weitere ungenutzte Flächen anzueignen und erneut illegale Farmen zu besetzen. Die Rückkehr der Bewegung zu ihrer Form aus der Zeit vor Bolsonaro schien die Regierung von Präsident Lula zu überraschen und erregte im breiten Publikum große Aufmerksamkeit. Im Jahr 2023 lautete eine Schlagzeile der New York Times: „Wenn Sie Ihr Land nicht nutzen, könnten diese Marxisten es Ihnen wegnehmen.“

Obwohl Bolsonaro 2022 eine Niederlage erlitt, gewann seine Partido Liberal die meisten Sitze im Kongress. Lula muss mit den rechten Kräften zusammenarbeiten, die von reichen Landbesitzer*innen und gierigen Agrarkonzernen finanziert werden, damit seine Regierung nicht ein Amtsenthebungsverfahren oder einen Missbrauch des Rechtssystems riskiert – wie bei den Kreuzzügen, die 2016 die frühere linksgerichtete Präsidentin Dilma Rousseff zu Fall und Lula 2018 sogar hinter Gitter brachten. Zudem hat die Bolsonarista-Bewegung weiterhin ihre Macht innerhalb der offiziellen Institutionen und vor Ort genutzt, um die MST anzugreifen. Um für ihre Mitglieder in einem Land von kontinentaler Ausdehnung etwas zu erreichen, muss sich die MST geschickt zwischen diesen mächtigen, widersprüchlichen Kräften einweben. Einerseits wird sie als Vorbild für linke Organisationen in aller Welt herangezogen. Andererseits bleiben die Kräfte der Reaktion im Land selbst darauf bedacht, sie zu vernichten.

Im Jahr 2023, dem ersten Jahr von Lulas aktueller Präsidentschaft, besuchte ich die vierte Nationale Landreformmesse der MST in São Paulo, auf der sowohl die Mitglieder als auch die Produkte der MST vorgestellt wurden. Es war die Feier einer Organisation, die bemerkenswerterweise noch stärker aus den Bolsonaro-Jahren hervorgegangen zu sein schien, als sie je zuvor gewesen war. Gilmar Mauro, ein langjähriges Mitglied der nationalen Leitung, forderte die versammelten Presse auf, sich an die Rückkehr der MST an Protestaktionen zu gewöhnen. „Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass es eine gute und eine schlechte MST gebe oder dass die MST von gestern nicht die MST von heute sei“, sagte Mauro. „Wenn Sie unsere Lebensmittel mögen, wenn Sie unseren Bio-Reis und unsere Butter und unseren Einsatz für die Hungernden in den Städten mögen, dann müssen Sie verstehen, dass alles, was wir haben, durch die Besetzung entstanden ist.“

Mauro und ich trafen uns später in den Räumlichkeiten des Nationalen Sekretariats in São Paulo, gleich neben dem Laden, in dem die MST stapelweise ihre roten Mützen verkauft. Wir saßen an einem großen Holztisch, umgeben von einer kleinen Bibliothek mit Büchern auf Portugiesisch, Spanisch und Englisch. Nicht nur Mauros dunkelrote Bräune, die an den Ärmeln eines verblichenen blauen Knopfhemdes endet, verriet ihn als Landwirt. Auch die Art, wie er sprach, mit dem abgerundeten Tonfall, der im landwirtschaftlichen Landesinneren Brasiliens üblich ist, zeugte davon. Er stammt aus einer Familie landloser Bauern und hat sich über Jahrzehnte hinweg in der Bewegung zu einer ihrer öffentlichen Führungspersönlichkeiten entwickelt. Akademiker*innen in den Vereinigten Staaten oder Europa, die viel Antonio Gramsci lesen, könnten Mauro als „organischen Intellektuellen“ bezeichnen, als jemanden aus der sozialen Klasse, deren Interessen er verteidigt. Mitglieder der MST könnten ihn ebenfalls so nennen, weil sie in ihren politischen Bildungsprogrammen auch viel Gramsci lesen.

Genaue Zahlen sind schwer zu ermitteln, aber es gibt Hunderttausende von Familien, die dem MST angehören. Einige leben auf legalisierten Farmen (assentamentos, oder Siedlungen) oder auf besetztem Land (acampamentos, oder Lagern), das auf die Anerkennung durch die Landreformbehörden wartet, und andere wiederum sind hauptberuflich militantes (Aktivist*innen oder Militante, je nach Vorliebe). Verteilt über ein Land, das doppelt so groß ist wie die Europäische Union, arbeiten sie ihre Entscheidungen in Gruppenchats und bei regelmäßigen Treffen aus, die lange Busfahrten erforderlich machen. Mauro führt die Widerstandsfähigkeit der Bewegung auf ihre Organisationsstruktur zurück. Eine bestimmte "politische Linie" wird auf demokratische Weise festgelegt, und sobald eine Entscheidung getroffen ist, wird sie von allen übernommen, auch von denen, die die Idee nie gut fanden. In Anlehnung an die marxistische Theoretikerin Rosa Luxemburg erklärte Mauro: „Es ist viel besser für uns alle, gemeinsam zu diskutieren, zu planen und einen Fehler zu machen, als dass jeder von uns als Einzelner das Richtige tut.“

Die Sonne ging schon fast unter, aber Mauro trank eine beängstigende Menge schwarzen Kaffees, während wir redeten. An der Wand zu seiner Linken hing ein Bild des mexikanischen Revolutionärs Emiliano Zapata, und rechts davon ein Foto der MST, die 2018 gegen Lulas Inhaftierung demonstrierte. Draußen hing ein großes Foto des indigenen Menschenrechtsverteidigers Bruno Pereira und meines Freundes Dom Phillips, eines britischen Journalisten, an einer Wand. Sie wurden 2022 ermordet, als sie gemeinsam im Amazonasgebiet arbeiteten – als Vergeltung für Pereiras Einsatz zum Schutz der Stämme vor illegalen Landinvasionen. Es ist die Art von Gewalt, die der MST auch stark zusetzt.

Jocelda Ivone de Oliveira, 42, tut ihr Bestes, um mit den nationalen und geopolitischen Entwicklungen Schritt zu halten. Sie lebt im Bundesstaat Paraná, in einem der Lager der Bewegung, und verfolgt die MST-Debatten auf ihrem Handy. Manchmal fährt sie zu einem Treffen in die Staatshauptstadt Curitiba. Die meiste Zeit verrichtet sie jedoch alltägliche Arbeiten zu Hause, tief im landwirtschaftlichen Kernland Brasiliens. De Oliveira leitet die Koordination ihres Lagers, wo mehr als 1.000 Menschen zusammenleben und das Land bewirtschaften.

Von der nächstgelegenen Stadt aus brauchte ich ein paar Stunden, um zu diesem Ort zu gelangen. Dabei schlitterte ich auf den roten Landstraßen zwischen hohen Eukalyptusbäumen hin und her. Aber der Horizont öffnete sich, nachdem ich in das Lager einfuhr und mich hinunter zu einem kleinen Dorf begab, wo sich ein paar Dutzend kleine Bauten um eine Kreuzung gruppierten. Die Einheimischen führten mich in die grüne Hütte, die sie für Besucher*innen gebaut hatten – ich würde dort zusammen mit einigen Lehrern übernachten –, und dann kam de Oliveira, um mich zur Schule zu bringen.

„Jeden Tag wache ich auf, mache Frühstück, kümmere mich um meine Familie und wir versorgen das Lager“, erzählte sie mir. „Aber jeden Tag mach ich mir Sorgen, dass wir von diesem Land vertrieben werden, dass die Regierung uns hinauswirft und wir wieder einmal nicht wissen, wie es mit unserer Zukunft weitergehen soll.“

De Oliveira und ich gingen einen Hügel hinauf zum Schulhaus des Lagers; es ist jetzt Teil des nationalen öffentlichen Bildungssystems, was dem Schulhaus Zugang zu staatlichen Ressourcen verschafft. An diesem Tag waren Regierungsbeamt*innen aus dem örtlichen Schulbezirk zu Besuch, und militantes, die im Bildungssektor der MST arbeiteten, servierten ihnen Kuchen und süßen Kaffee, während sie die neuen PCs im Computerraum inspizierten. Die Straße hinunter war der kleine Laden Mercado Che Guevara mit einem Gemälde des argentinischen Revolutionärs im Begriff zu schließen, und die Bar gegenüber würde bald öffnen. In beiden konnte man entweder lokal produzierte Lebensmittel oder Massenprodukte aus der Stadt kaufen.

Die Lager haben eine komplexe Organisationsstruktur. Im Idealfall werden Aufgaben je nach Fähigkeiten zugewiesen. Der Disziplinarsektor setzt die Regeln durch. Häusliche Gewalt und Kindesmissbrauch führen beispielsweise automatisch zum Ausschluss. Der Konsum von Drogen ist verboten, vor allem, um die Lager vor Vorwürfen des Drogenhandels oder krimineller Aktivitäten zu schützen. Die MST fordert mindestens 50 Prozent Frauen in ihrer nationalen Leitung, aber in den Lagern ist der Prozentsatz oft höher.

Die MST verteilt auch politische Aufgaben. Lula wurde ins Gefängnis von Curitiba gesteckt, und während seiner 580 Tage hinter Gittern schickte die MST Mitglieder, um vor dem Gefängnis zu demonstrieren und seine Freilassung zu fordern. (Im Jahr 2021 wies der Oberste Gerichtshof die Korruptionsvorwürfe gegen ihn zurück.) Während der Mahnwache organisierte die MST vor Ort ein ideologisches Training, und Psychiater*innen boten den Aktivist*innen und Familien, die dort campierten, kostenlose Therapie an.

Viele MST-Mitglieder reißen sich darum, in die Stadt zu fahren, um an Aktivitäten der Bewegung teilzunehmen. Andere, die an das ruhige Leben gewöhnt sind, sind etwas zurückhaltender. Aber das Lager ist kollektiv strukturiert, und manche Aufgaben sind nicht optional. „Eigentlich muss niemand irgendetwas machen“, scherzte Roberto Soares, ein Geografielehrer an der Mittelschule, während seine Schüler nach der Schule ein kostenloses Abendessen mit Hühnchen und Polenta verputzten. „Genauso wie niemand verpflichtet ist, als Teil der MST in einem Lager zu leben.“

Obwohl die Gruppe schon lange hier ist und enge Verbindungen zur lokalen Gemeinschaft aufgebaut hat, hat de Oliveira Grund zur Sorge. Paraná ist ein wichtiger Außenposten des Bolsonarismo. Das liegt nicht nur daran, dass die private Agrarindustrie hier stark ist und dass die Wähler konservativ sind. Paraná war das Zentrum des von den USA unterstützten und inzwischen diskreditierten Antikorruptionskreuzzugs, bei dem die Arbeiterpartei jahrelang verfolgt wurde. Der Richter, der Lula ins Gefängnis schickte und von dem der Oberste Gerichtshof urteilte, dass er nicht unparteiisch gehandelt habe, trat 2019 sofort in Bolsonaros Regierung ein. Jetzt ist er Senator und vertritt seinen Bundesstaat. Um hier zu überleben, muss man einen fein abgestimmten, vorsichtigen Tanz um die reaktionären Kräfte aufführen. „Was wollte Bolsonaro?“, fragte de Oliveira, als wir eines Abends in der Nähe ihres Hauses zusammensaßen. „Er wollte eine Provokation, damit er das als Rechtfertigung benutzen konnte, um uns zu massakrieren. Wir konnten ihn in einer direkten Konfrontation unmöglich schlagen. Also haben wir das Gegenteil getan und uns auf das konzentriert, was wir am besten können: Lebensmittel produzieren.“

Diese Strategie erwies sich während der Pandemie als entscheidend, als trotz des Agrarbooms, der nun einen Großteil des BIP des Landes ausmacht, Tausende von Brasilianer*innen zu hungern begannen. Daraufhin lieferte die MST 7.000 Tonnen Lebensmittel zur Verteilung in den Städten. In diesem Lager baut jede Familie Subsistenzkulturen an, z. B. Maniok, Kürbis, Reis und Bohnen, sowie eine große Auswahl an Früchten und etwas Vieh. Doch sie bewirtschaften auch ein Stück Land für den Anbau von Cash Crops, also gewerbliche Erzeugnisse. Mit diesem Einkommen kaufen sie Traktoren, Autos, Handyabos und coole Sonnenbrillen.

Miriam Barino, eine sanftmütige Frau mittleren Alters, beaufsichtigt die Subsistenzlandwirtschaft des Lagers. Sie hat Kinder, die in der Stadt arbeiten, und ihre Nachbarin Marilda Silva Pereira hat eine Tochter, die als Chemikerin in Deutschland arbeitet. „Ich war früher Landpächterin, aber jetzt muss ich keine Miete mehr an die Grundbesitzer zahlen“, erzählte mir Barino, während zwei Bewohner*innen neben ihr in der tiefstehenden Wintersonne den Boden bearbeiteten. Sie beaufsichtigt eine komplizierte Anordnung von Parzellen, die mit Tinte auf einem verwitterten Blatt Papier, das sie mir in ihrer Küche gezeigt hat, eingezeichnet sind. „So wie wir es sehen, wurden die meisten Menschen, die in den Favelas in den Städten leben, von ihrem Land vertrieben, als die Großbauern sie durch Maschinen ersetzten“, erklärte sie mir. „Ihr Platz ist hier.“

Manchmal verwandeln sich die Besetzungen der MST schnell in Siedlungen, manchmal dauern sie Jahrzehnte und manchmal werden sie als illegal eingestuft oder gewaltsam aufgelöst. Dieser Fall in Paraná hat gute Aussichten, wenn die Landreformbehörden eine angemessene staatliche Zahlung an die Landbesitzer aushandeln können. Doch auch wenn die MST schon vor 20 Jahren auf dieses Grundstück gezogen ist, bleiben de Oliveira, Barino und die anderen Besetzer*innen und sind keine dauerhaften Bewohner*innen. An der einzigen Einfahrt von der nächstgelegenen Schnellstraße steht eine Gruppe Wache. Am Tag, an dem ich im Lager ankam, musste ich mich ausweisen, um an den fünf oder sechs Leuten vorbeizukommen, die dort saßen und die Absperrung bewachten. Ihre große rote Flagge mit dem gleichen Logo wie dem auf der Mütze wehte über uns.

Die MST hat ihren Ursprung in zwei verschiedenen Bewegungen der brasilianischen Geschichte. Die Ligas Camponesas – oder Bauernligen, die von der Kommunistischen Partei Brasiliens in den 1950er Jahren organisiert wurden – sind ihr offensichtlichster Vorläufer. Nach dem von den USA unterstützten Putsch von 1964 zerschlug die Militärdiktatur die Ligen, die sich aus Pächter*innen und anderen landlosen Arbeiter*innen zusammensetzten. Die Bewegung führt ihre Geschichte auch auf Teile der katholischen Kirche zurück, die von der Befreiungstheologie inspiriert wurden. Viele ihrer ältesten Mitglieder haben eine Verbindung zur Comissão Pastoral da Terra, die als ländliche Kirchengruppe während der Diktatur gegründet wurde. (Diese duale Abstammung, sowohl von Priestern als auch von Marxisten, ist in Brasilien nicht ungewöhnlich: Progressive katholische Fraktionen und ehemalige Guerillakämpfer*innen bildeten die frühen Reihen von Lulas Arbeiterpartei.)

Aber in ihren Büchern und ihren Kaderbildungsprogrammen ordnet sich die MST in eine viel längere Geschichte ein, die bis ins antike Rom zurückreicht und sich durch den europäischen Feudalismus windet. Sie betrachtet die Landkämpfe in Brasilien als grundlegend: Das Land entstand als Kolonie, die landwirtschaftliche Produkte exportierte, wobei das Land im Rahmen des portugiesischen Systems an Aristokraten vergeben und von Indigenen und versklavten Menschen bewirtschaftet wurde. Hunderte Jahre später ist dieses System nach Ansicht der MST weitgehend intakt geblieben – mit der Ausnahme, dass viele Nachkommen dieser Arbeiter*innen vom Land vertrieben und in die Armut sowie die Gefahren des Stadtlebens gedrängt wurden.

In dieser Schilderung gibt es eine Reihe von verpassten Gelegenheiten. Nach der Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1888 gewährte die Monarchie den Menschen, die auf den Farmen gearbeitet hatten, keine Entschädigung, und das Land führte nie eine Landreform durch. Die MST verweist auf die Landverteilungsprogramme unter Präsident Abraham Lincoln als einen der Gründe, warum die USA gegenüber Lateinamerika einen Vorsprung hatten – mit einigen wichtigen Vorbehalten, darunter die Vernachlässigung ehemals versklavter Gemeinschaften und die Vernichtung indigener Völker durch die USA (die Bewegung verteidigt vehement die Anerkennung brasilianischer Stammesgebiete). Im 20. Jahrhundert erwies sich die brasilianische Bourgeoisie dann als zu schwach, um wirksam auf eine Landreform zu drängen, die im Land die Industrialisierung vorangetrieben hätte. Brasiliens natürliche Ressourcen blieben in den Händen einer kleinen, habgierigen Elite, die nicht nur rücksichtslos ausbeuterisch, sondern auch geradezu idiotisch ineffizient vorging.

Infolgedessen geriet Brasilien in die Unterentwicklung. In der MST-Literatur wird betont, dass es gerade der Vorstoß des linksgerichteten Präsidenten João „Jango“ Goulart für eine Landreform gewesen war, der die Reichen dazu brachte, sich hinter dem von den USA unterstützten Putsch von 1964 zu vereinen. Die darauffolgende Militärregierung entwarf zwar einen Plan zur Verteilung kleiner Grundstücke an brasilianische Familien, aber dieser wurde von mächtigen Grundbesitzern blockiert.

Seit den frühen 1980er Jahren, als sich das Land in Richtung Demokratie bewegte, begannen landlose Arbeiter*innen, vor allem im Süden, für die Vergabe von Grundstücken zu kämpfen. Ihre Methode war die Besetzung, und sie schlossen sich im Januar 1984 zur MST zusammen. 1988 wurde in der neuen Verfassung festgelegt, dass Land unter den richtigen Bedingungen an Familien übergeben werden kann. Ein Großteil der Rechtmäßigkeit und Legitimität der Aktivitäten der MST hängt vom Wortlaut des Artikels 186 ab, in dem die Mindestanforderungen für private Landbesitzer festgelegt sind: Sie müssen das Land „vernünftig und angemessen nutzen“ und „die natürliche Umwelt schützen“, während sie alle agrarrechtlichen und arbeitsrechtlichen Vorschriften einhalten. Und der Staat muss sie entschädigen, wenn ihnen ihr Besitz weggenommen wird. Doch wie schon beim Schutz des Amazonas und der indigenen Völker gerieten auch diese Versprechen in Konflikt mit privater wirtschaftlicher Macht. Ohne zusätzlichen Druck schienen die Beamt*innen des Nationalen Instituts für Landreform nie etwas zu unternehmen. Für die MST lautete die Lösung: Besetzung.

Während der ersten beiden Amtszeiten Lulas, von 2003 bis 2010, erlebte die Wirtschaft einen Aufschwung, der zum Teil den Rohstoffexporten nach China zu verdanken war, und verlangsamte sich dann, als die Preise fielen und das Land zwischen 2015 und 2018 von politischen Krisen erschüttert wurde: Dilma Rousseff wurde durch den nicht gewählten wirtschaftsfreundlichen Präsidenten Michel Temer ersetzt, Lula wurde inhaftiert und als Bolsonaro 2018 kandidierte, waren die guten Zeiten für die Brasilianer*innen der unteren Mittelschicht längst vorbei. Mit Bolsonaros Wahlsieg gewannen die wohlhabenden Großgrundbesitzer*innen einen lautstarken Unterstützer im Präsidentenpalast. João Pedro Stédile, lange Zeit der prominenteste Intellektuelle der MST, war überrascht, wie wenige Menschen – außer der MST – die Arbeiterpartei verteidigten, als Lula inhaftiert wurde. „Es fehlte an Unterstützung in der Bevölkerung“, sagte mir Stédile, „denn die Arbeiter waren als Klasse bereits besiegt.“

Paulo Teixeira, der unter Lula das Amt des Ministers für landwirtschaftliche Entwicklung innehat, wurde beauftragt, sowohl den Druck von links als auch die Angriffe von rechts zu bewältigen. „Diese Regierung hört auf die sozialen Bewegungen, und wir filtern“, sagte mir Teixeira eines späten Abends, als er sich auf ein Treffen mit den Landreformbehörden in der Hauptstadt vorbereitete. Er ist der Meinung, dass die Besetzungen der MST eine legitime Form des Drucks sind, aber er hält sie auch nicht länger für notwendig, da sein Ministerium die Landreform vorantreibt  – und sich auf die Verteilung von öffentlichem Land und dem Land von Eigentümer*innen konzentriert, die beim Staat verschuldet sind.

Im Jahr 2023 gab es mindestens drei Fälle, in denen die MST zu weit gegangen sei, sagte Teixeira, darunter die Besetzung von Grundstücken, die einem Papier- und Zelluloseunternehmen sowie einem staatlichen Agrarforschungsunternehmen gehören. Wenn die Bewegung Land besetzt, das, wie sich herausstellt, legal genutzt wird, dann werden die Gerichte die Siedlung nicht anerkennen und die Auflösung des Lagers anordnen. Manchmal wird das falsche Ziel gewählt, und die MST zieht weiter. Aber die Besetzungen eines produktiven Unternehmens und staatlicher Einrichtungen waren eher ein bewusster „Protest“, erklärte Teixeira, obwohl er sich wünschte, die MST hätte ihren Standpunkt auf andere Weise zum Ausdruck bringen können. „Alles, was bisher getan wurde, die gesamte Landreform, die umgesetzt wurde, fand im Rahmen der bestehenden Gesetzgebung und der Verfassung statt.“

Nach Lulas ersten beiden Amtszeiten als Präsident, als die Popularität der Arbeiterpartei zu schwinden begann, waren einige Aktivist*innen (und Mitglieder) der Meinung, dass die MST der Regierung zu nahe gekommen war, und verließen die Gruppe öffentlich. In den düsteren Jahren des Rechtsextremismus lernten jedoch viele die Struktur, den Pragmatismus und die institutionellen Verbindungen der MST zu schätzen. Jetzt, da Lula zurück ist, beklagen sich die MST-Führer*innen, dass wohlmeinende Linke (einschließlich derer in der Regierung) ihnen sagen, dass Besetzungen nicht mehr notwendig seien, oder dass der intensive Fokus der Gruppe auf eine radikale Landreform in einem urbanisierenden Land weniger relevant sei, oder dass sie einen Weg finden müsse, mit den großen Agrarkonzernen zu koexistieren, anstatt zu versuchen, sie zu ersetzen.

Die MST ist natürlich anderer Meinung. Ihr Sektor Frente de Massas (Massenfront) betreibt ständige Öffentlichkeitsarbeit, um Brasilianer*innen aus der Arbeiterklasse zu rekrutieren. Im konservativen Bundesstaat Goiás, nur wenige Stunden von Brasília entfernt, hatte ein bekannter lokaler Rekrutierer namens Frangão oder „Großes Huhn“ an der Kampagne teilgenommen, um genau das zu tun. Indem er sich in der Gemeinschaft umhörte, half er, Dutzende von Menschen zu finden, die an einem eigenen Stück Land interessiert waren, und stellte einen Kader von angehenden Revolutionär*innen zusammen. Ich traf die Frauen dieser Gruppe in den armen Außenbezirken der Landeshauptstadt Goiânia.

Eines Morgens im März 2023 wachten sie sehr früh auf und machten sich mit einer Gruppe von etwa 600 Familien auf den Weg, um eine große Farm außerhalb von Goiânia zu besetzen. In Autos und Minibussen fuhren sie auf das Grundstück und hissten die MST-Flagge an einem Zuckerrohr. Sie waren auf Monate, wenn nicht gar Jahre des Lagerlebens, vorbereitet.

Marlene Pereira de Morães, 65, eine der neu Rekrutierten, erzählte mir, dass sie gehofft hatte, der Rest ihrer Familie könne sich bei einer erfolgreichen Belagerung zu ihr gesellen. Sie rechneten sich mit dem Grundstück ziemlich gute Chancen aus, da der Besitzer wegen Sexhandel mit Frauen verurteilt worden war. Aber der Gouverneur des Bundesstaates hatte andere Vorstellungen: Er hatte in seinem Wahlkampf versprochen, dass es keine neuen „Invasionen“ von privatem Farmland geben werde. Also schickte er die Militärpolizei und setzte staatliche Streitkräfte ein, um viele der Familien einzuschüchtern, damit sie wegblieben. Ueber Alves, ein Anwalt der MST, sagte mir, dass diese Taktik illegal sei. Aber wenn ein Gouverneur gegen diese Art von Gesetz verstößt, ist unklar, wer ihn zur Rechenschaft ziehen soll.

De Morães und vier weitere neue MST-Rekrut*innen setzten sich zu mir, während sie in einem Rechtsvakuum darauf warteten, herauszufinden, ob sie ihr Lager aufschlagen dürften. Einige hatten landwirtschaftliche Erfahrung, andere nicht, aber alle hatten sich fleißig über die Philosophie der MST informiert. „Ich habe mich mit Leib und Seele in diese Bewegung gestürzt“, erzählte mir Avelice Pereira de Sousa. „Wir wollen ein Stück Land bekommen, und wir wollen einen Ort, den wir bewirtschaften und auf dem wir produzieren und alt werden können. Und unser größeres Ziel ist natürlich die Landreform im ganzen Land.“ Francisca Rocha Costa, 68, fragte mich sehr höflich, ob sie das Interview auch selbst aufnehmen könnte. Jemand hatte sie davor gewarnt, dass skrupellose Journalist*innen ihre Worte verdrehen könnten.

An meinem letzten Tag in ihrem Lager in Paraná verbrachte de Oliveira den Nachmittag mit ihrer Tochter Heloisa mit dem Zerlegen eines Schweins. Wie so oft drehte sich das Gespräch um die Geschichte der Landreform. „Es ist klar, dass Mao im Bürgerkrieg nur deshalb den Sieg davongetragen hat, weil er die Unterstützung der Bauern, den Rückhalt des Volkes, gegen die Großgrundbesitzer hatte“, sagte sie. Ihre Nachbarin Edna Santos, die Leiterin des vor Ort tätigen Bildungssektors – das heißt, sie beaufsichtigt die Schulen, die die MST gebaut und in das staatlich finanzierte nationale System integriert hat – stimmte zu und versuchte, sich an ein bestimmtes Wort zu erinnern. „Wie nannten sie die Art von Knechtschaft, die sie in Russland hatten?“ fragte sie. „Leibeigene... Ja, sie lebten in Leibeigenschaft, während es in China anders war. Dort waren es einfach sehr arme Bauern.“

Santos, 55, trägt gerne eine Militärmütze mit der kubanischen Flagge – so eine, wie sie die MST auch in den städtischen Geschäften verkauft. Sie kam 2019 in das Lager, nach einem gescheiterten Versuch, die Anerkennung einer Siedlung zu erlangen, die nach dem berühmten Quilombo dos Palmares benannt war, einer Gemeinschaft im kolonialen Brasilien, die von entflohenen versklavten Afrikanern gegründet worden war. Sie hilft nicht nur bei der Leitung der Schule, sondern ist auch als DJ bei den Samstagabend-Tanzpartys des Lagers tätig. „Am Anfang spiele ich Gaucho-Musik, aber im Laufe des Abends wechseln wir zu härterer elektronischer Musik“, erzählte sie mir. Das Konzert findet im „großen Zelt“ statt, das eher einem Hangar gleicht, von dessen Decke mehrere riesige rote MST-Fahnen und eine Regenbogenflagge mit der Aufschrift „Toda forma de amor é valida“ hängen: Jegliche Liebe ist gleichwertig. „Die habe ich aufgehängt“, erzählte sie mir stolz.

Das Interesse an der revolutionären Mission variiert stark innerhalb der Bewegung. Es gibt Menschen, denen es vor allem darum geht, ein eigenes Stück Land und etwas Ruhe von der Gewalt in der Stadt zu bekommen. Die MST hat ein Programm, um den Mitgliedern Lesen und Schreiben beizubringen. Es wurde nach dem Vorbild eines in Kuba entwickelten Programms gestaltet, aber man findet leicht Mitglieder, die dieses Programm nicht durchlaufen haben und einfach Landwirt*innen sein wollen. Andererseits wird jedes Mitglied, das besondere Interessen oder ein bestimmtes Fähigkeitenprofil besitzt, für eine Führungsposition vorgeschlagen oder erhält die Möglichkeit, sich weiterzubilden. Sie können ein Stipendium erhalten, um entweder einen höheren Abschluss in Agronomie oder im Lehramt zu erwerben, wobei sie in beiden Fällen in Teilzeit an einer großen, nahegelegenen Universität studieren. „Wenn die MST nicht das Bildungswesen revolutioniert hätte, wenn sie nicht auch das formale Bildungssystem in Anspruch genommen hätte, würde es sie heute nicht mehr geben“, sagte Rebecca Tarlau, Professorin an der Penn State University, die über die Pädagogik der MST geschrieben hat. „Damals, 1998 oder so, gab es keinen einzigen Koordinator, außer vielleicht João Pedro Stédile, der einen Hochschulabschluss hatte.“

Nach einer siebenstündigen Rückfahrt quer durch Paraná in Richtung Atlantikküste traf ich Sara da Lila Wandenberg dos Santos, die 37-jährige Koordinatorin eines kleineren Lagers. Sie absolvierte ein von der MST finanziertes Studium in Pädagogik an der nahe gelegenen Staatsuniversität und reiste dann nach São Paulo, um die Escola Nacional Florestán Fernandes zu besuchen, die wichtigste der politischen Bildungsschulen der MST im Land. Dort belegte sie den Latininho, einen Kurzkurs über die Geschichte sozialer Bewegungen, der für Aktivist*innen aus ganz Lateinamerika angeboten wird. „Sie sprachen Spanisch, und alle Brasilianer konnten es im Grunde verstehen. Umgekehrt hätte das nicht funktioniert“, meinte dos Santos lachend.

Während das Lager von de Oliveira in der flachen und braunen Mitte des Staates liegt, befindet sich die kleinere Siedlung von dos Santos in dem, was vom dichten, nebligen atlantischen Regenwald übrig geblieben ist. Bei der Durchquerung dieses Bundesstaates im relativ entwickelten Teil des Südostens Brasiliens kann man auf Autobahnen fahren und an Rastplätzen mit gediegenen Burgerläden anhalten, die an das zeitgenössische Arizona erinnern, oder man kann eine lange Straße hinunterfahren und findet etwas, das dem amerikanischen Westen vor 150 Jahren ähnelt – eine Boomtown, die von illegalen Landnahmen angetrieben wird und deren Gesetze von Cowboys und angeheuerten Revolverhelden durchgesetzt werden. Während wir uns in ihrer Wohnung unterhielten, schaute Dos Santos aufmerksam durch ihre schwarz gerahmte Brille, während sie darauf wartete, dass ihre Tochter von der Schule und ihr Sohn vom Tischtennistraining zurückkamen. Wenn sie in der MST aufsteigen will, ist es wahrscheinlich hilfreich, dass ihr Lager einen Preis für seine innovativen Bemühungen zur Wiederherstellung des lokalen Ökosystems gewonnen hat.

„In Wirklichkeit beginnt der Prozess der Bildung in dem Moment, in dem die Menschen ein Lager errichten“, sagte Geraldo Gasparin, eines der beiden Mitglieder, die das nationale politische Bildungsprogramm der MST leiten. „Man lernt unglaublich viel, indem man einfach etwas tut. Alle der alten Generation haben weiße Bärte“, fügte er hinzu. „Unsere Aufgabe ist es, eine neue Generation von militantes auszubilden.“

An dem Tag, an dem ich die Schule für politische Bildung in São Paulo besuchte, hatte eine Gruppe von MST-Kadern aus dem ganzen Land gerade Unterricht zum Thema weibliche Denkerinnen – brasileiras wie Nise da Silveira, Vânia Bambirra und Lélia Gonzalez, die neben brasilianischen Männern einen Platz im Kanon verdient haben. Ich gestand Ruth Teresa Rodrigues dos Santos, einer Koordinatorin des MST-Lagers in Rio de Janeiro, dass mir all diese Namen völlig unbekannt waren. „Mir auch“, erwiderte sie. „Das ist eine der Sachen, die wir ändern wollen.“

Nachdem Lula an die Macht zurückgekehrt war, zögerte die bolsonaristische Rechte nicht lange und startete einen Gegenangriff. Einige ihrer führenden Politiker*innen leiteten rasch eine parlamentarische Untersuchung der angeblich von der MST begangenen Verbrechen ein. Monatelang bot sie rechten Kongressabgeordneten eine Bühne, um die soziale Bewegung anzuprangern.

Die Kommission hörte von Farmern, die sich über die Übernahme ihres Landes und die endlosen Rechtsstreitigkeiten beschwerten. Ein Mitglied einer dieser Bauernfamilien, mit dem ich gesprochen habe, verwies auf die Vereinigten Staaten und bat mich anschließend, das Zitat auf keinen Fall ihm zuzuschreiben. „So etwas würde in Ihrem Land niemals passieren, denn Sie achten die Rechtsstaatlichkeit,“ sagte er. „Und Sie haben ein eigenes Gesetz für Leute, die die Grenze überschreiten – wie lautet das noch? ‚Nur zu, mach mir eine Freude.‘“

Während meiner Recherchen bemerkte ich ähnliche Vergleiche mit der Selbstjustiz in den Vereinigten Staaten.  Während ich auf mein Treffen mit Luciano Lorenzini Zucco, dem Präsidenten der Kommission, wartete, saß ich im Büro des Kongressabgeordneten neben einem taktischen Tarnrucksack, der mit der US-Flagge und einem Punisher-Aufnäher verziert war, dem Totenkopf-Logo, das häufig von US-Soldaten und Polizisten getragen wird. „Das Recht auf Eigentum wird in den Vereinigten Staaten respektiert“, sagte mir Zucco, sobald er eintrat. „Die Gesetze sind streng und werden angewendet, wenn sie gebrochen werden. Landwirte werden wertgeschätzt. Deshalb sehen wir die USA als Vorbild.“

Ende 2023 war die parlamentarische Untersuchung im Sande verlaufen, ohne dass ein Abschlussbericht vorgelegt wurde. Im Laufe des Jahres 2024 wurde jedoch immer deutlicher, dass die MST auch durch institutionelle Kräfte auf der Linken eingeschränkt wurde. Obwohl Lulas Regierung immer wieder betont, dass sie auf der Seite der Landreform steht, ist die Anerkennung neuer Siedlungen langsamer erfolgt, als es sich die Bauern der MST wünschen. Den Verantwortlichen der Bewegung ist klar, dass Lula nur über begrenzte Ressourcen und wenig Handlungsspielraum im Kongress verfügt, aber sie sind auch davon überzeugt, dass er mehr tun könnte. In einem Interview im vergangenen Jahr sagte Stédile, die Bewegung sei „wirklich sauer auf die Inkompetenz der Regierung“.

In den letzten 15 Jahren hat sich die Bewegung auf ihre Organisation und ihre Unterstützung durch die Massen gestützt, um ihren politischen Einfluss geltend zu machen, einen dringend benötigten Schutz für die brasilianische Demokratie zu bieten, ihre Bürger*innen vor dem Hungertod zu retten und die arme Landbevölkerung sowie das städtische Proletariat im gemeinsamen Kampf zu vereinen. Diese Erfolge sind zwar beeindruckend, unterscheiden sich aber von der radikalen Umgestaltung des Grundbesitzes, die ihre Daseinsberechtigung ist.

Sobald das Tragen von MST-Symbolen tatsächlich zu einem Trend geworden war, begann er unweigerlich nachzulassen. Man sieht die Mütze nicht mehr so oft; sie ist nicht mehr so angesagt wie früher in den gehobenen Lokalen der Innenstadt. Auf dem Höhepunkt der anti-bolsonaristischen Einheitsfront hatten einige Aktivist*innen gescherzt, dass viele der Models und DJs, die mit der Mütze herumliefen, wahrscheinlich Eltern hatten, die große Farmen besaßen und damit ihren Lebensstil finanzierten. Aber die Bewegung ist weitaus populärer als noch vor fünf oder zehn Jahren.

Unter Brasiliens kulturellen Eliten hat sich die Stimmung nicht gerade nach rechts verschoben –wie die fanatische Unterstützung für den herzergreifenden Anti-Diktaturfilm I’m Still Here  gezeigt hat – aber die Zeiten haben sich geändert. Während in den Jahren 2021 und 2022 alle an einem Strang zogen, um verzweifelt die Entstehung eines weiteren autoritären Regimes zu verhindern, verbrachten die Progressiven hier den Großteil des vergangenen Jahres damit, einer Mitte-links-Regierung dabei zuzusehen, wie sie sich durch schwierige Umstände kämpfte und das Beste daraus machte. Am Ende des Jahres gewannen MST-Kandidaten Wahlen im ganzen Land.

Und dann wurde Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt. In den letzten zwei Jahren hat die Bolsonarista-Bewegung keinen Hehl daraus gemacht, dass sie den Republikaner in ihrem Streben, die Macht zurückzuerlangen, als wichtigen Verbündeten betrachtet. Anfang 2025 habe ich mich erneut mit dem heute 58-jährigen Gilmar Mauro getroffen. Er war gerade in São Paulo angekommen, nachdem er auf seiner eigenen Farm einen Olivenbaum gepflanzt hatte, den er Palästina gewidmet hat.

„Die Vereinigten Staaten sind aus unserer Sicht ein Imperium im Niedergang, und wenn Imperien untergehen, können sie aggressiver werden“, sagte er mir. Trump ist natürlich sowohl der Ausdruck dieses Niedergangs als auch der Träger der damit verbundenen Aggression. Wäre er 2022 an der Macht gewesen, als Bolsonaro seinen gewalttätigen Angriff auf das Präsidentenamt startete, wäre der Putschversuch vielleicht erfolgreich gewesen. Mauro glaubt, dass die neue Trump-Regierung die Klimakatastrophe beschleunigen wird, dass sie nicht nur darauf abzielt, Migrant*innen abzuschieben, sondern auch die verbleibenden ausländischen Arbeitskräfte in den USA sklavenähnlichen Bedingungen unterwerfen will, dass sie linke Regierungen in der Region angreifen wird und dass die rechten Oligarchen, die das Internet der Welt kontrollieren, ihre Plattformen zur Wahlmanipulation nutzen werden. „Alle Staats- und Regierungschefs der Welt, die noch über ein paar funktionierende Gehirnzellen verfügen, sollten schnellstmöglich Allianzen bilden, um diese gefährlichen Kräfte einzudämmen“, betonte er.

Innenpolitisch ließ Mauro eine Reihe von Bedrohungen gegen das brasilianische Ökosystem vom Stapel. Er meinte, Lulas Regierung habe nur einen Bruchteil der Gelder bereitgestellt, die für die Beilegung  anstehender Landreformansprüche benötigt werden. „Das bedeutet nicht, dass es keine Fortschritte gegeben hat. Es hat welche gegeben.“ Er bezeichnete den Kampf gegen die extreme Rechte als die wichtigste welthistorische Aufgabe der Lula-Regierung. Vielleicht gilt das Gleiche in den letzten Jahren für die MST. „Die Bewegung hat sich zu einer organisatorischen Kraft entwickelt. Sie ist jetzt ein Instrument, das über seine zentrale Mission hinausgehen kann.“

In der Nacht des 10. Januar 2025 tauchte in der Stadt Tremembé im Landesinneren des Bundesstaates São Paulo ein Einheimischer in der MST-Gemeinde Olga Benário auf, die nach der von den Nazis hingerichteten deutsch-brasilianischen Kommunistin benannt worden war. Zeugenaussagen zufolge glaubte er, ein Stück Land gekauft zu haben und es nach Belieben nutzen zu können. Das ist rechtlich unmöglich – die Landreformbehörden hatten dieses Gebiet als assentamento ausgewiesen – und Vertreter der Bewegung sagten ihm das. Er ging weg und kehrte mit einer Gruppe bewaffneter Männer zurück. Valdir do Nascimento, 52, trat vor, um mit ihnen zu verhandeln. Die Männer eröffneten jedoch das Feuer, durchlöcherten das Lager mit Kugeln, wie Anwohner*innen berichteten.

„Nachdem die Schüsse anfingen, hörten sie nicht mehr auf. Es war eine Kugel nach der anderen. Dann sah ich einen Funken aus einer der Pistolen. Danach war es eine Horrorszene“, schilderte Roseli Ferreira Bernardo, die von allen Binha genannt wird. Sie erzählte mir die Geschichte vor dem Haus von do Nascimento. „Ich hörte, wie meine Tochter nach mir schrie, um Hilfe schrie. Aber ich drehte mich um und sagte: ‚Ich kann nicht helfen. Ich kann nicht laufen. Ich kann nicht laufen.‘“

Binha war in den Fuß geschossen worden. Do Nascimento und ein weiterer Mann, Gleison Barbosa de Carvalho, 28, wurden getötet, vier weitere Menschen wurden verletzt. Die MST hat drohender Gewalt bisher immer die Stirn geboten. Aber dieser Angriff ereignete sich nur zwei Fahrtstunden von der größten Stadt Südamerikas entfernt, in einer sich rasch entwickelnden Region. Teixeira, der Minister für landwirtschaftliche Entwicklung, leitete eine Untersuchung ein und sagte, der Angriff sei die „Frucht dessen, was durch rechtsextreme Hassreden gesät wurde“.

Die MST reagierte sofort. Sie aktivierte ein Netzwerk von Aktivist*innen in nahegelegenen Lagern, progressiven Verbündeten in den Städten, Kontakten in den Medien, Anwält*innen der Bewegung und sympathisierenden gewählten Amtsträgern.

Während meines Besuchs in diesem Monat war die Gemeinschaft in höchster Alarmbereitschaft. Neben anderen Verstärkungen hatte die Bewegung Thalita Carvalho geschickt, die in einem nahegelegenen Lager lebt und gerade ihre Nachtwache beendet hatte. Als sie aufwuchs, glaubte sie an die Darstellung der MST in den Medien als eine gewalttätige Gruppe, die Grundstücke besetzte und Eigentum stahl. „Sieh mich jetzt an“, sagte sie, „mit Stiefeln und einer Machete, die von meinem Gürtel hängt.“ Carvalho verbrachte viele Jahre als Sexarbeiterin in der Stadt und wurde oft Opfer von Gewalt. Sie meinte, das muss sie wohl abgehärtet haben. „Als ich in die MST kam, bekam ich Ärger, weil ich trank und mich oft stritt. Ich beruhigte mich ein wenig, als ich merkte, dass ich allen vertrauen konnte, und sie beschlossen, mich in das Sicherheitsteam aufzunehmen“, fuhr sie lächelnd fort. „Ich glaube, ich bin die einzige Transfrau im Sicherheitskorps.“

Im Laufe der Jahre bin ich mit den Frauen in Goiás in Kontakt geblieben, die vom „Großen Huhn“ und der Massenfront rekrutiert worden waren. Nach Monaten des Wartens erhielten sie endlich die gute Nachricht: Sie konnten auf das Land zurückkehren, das sie besetzt hatten. Alles ging sehr schnell, und die Landreformbehörde kündigte an, dass sie sich dort dauerhaft niederlassen könnten. Anders als im Fall des Grundstücks von Jocelda Ivone de Oliveira war die Rechtslage bei Grundstücken, die für den illegalen Handel genutzt wurden, relativ einfach zu klären, und Avelice de Sousa übernahm bald eine führende Position in einer legalen Siedlung. Sie schickte mir ein Foto von ihrem Sohn, wie er um ein Beet mit Maniokpflanzen spielte, die gerade zu sprießen begannen.

„Wir sind wieder da, und wir sind glücklich“, sagte sie. „Aber wir sind noch nicht fertig. Wir möchten mehr Menschen auf das Land bringen. Im Moment graben wir einen größeren Brunnen.“

Vincent Bevins ist der Autor der Bücher „If We Burn: The Mass Protest Decade and the Missing Revolution“ und „The Jakarta Method: Washington’s Anticommunist Crusade and the Mass Murder Program that Shaped Our World“.

Foto: The Nation

Available in
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Author
Vincent Bevins
Translators
Ludmilla Gerring, Nathalie Guizilin and Open Language Initiative
Date
08.07.2025
Source
The NationOriginal article🔗
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